Ideologie und Moral: Was die Finanzkrise über das Funktionieren von Demokratie lehrt
15. November 2012 | Patrick Schreiner
Ideologien beinhalten immer auch Aussagen über Fakten. Wenn diese Aussagen aber zur Realität nicht passen möchten, so wird gerne und schnell moralisiert: Ein Zustand IST dann nicht, sondern er SOLL sein. Das führt derzeit besonders der Neoliberalismus vor, wie sich nicht zuletzt an den Diskussionen um die aktuelle Finanzkrise zeigt. Die Lehre daraus: Demokratie ist nie ein Streit um Fakten, sondern immer ein Streit um deren Interpretation.
Beginnen wir zunächst mit dem Marxismus. An seinen dogmatischen Varianten lässt sich sicherlich eine ganze Menge kritisieren. Ein Beispiel für eine besonders fragwürdige Annahme wäre beispielsweise die, dass die Arbeiterklasse zur Revolution strebe, also die politische und ökonomische Macht an sich reißen werde, weil sich dies aus dem historischen Ablauf der Geschichte so ableiten lasse. Blöde war nur, dass die Arbeiterklasse in den vergangenen zweihundert Jahren den "historischen Gesetzmäßigkeiten" nicht so recht folgen wollte. In Deutschland war mit dem Ende der Bismarckschen Sozialistengesetze der Weg frei zur sozialen und politischen Einbindung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften, die diesen Weg in Übereinstimmung mit dem größten Teil ihrer Klientel eifrig beschritten.
Für die Masse der Arbeiterinnen und Arbeiter standen Verbesserungen im Hier und Jetzt auf der Tagesordnung, nicht visionäre Träume von einer vielleicht besseren Zukunft und schon gar nicht historische Gesetzmäßigkeiten. Die Reaktion des dogmatischen Marxismus hierauf war, vereinfacht gesagt, moralisierend: Aus dem voraussagenden "Die-Arbeiterklasse-Wird" wurde ein moralisch anweisendes "Die-Arbeiterklasse-Soll". Kurz: Es wurde moralisiert.
Das Moralisieren ist eine Argumentationsform, die sich in vielen Ideologien und wissenschaftlichen Gedankengebäuden findet: Wenn Sachaussagen sich als unzutreffend herausstellen, werden diese zu Soll-Aussagen. Moral ersetzt Fakten. Auf diese Weise wird versucht, trotz zuwiderlaufender Fakten die eigene Ideologie zu retten. Ideologie braucht offensichtlich dann Moral, wenn die Fakten nicht mehr zur Ideologie passen wollen.
Nun gilt der Marxismus für viele seit der Niederlage des Kommunismus im Wettstreit der Systeme als gescheitertes Gedankengebäude, der (Neo-) Liberalismus als dessen siegreicher Widerpart. Tatsächlich aber zeigt gerade die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise, dass dogmatischer Marxismus und dogmatischer Liberalismus eines gemeinsam haben: Auch der Liberalismus als die Grundideologie von Marktwirtschaft und Kapitalismus moralisiert, wenn die Fakten nicht mehr zur Ideologie passen wollen. Genau das nämlich war mit dem Zusammenbruch des internationalen Bank- und Finanzsystems der Fall.
Ein aktuell besonders perfides Beispiel hierfür ist der Umgang mit Griechenland. Moralisierend heißt es, Griechenland erfülle seine "Versprechungen" nicht. Hier wird so getan, als ob man durch die Kürzung von Staatsausgaben ein Haushaltsdefizit reduzieren könne. Allerdings: Kürzt ein Staat seine Ausgaben, so bricht die Wirtschaftsleistung ein - und das Defizit steigt oft sogar an. Wie eben derzeit ganz massiv in Griechenland. Die ökonomischen Fakten in dem Land widersprechen der Ideologie der schwäbischen Hausfrau. Anstatt aber die Ideologie zu korrigieren, wird moralisiert. Zur moralinsauren Sprache im Umgang von Politik und Medien mit Griechenland ist im Sommer in der Berliner Zeitung ein lesenswerter Artikel erschienen.
