Ideologie mit fatalen Auswirkungen: "Produktionspotential", Fiskalpakt und "Schuldenbremse"
21. November 2012 | Patrick Schreiner
In den Debatten rund um "Schuldenbremse" und Fiskalpakt wurde es zwar selten in den Vordergrund gerückt, und dennoch kommt ihm eine zentrale Bedeutung zu: Die Rede ist vom Konzept des so genannten "Produktionspotentials". Sowohl bei der deutschen "Schuldenbremse" als auch im europäischen Fiskalpakt soll es helfen, konjunkturschädliche Haushaltskürzungen zu vermeiden. Dies ist allerdings eine Erwartung, die das Konzept des Produktionspotentials nicht erfüllen kann. Denn es handelt sich dabei bestenfalls um eine ökonomische Spielerei, wenn nicht gar um ein ideologisches Hirngespinst fernab der Realität.
Was ist mit "Produktionspotential" gemeint?
Vereinfacht ausgedrückt bezeichnet das Produktionspotential das theoretisch erreichbare Maximum der Produktion einer Volkswirtschaft innerhalb einer Zeitperiode (hier: innerhalb eines Jahres). Oder nach Horn/Logeay/Tober 2007:
Das Produktionspotenzial ist das reale (preisbereinigte) Niveau des Bruttoinlandsproduktes, das nachhaltig erreicht werden kann.
Das Produktionspotential (häufig auch als Potentialoutput bezeichnet) kann nicht beobachtet oder direkt bestimmt werden. Von ihm zu unterscheiden ist das im Zitat eben schon erwähnte Bruttoinlandsprodukt (BIP). Letzteres gibt die tatsächliche Produktion wieder, die in einer Volkswirtschaft erreicht wurde. Anders als das Produktionspotential kann das BIP (bzw. die Komponenten, aus denen es sich zusammensetzt) direkt beobachtet und berechnet werden.
Das Produktionspotential wird im Wesentlichen bestimmt durch die Produktionsfaktoren Kapital (Maschinen, Immobilien usw.) sowie Arbeit (Arbeitskräfte und deren Qualifikationsniveau). Positiv oder negativ auf das Produktionspotential können sich also beispielsweise auswirken
- ein Wachstum oder Rückgang der Zahl der Erwerbstätigen sowie ihrer Arbeitszeit,
- Investitionen in neue Maschinen und Immobilien,
- die Verbesserung oder Verschlechterung von Produktionsabläufen,
- die Qualifikation von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern,
- oder auch die Verfügbarkeit oder Begrenztheit von Rohstoffen.
Ausgangspunkt des Produktionspotentials ist, dass Maschinen oder Arbeitskräfte im Rahmen konjunktureller Schwankungen "brachliegen" können. In diesem Fall ergibt sich ein Unterschied zwischen Produktionspotential und Bruttoinlandsprodukt, also zwischen möglicher und tatsächlicher Produktion. Dieser Unterschied wird im Allgemeinen als "Output-Lücke" oder "Produktionslücke" bezeichnet. Wenn beispielsweise in einer Volkswirtschaft ein BIP von 100 Mrd. Euro erreicht werden könnte (=Produktionspotential), aber das tatsächliche BIP nur bei 90 Mrd. Euro liegt, so beträgt die Output-Lücke 10 Mrd. Euro oder 10,0 Prozent (wobei die Output-Lücke in der Regel als negativer Wert angegeben wird, hier also –10 Mrd. Euro bzw. –10,0 Prozent.)
Das Konzept des Produktionspotentials wird schon seit den 1960er Jahren in den Wirtschaftswissenschaften gepflegt, und seit Langem wird es auch wirtschaftspolitisch genutzt, beispielsweise von verschiedenen Zentralbanken. Die Output-Lücke als die Lücke zwischen potentieller Produktion und tatsächlicher Produktion wird dabei interpretiert als konjunkturbedingte Lücke. Das klingt durchaus schlüssig: Wenn beispielsweise Maschinen oder Arbeitskräfte nicht voll genutzt werden, also "brachliegen", dann zeigt dies eine schwächelnde Konjunktur an. Die Output-Lücke zeigt also für die gesamte Volkswirtschaft die aufgrund einer schwachen Konjunktur nicht genutzten Potentiale an – so jedenfalls die Idee.
