Rating-Agenturen: Fundiert kritisieren statt anti-amerikanisch beschimpfen
23. Oktober 2012 | Patrick Schreiner
Die Rating-Agenturen sind mit der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise in die Kritik geraten – zu Recht, so weit es sich um ökonomisch fundierte Kritik handelt. Doch haben politische Äußerungen zu den – überwiegend ja US-amerikanischen – Rating-Agenturen bisweilen einen deutlich anti-amerikanischen, wenn nicht gar nationalistischen Unterton. Der ist nicht nur fehl am Platze, sondern sogar kontraproduktiv, denn er lenkt von den wirklichen Problemen ab.
Glaubt man den Ideologien der neoliberalen Apologeten des freien Marktes, so dürfte es Rating-Agenturen eigentlich gar nicht geben. Schließlich ist es eine Grundvoraussetzung des Neoliberalismus, an die vollständige Effektivität von Märkten zu glauben – und deren Grundvoraussetzung ist wiederum, dass allen Marktakteuren alle relevanten Informationen vollständig vorliegen. Nur unter dieser Bedingung nämlich ergeben sich adäquate Preissignale, im Falle von Krediten adäquate Zinsen, die wiederum als neoliberale Begründung für die Effektivität von Märkten dienen.
Eine solche Argumentation ist natürlich weltfremd. Wer heute Anleihen und andere Wertpapiere kauft, wird den Empfänger und die Empfängerin dieses Geldes in den wenigsten Fällen wirklich kennen. Und genau hier kommen Rating-Agenturen ins Spiel. Sie vergeben Noten ("Ratings") zu Staaten, Unternehmen, Fonds usw.; diese Ratings sollen die Wahrscheinlichkeit angeben, dass diese Institutionen das ihnen geliehene Geld vollständig zurückzahlen werden. Ratings sollen damit die Bonität von Schuldnern wiederspiegeln. Sie haben nicht zuletzt Bedeutung vor dem Hintergrund, dass bestimmte institutionelle Investoren (z.B. Lebensversicherungen oder Pensionsfonds) die von ihnen bei SparerInnen eingesammelten Gelder nicht beliebig investieren dürfen. Sie müssen sie aufgrund geltender gesetzlicher Vorschriften vielmehr sicher anlegen, und als Maßstab für "Sicherheit" gelten eben gute Ratings.
Mit der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise sind Rating-Agenturen im Wesentlichen im Zusammenhang mit zwei Entwicklungen in die Kritik geraten:
- Erstens haben sie vor dem Zusammenbruch des US-Immobilienmarkts fragwürdige Verbriefungen von Immobilienkredite mit Bestnoten bewertet. Genau dies war Voraussetzung dafür, dass es zu der Immobilienpreisblase in den USA überhaupt kommen konnte. Im Rahmen der Verbriefungen wurden Kredite an "gute", an "mittlere" und an "schlechte" Schuldner in einem Papier zusammengefasst, das dann mit bestem Rating weltweit verkauft werden konnte. Die hierdurch erzielten Einnahmen wurden wiederum in weitere Kredite investiert. Dies war ein Kreislauf aus immer mehr Krediten, immer mehr Verbriefungen und immer höheren Immobilienpreisen, der ohne beschönigende Ratings wohl kaum hätte zu Stande kommen können. Die Agenturen haben Spekulation damit massiv angeheizt.
- Zweitens werten Rating-Agenturen seit einiger Zeit immer wieder Staatsanleihen europäischer Staaten ab, was deren Zinsen in die Höhe treibt und damit die Finanzierungsbedingungen dieser Staaten am Kapitalmarkt verschlechtert.
Auch vorher schon waren die Agenturen aufgrund völlig unzutreffender (meist zu positiver) Ratings wiederholt massiv in die Kritik geraten. Solche Kritik an den Rating-Agenturen ist aus ökonomischer wie auch aus politischer Sicht im Grundsatz durchaus berechtigt:
- Erstens gibt es zwischen Rating-Agenturen keinen Wettbewerb – und damit auch keinen Wettbewerb um möglichst zutreffende Ratings. Dies setzt falsche Anreize. Vor diesem Hintergrund überrascht es beispielsweise auch nicht, dass die Ratings der Agenturen kaum voneinander abweichen.