Eben dieses Moralisieren scheint ein Grundmuster des Umgangs mit der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise zu sein. Der Markt, so wurde jahrzehntelang gepredigt, funktioniere nach Gesetzmäßigkeiten. Angebot und Nachfrage regelten den Preis, wer schlecht wirtschafte, verschwinde vom Markt, wer gut wirtschafte, werde belohnt. Staatliche Eingriffe oder die Verpflichtung wirtschaftlichen Handelns auf das Allgemeinwohl, so lehrte man, seien gerade deshalb schlecht, weil sie den objektiven Gesetzmäßigkeiten des Marktes zuwider liefen. Entsprechend skeptisch war (und ist) man in den Kreisen der (neo-) liberalen Hohepriester auch gegenüber Gewerkschaften, Tarifverträgen und Mindestlöhnen. Auch wenn derlei Thesen seit der Finanzkrise leiser vertreten werden, so waren sie doch über viele Jahre hinweg die in politischen Debatten am lautesten vertretenen - gehört wurden sie bis weit in die Agenda-SPD hinein. Und, davon ist auszugehen, sie werden irgendwann wieder lauter werden.
Interessant ist allerdings zu beobachten, wie sich die Debatte seit der erneuten Verschärfung der Banken- und Finanzkrise gedreht hat. Jetzt wird plötzlich "Gier" und "Größenwahn" gegeißelt, als ob man nicht Gewinnstreben und Wachstumsorientierung jahrelang für notwendige und gute Verhaltensweisen am Markt gehalten hätte. Es wird "Missmanagement" und "Unprofessionalität" kritisiert, als ob man das Scheitern am Markt nicht jahrelang als völlig normal und auch notwendig dargestellt hätte. Es wird "Casino-Mentalität" und "Zocker-Unwesen" kritisiert, als ob man nicht jahrelang die Spekulation auf zukünftige Gewinne als die Triebfeder allen marktwirtschaftlichen Wohlstands propagiert hätte. Wie auch beim dogmatischen Marxismus soll die Moral hier die Ideologie retten. Der Kern der Argumentation: Eigentlich sei die Ideologie ja eine richtige Beschreibung der Realität, aber einige Menschen hätten sich eben entgegen dieser Realität verhalten.
Die moralisierende Kritik am Spekulationsunwesen etwa wurde vom ehemaligen Bundesfinanzminister und heutigen Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück (SPD) vertreten: Die heute fragwürdigen Finanzprodukte seien lediglich deshalb zweifelhaft, weil damit in großem Maße spekuliert worden sei. Und auch der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler sieht moralisierend die "Wirtschaftseliten" in der Pflicht. Diese müssten wieder lernen, was Maß und Mitte ist, was Bodenhaftung bedeutet. Es sei ihnen lange nur noch um die Maximierung der Rendite gegangen. Als ob die Maximierung der Rendite nicht jahrelang als die Aufgabe von "Wirtschaftseliten" gerechtfertigt wurde, wenn etwa bei Nokia Werke dicht gemacht oder bei Banken Angestellte entlassen wurden.
Der frühere FDP-Chef Wolfgang Gerhard wurde in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit den Worten zitiert, dass "Markt sowie Charakter und Haltung" gleich bedeutend und gleich wichtig seien. Er spricht gleichfalls moralisierend von einer "kaufmännischen Tugend der Bescheidenheit", es gehe um "zivilisatorische Tugenden, die durch die gelebt werden müssen, die darin agieren". Der ehemalige Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, moralisierte hingegen zuversichtlicher: "Die Marktwirtschaft hat aus Krisen immer gelernt und ist dadurch immer besser geworden. So wird es auch diesmal sein." Wie sich dies mit der Ideologie der Marktwirtschaft als einem automatisch ablaufenden, rein rationalen Prozess voller Gesetzmäßigkeiten verträgt, wissen wohl nur Gerhard und Ackermann selbst. Und sogar die Börsen-Zeitung hat jüngst die Moral im Kapitalismus entdeckt.