Die nachfolgende Abbildung 1 macht diese Idee an einem fiktiven Beispiel deutlich. Die blaue Kurve entspricht dem Produktionspotential. Da Unternehmen beispielsweise in neue Maschinen investieren und ihre Beschäftigten weiterbilden, wächst das Produktionspotential langsam an. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP, grüne Kurve) zeigt die tatsächliche Produktion in dieser Volkswirtschaft auf. Die konjunkturelle Schwäche in den Jahren 2-4 besteht nun darin, dass das BIP hinter dem Produktionspotential zurückbleibt. Im Jahr 5 hat es dieses wieder erreicht, die konjunkturelle Krise ist überwunden. Die Produktionslücke bzw. Outputlücke besteht in der Differenz zwischen der blauen und der orangenen Kurve, sie ist hier rot dargestellt.
Abbildung 1: Verlauf einer begrenzten Konjunkturdelle. Quelle: Fiktive Daten, eigene Darstellung.
Produktionspotential, "Schuldenbremse" und Fiskalpakt
Genau diese Idee, dass die Output-Lücke konjunkturelle Schwächen anzeige, steckt auch hinter der Verwendung eben dieser Output-Lücke in den Konzeptionen der "Schuldenbremse" und des Fiskalpakts. Beide geben vor, dass sich die öffentlichen Haushalte in konjunkturell schlechten Zeiten verschulden dürfen, sofern diese neuen Schulden in konjunkturell besseren Zeiten wieder abgebaut werden. Eine solche Regelung erfordert es, zwischen konjunkturabhängigen und nicht-konjunkturabhängigen (="strukturellen") Bestandteilen eines Haushaltsdefizits zu unterscheiden. Schließlich sieht die „Schuldenbremse“ ja vor, dass eine nicht-konjunkturabhängige oder strukturelle Verschuldung auch in konjunkturell schlechten Zeiten nicht erlaubt ist.
Die Unterscheidung zwischen konjunktureller und struktureller Verschuldung wird nun auf Basis der Output-Lücke getroffen. Je höher diese ist, desto höher wird das erlaubte konjunkturelle Defizit ausfallen. Dies ist der Grund, weshalb PolitikerInnen von CDU über FDP und Grüne bis zur SPD immer wieder behaupten, "Schuldenbremse" und Fiskalpakt würden nicht prozyklisch wirken: In konjunkturellen Schwächephasen, so behaupten sie, dürfe der Staat sich ja verschulden, so dass er eine antizyklische Haushaltspolitik betreiben könne. Beispielhaft sei dafür der damalige Bundesfinanzminister und heutige Kanzlerkandidat Peer Steinbrück (SPD) zitiert, der 2009 in der Debatte zur Einführung der "Schuldenbremse" im Bundestag Folgendes gesagt hat:
Ich will Sie jetzt nicht länger damit konfrontieren, dass neben dieser Strukturkomponente auch eine Konjunkturkomponente in dieser Schuldenregelung enthalten ist, die uns [...] reagieren lässt und es uns erlaubt, antizyklisch das zu tun, was notwendig ist, um eine schwierige Wirtschaftslage einigermaßen zu stabilisieren.
Genau diese Aussage aber ist falsch, und zwar aus zwei Gründen. Beide Gründe sind im Kern auf den schlichten Umstand zurückzuführen, dass es sich bei dem Produktionspotential (und damit auch bei der Produktionslücke bzw. Output-Lücke) um eine theoretische Spielerei handelt, wenn nicht gar um ein Hirngespinst.
- Problem 1: Das Produktionspotential ist nicht beobachtbar, es ist nicht beweisbar und vor allem: Es ist nicht eindeutig zu berechnen. Vielmehr gibt es viele Berechnungsverfahren, in die sehr viele Variablen einfließen und die schon bei der kleinsten Änderung nur weniger Variablen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Zudem schreiben diese Berechnungsverfahren allesamt gezwungenermaßen die Vergangenheit in die Zukunft fort. Das geht logischerweise gar nicht anders – denn Prognosen, die ich heute über die Zukunft treffe, müssen notwendigerweise auf Zahlen beruhen, die mir heute vorliegen. Wenn eine Volkswirtschaft also längere Zeit in einer Krise ist, so wird das Produktionspotential schon rein rechnerisch zurückgehen – ein niedrigeres Bruttoinlandsprodukt wird sozusagen rechnerisch normalisiert. Für "Schuldenbremse" und Fiskalpakt bedeutet das: Die konjunkturelle Verschuldung wird in eine strukturelle Verschuldung umgedeutet.