- Zweitens bewerten die Rating-Agenturen keineswegs auf der Basis umfassender Daten und Fakten. Sie arbeiten vielmehr mit Risikomodellen, die sich im Wesentlichen auf Entwicklungen der Vergangenheit beziehen. Probleme oder Sachverhalte, die neu eintreten oder in Zukunft eintreten könnten, spielen meist nur eine untergeordnete Rolle.
- Dass Rating-Agenturen keineswegs auf der Basis objektiver Daten und Fakten ihre Bewertungen treffen, sondern dabei vielmehr auch irrationalen Stimmungen und Gerüchten nachlaufen, zeigt sich drittens nicht zuletzt am Beispiel der Krisenstaaten in Südeuropa. Es lässt sich statistisch nachweisen, dass sie seit Beginn der Finanzkrise selbst bei gleicher Wirtschaftslage deutlich schlechter bewertet werden als vergleichbare Staaten.
- Viertens werden Rating-Agenturen von den Institutionen bezahlt, die sie bewerten. Der Filz zwischen Agenturen und den gerateten Institutionen ist enorm. Dies setzt falsche Anreize; im Zweifel wurden vor der Krise deutlich zu gute Ratings vergeben. Im Zuge der Eurokrise dient dies nun allerdings als Argument für die Agenturen, es "besser machen" zu wollen und Staaten eher schlecht zu bewerten.
- Fünftens machen Rating-Agenturen mehr als nur Bewertungen: Sie beraten die Institutionen zugleich, zu denen sie anschließend Ratings erstellen. Dies ist Ausdruck des eben erwähnten Filzes zwischen Agenturen und Unternehmen (seltener Staaten).
- Sechstens werten Rating-Agenturen mit unterschiedlichem Maß. So zeigen Untersuchungen der Ratings der Agentur Moody's, dass von den Staatsanleihen mit Aaa-Rating (es ist das beste überhaupt) innerhalb eines definierten Untersuchungszeitraums keine einzige ausgefallen ist, im gleichen Zeitraum aber mehr als 20 Prozent der Collateralized Debt Obligations (CDO, eine Wertpapierform) mit gleichem Rating ausgefallen sind. Von den Staatsanleihen mit B-Rating (das sechstbeste Rating) sind knapp elf Prozent ausgefallen, von den CDOs mit B-Rating hingegen über 62 Prozent. Staatsanleihen scheinen also systematisch sehr viel strenger und schlechter bewertet zu werden.
- Siebtens können Ratings Einfluss auf die Realität nehmen (und tun dies auch). Wird ein Staat oder ein Unternehmen herabgestuft, gleich ob berechtigt oder nicht, so führt dies im Regelfall zu steigenden Finanzierungskosten und zu weniger Kreditvergaben an diese Institution. Dies wiederum führt zu einer wirtschaftlich schwierigeren Situation, die das schlechtere Rating im Nachhinein "rechtfertigt", die aber ohne das schlechtere Rating möglicherweise gar nicht eingetreten wäre.
- Achtens können Ratings selbst zur Spekulation gegen Staaten genutzt werden. Es ist nicht notwendig, tatsächlich auf Staatspleiten zu wetten – es genügt, auf fallende Ratings zu wetten, denn diesen folgen fast automatisch steigende Renditen. Ratings können damit durch Spekulation hervorgerufene, negative Entwicklungen verstärken.
- Neuntens treten Rating-Agenturen immer wieder auch als Lobbyisten auf. Sie bereiten das politische Feld, damit Emittenten möglichst viele Wertpapiere verkaufen können, auf die die Agenturen wiederum Ratings vergeben. Auch deshalb sind sie zentrale Akteure des neoliberalen, finanzmarktgetriebenen Akkumulationsmodells.