Wo, ist man Steinbrück, Köhler, Ackermann und Gerhard versucht zu fragen, sind sie denn nun, die unhintergehbaren Sachzwänge, die reinen Fakten, die unabweisbaren Gesetzmäßigkeiten des Marktes? Die Antwort ist einfach: Es gibt sie in dem gleichen Maße, wie es die historischen Gesetzmäßigkeiten des dogmatischen Marxismus gibt, nämlich überhaupt nicht. Markt ist eine soziale Institution, die wir in verschiedener Weise interpretieren. Genau wie der Kapitalismus als System.
In einer Demokratie streiten wir um die Ausgestaltung des Marktes genauso, wie wir um die Ausgestaltung der Bundeswehr oder um die Inhalte von Bildungsplänen streiten. Und genauso, wie die Bundeswehr zur Disposition gestellt werden kann, kann es der Markt. Die derzeitige moralinsaure Debatte weist deutlich darauf hin, dass Markt eben gerade nichts ist, was einfach so, automatisch und rational abläuft. Gewinnstreben ist kein Naturgesetz, sondern es ist selbst Moral, der in der aktuellen Diskussion vorsichtig (und wohl nur in Form von Lippenbekenntnissen) eine andere Moral gegenüber gestellt wird.
Vor diesem Hintergrund entpuppt sich die Rede von Sachzwängen und Gesetzmäßigkeiten, die wir gerade seit dem Ende der Systemkonkurrenz verschärft anhören mussten, als zutiefst undemokratisch. Eine solche Argumentation ist deshalb undemokratisch, weil sie zwar ein Beitrag im Streit um Meinungen ist, aber nicht als Meinung daherkommt. Sie trägt das Gewand des Unabwendbaren, des Gesetzmäßigen, beansprucht damit einen höheren Wahrheitsgehalt - und ist doch nur Moral und Meinung. Moral und Meinung, die in den Kürzungsorgien in Südeuropa aktuell fröhliche Urständ' feiern.
Genau diese Einschätzung der Sachzwänge und Gesetzmäßigkeiten hat der frühere Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye (SPD) in der Süddeutschen Zeitung 2008 auf eine interessante Weise ausformuliert. In einem Rückblick auf die Regierungszeit Gerhard Schröders lässt er sich wie folgt zitieren: "Was wir erst nach und nach begreifen mussten: Nicht nur die DDR war untergegangen, sondern auch der Kapitalismus mit menschlichem Antlitz, der Rücksicht auf soziale Belange nahm. Wir hätten in den siebziger Jahren keine Debatte über den Mindestlohn führen müssen, keine Sekunde. Der Kapitalismus hatte sich früher selbst gefesselt. Wir - die westliche Welt - wollten ja schließlich dem Ostblock zeigen, dass wir die bessere und auch sozialere Gesellschaftsform haben. Aus dem Ende der Biopolarität ging der Kapitalismus entfesselt hervor. Er sah sich als Sieger, nun nahm er keine Rücksicht mehr."
Umkehrschluss der Heyeschen Äußerung: Wenn es die DDR noch gegeben hätte, wäre 1998 und danach der Kapitalismus sozialer und menschlicher gewesen. Angebliche Sachzwänge wurden hier, zehn Jahre nach der Regierungsübernahme von SPD und Grünen, als das beschrieben, was sie tatsächlich waren und sind: Ansprüche und Meinungen in einem Kampf einander ausschließender Ansprüche und Meinungen. Ein ungleicher Kampf allerdings, in dem bestimmte Ansprüche und Meinungen des Heyeschen Kapitalismus nicht nur in undemokratischer Manier als Sachzwänge daherkamen, sondern auch die bei Weitem durchsetzungsfähigeren waren.
Vielleicht ist die für Demokratien wichtigste Erkenntnis aus der aktuellen Finanzkrise die, dass der Markt wieder als das gesehen werden muss, was er ist: Kein Automatismus voller Gesetzmäßigkeiten, sondern ein Konfliktfeld. Ein Konfliktfeld, an dem die Interessen der Arbeitgeber und des Kapitals nicht mehr, aber eben auch nicht weniger von subjektiven Meinungen und Ansprüchen geprägt sind als die Interessen von Beschäftigten und Arbeitslosen.
Dies ist die stark überarbeitete und erweiterte Fassung eines Textes, der zunächst erschienen war in WISO-Info 3/2008.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.