- Problem 2: Angenommen, das Produktionspotential wäre keine Fiktion, sondern etwas tatsächlich Gegebenes. In diesem Fall würde sich die schlechte Konjunktur tatsächlich negativ auf die Entwicklung des Produktionspotentials auswirken. Dies liegt daran, dass beispielsweise Unternehmen in Phasen einer schwachen Konjunktur weniger investieren und die Qualifikation von Beschäftigten durch Arbeitslosigkeit entwertet wird.
Führt man sich dies vor Augen, so muss obige Abbildung 1 korrigiert werden. Unter realistischeren Annahmen drohen sich Produktionspotential und BIP in Phasen zumindest längerer Konjunkturschwächen oder gar Rezessionen wie folgt zu verhalten – sofern nicht durch eine antizyklische Haushaltspolitik dagegengehalten wird:
Abbildung 2: Verlauf einer längeren Konjunkturschwäche. Quelle: Fiktive Daten, eigene Darstellung.
Abbildung 2 zeigt, dass die schwache Konjunktur mit etwas zeitlicher Verzögerung zu einem Rückgang des Produktionspotentials führt. Dieser Rückgang kann stärker sein als der Rückgang des BIP. Hierdurch schließt sich die Outputlücke auch in diesem Fall, sprich beide Kurven nähern sich einander an (roter Balken). Damit ist eine antizyklische Haushaltspolitik allerdings, anders als von Steinbrück behauptet, gerade nicht mehr möglich. Da sich die Output-Lücke schließt, wird das konjunkturelle Defizit kleiner – der Verschuldungsspielraum des Staates nimmt ab. Obwohl die Konjunktur nicht in Gang kommt (grüne Kurve), muss der Staat damit seine Ausgaben mehr und mehr drosseln. "Schuldenbremse" und Fiskalpakt führen somit unmittelbar auch dann zu Kürzungen, wenn diese wirtschaftspolitisch absolut Gift sind. Grund dafür sind in letzter Konsequenz die zur Bestimmung des konjunkturellen Defizits benutzten Rechenverfahren.
Beispiele: Griechenland und Spanien
Dies sei im Folgenden zunächst am Beispiel Griechenlands aufgezeigt. Dieses Land eignet sich traurigerweise besonders dafür, da es seit Jahren aufgrund massiver Kürzungen öffentlicher Ausgaben in einer tiefen und sich immer weiter verschärfenden Rezession steckt. Die EU-Kommission hat für Griechenland ab dem Jahr 2010 ein dramatisch sinkendes Produktionspotential errechnet. Nun wird allerdings im politischen Diskurs zu "Schuldenbremse" und Fiskalpakt immer wieder der irreführende Eindruck erweckt, das Produktionspotential würde in Konjunkturkrisen und Rezessionen nicht sinken. Dieses Nicht-Sinken ist nämlich logische Voraussetzung für Behauptungen wie die von Peer Steinbrück, antizyklische Haushaltspolitik sei weiter möglich. Die Abbildungen 3 und 4 belegen das Gegenteil. Abbildung 3 zeigt zunächst das Produktionspotential Griechenlands nach Berechnungen der EU-Kommission:
Abbildung 3: Produktionspotential der griechischen Volkswirtschaft für die Jahre 2005 bis 2013 in Mrd. Euro. Ab 2012 Schätzungen. Quelle: Europäische Kommission, eigene Darstellung.
Die folgende Abbildung 4 gibt die aus diesen Daten resultierende Outputlücke der griechischen Volkswirtschaft für die Jahre 2005 bis 2013 in Prozent des Produktionspotentials wieder (blaue Kurve). Ich habe zusätzlich den Verlauf der Outputlücke auf Basis von Kommissions-Daten unter zwei Annahmen berechnet: Erstens unter der Annahme, der Vorkrisen-Wachstumstrend in Griechenland wäre für das Produktionspotential bis 2013 weiterhin gegeben (rote Kurve) und zweitens unter der Annahme eines stagnierenden Produktionspotentials ab 2008 (rosa Kurve).
Abbildung 4: Outputlücke der griechischen Volkswirtschaft für die Jahre 2005 bis 2013 in Prozent des Produktionspotentials. Ab 2012 Schätzungen. Quelle: Europäische Kommission, teilweise eigene Berechnung, eigene Darstellung.
Die Unterschiede zwischen dem Verlauf der Outputlücke laut EU-Kommission und dem Wachstums- wie auch dem Stagnations-Szenario sind beträchtlich. Dies zeigt, wie sehr die gängigen Berechnungsverfahren das Produktionspotential und damit die Outputlücke gegenüber dem Vorkrisen-Stand herunterrechnen. Genau dies ist eine wesentliche Gefahr, die von der "Schuldenbremse" und dem Fiskalpakt ausgeht, denn beide greifen ja zur Berechnung des (erlaubten) konjunkturellen Defizits unmittelbar auf die Konzepte des Produktionspotentials und der Outputlücke zurück. Damit wird eine antizyklische Haushaltspolitik faktisch unterbunden.
Zumindest abschließend sei noch auf Folgendes hingewiesen: Die Berechnungsverfahren für das Produktionspotential vernachlässigen zusätzlich noch systematisch den Faktor der Arbeitslosigkeit. Dies ist im Kern darauf zurückzuführen, dass Menschen ohne Arbeit in diesen Rechenmodellen maximal soweit als Potential für mehr Produktion angesehen werden, als die mit einem Mehr an Produktion einhergehende niedrigere Arbeitslosigkeit nicht zu einer Erhöhung der Inflation führt. Anders formuliert: Ein gewisses Maß an Arbeitslosigkeit wird in diesen Modellen als natürlich hingenommen. Wie groß dieses Maß allerdings in bestimmten Situationen tatsächlich ausfallen kann, macht die folgende Abbildung 5 deutlich. Sie stellt für Spanien und Griechenland die Outputlücken laut Europäischer Kommission den jeweiligen Arbeitslosenraten gegenüber:
Abbildung 5: Arbeitslosigkeit und Outputlücke in Spanien und Griechenland 2010-2012. Quelle: Europäische Kommission, eigene Darstellung.
Es ist zynisch, angesichts von Arbeitslosenquoten von knapp 20 Prozent bzw. 25 Prozent lediglich Outputlücken von fünf bzw. zehn Prozent erkennen zu wollen. In Gesellschaften mit Massenarbeitslosigkeit solchen Ausmaßes ist das Potential für mehr Produktion immens.
Im Zusammenhang mit Ausführungen zur Behandlung der Eurokrise im aktuellen Gutachten des Sachverständigenrats für gesamtwirtschaftliche Entwicklung hat Dieter Wertmuth jüngst im Blog Herdentrieb einige Überlegungen zum Produktionspotential vorgestellt. Wermuth schreibt, versehen mit guten zahlenbasierten Begründungen:
Wer verhindern will, dass die Finanzpolitik einen expansiveren Kurs fährt, hat ein Interesse daran zu zeigen, dass im Grunde Vollbeschäftigung herrscht. Der Rat tendiert seit einiger Zeit dazu, Outputlücken wegzudefinieren und auf diese Weise wirtschaftspolitischen Handlungsbedarf zu leugnen.
Dies mag ein letzter Hinweis darauf sein, dass "Produktionspotential" und "Outputlücke" keine neutralen und faktenbasierten, sondern vielmehr hochgradig ideologische Konzepte sind. Es wäre gut, Abstand von ihnen zu nehmen. Und es wäre ehrlicher, nicht weiter zu behaupten, dass "Schuldenbremse" und Fiskalpakt auch in Zukunft eine antizyklische Finanzpolitik ermöglichen werden.
Literaturangaben:
- Anonym (2011): Anforderungen an die Konjunkturbereinigung im Rahmen der neuen Schuldenregel. In: Monatsbericht der Deutschen Bundesbank 1 (2011). S. 59-64.
- Deutscher Bundestag (2009): Plenarprotokoll 16/225.
- Horn, Gustav/ Logeay, Camille/ Tober Silke (2007): Methodische Fragen mittelfristiger gesamtwirtschaftlicher Projektionen am Beispiel des Produktionspotenzials. In: IMK Studies 1 (2007). <http://www.boeckler.de/pdf/p_imk_studies_01_2007.pdf> (20.08.2012).
- Truger, Achim/ Will, Henner (2012): Gestaltungsanfällig und pro-zyklisch. Die deutsche Schuldenbremse in der Detailanalyse. In: IMK Working Paper 88 (2012). <http://www.boeckler.de/pdf/p_imk_wp_88_20121.pdf> (05.02.2012).
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.