Zu den genannten Punkten ließe sich noch jede Menge schreiben. Auch mag das eine oder andere hier fehlen, was vielleicht wichtig gewesen wäre. Entscheidend ist aber, dass Kritik an Rating-Agenturen fundiert sein sollte – und fundiert meint in erster Linie bezogen auf die spezifische, finanzmarktgetriebene Form des Kapitalismus, für die die Rating-Agenturen stehen. Werner Rügemer hat völlig Recht, wenn er schreibt:
Ein zutiefst korruptes System kann man nicht regulieren oder reformieren. Die Agenturen müssen ihrer öffentlichen Funktionen enthoben werden. Vor allem müssen die Kriterien für gutes Wirtschaften und gute Staatshaushalte anders gestaltet werden. Die Kriterien dürfen sich nicht am Partialinteresse der spekulierenden Finanzakteure orientieren, sondern am Interesse der Beschäftigten und Empfänger staatlicher Transferleistungen, der privaten und öffentlichen Unternehmen, der Konsumenten und Staaten.
Absolut nicht hilfreich und absolut nicht zielführend ist hingegen jene Form der Kritik an Rating-Agenturen, die auf deren US-amerikanische Herkunft abzielt. Zwar ist es richtig, dass die drei größten Agenturen Standard & Poor's, Moody's und Fitch, die zusammen etwa 95 Prozent des Marktes unter sich aufgeteilt haben, allesamt US-amerikanische Unternehmen sind (wenngleich hinter Fitch französisches Kapital steht). Dies bedeutet allerdings keineswegs, dass sie vorwiegend amerikanische Interessen vertreten. Sie vertreten vielmehr in erster Linie ihre eigenen Interessen, in zweiter Linie vertreten sie bestimmte Institutionen des Finanzmarktkapitalismus.
In jüngster Zeit haben sich nun wiederholt deutsche und europäische PolitikerInnen mit Kritik an Rating-Agenturen hervorgetan, die nur als anti-amerikanisch und nationalistisch bezeichnet werden kann. Einige Beispiele:
- Der bayerische Finanzminister Söder (CSU) reagierte im Juli auf die Herabstufung seines Bundeslandes durch Moody's mit den Worten, dies sei auch politisch motiviert, da die Eurozone deutlich schlechter bewertet werde als die USA.
- Der bayerische Landessprecher der Linken, Xaver Merk, schrieb daraufhin in einer ansonsten durchaus guten Pressemeldung den fragwürdigen Satz: "Söder betreibt das antieuropäische Geschäft der amerikanischen Ratingagenturen."
- Ähnlich wie Söder im Sommer 2012 glaubte der Chef der österreichischen Notenbank, Ewald Nowotny, im Januar 2012 bei der Herabstufung mehrerer Eurostaaten durch Standard & Poor's eine politische Motivation zu erkennen.
- Die EU-Justizkommissarin Viviane Reding schimpfte schon Mitte 2011: "Europa darf sich den Euro nicht von drei US-Privatunternehmen kaputt machen lassen" - suggerierend, die Herkunft der Rating-Agenturen sei relevant.
- Und der Vize der SPD-Bundestagsfraktion, Joachim Poß, sprach zu einem früheren Zeitpunkt von einer Abhängigkeit Deutschlands bzw. Europas von den "angelsächsisch geprägten Ratingagenturen."
Zu unterstellen, es gebe ein US-amerikanisches Interesse, das zugleich anti-europäisch sei, und die Rating-Agenturen als Agenten dieses Interesses darzustellen – das ist reichlich abenteuerlich. Es gibt gute Gründe, kritisch gegenüber Rating-Agenturen zu sein; ich habe diese Gründe oben dargestellt. Sie machen deutlich, dass nicht nur die Agenturen, sondern auch deren Ratings kritisch hinterfragt werden müssen.
Wer aber konsequent und fundiert argumentieren will, wird Rating-Agenturen nicht als nationale Agenten, sondern als zentrale Instrumente des Finanzmarkt-Kapitalismus angreifen müssen – und damit (mindestens) diese Form des Kapitalismus selbst. Alles andere lenkt nur von den tatsächlichen Problemen ab. Und es lenkt auch von der Verantwortung ab, die die Politik für diese ganze Misere trägt - denn schließlich ist die Macht der Finanzmärkte und der Rating-Agenturen nicht vom Himmel gefallen, sondern politisch gewünscht und herbeigeführt worden.
Der Vollständigkeit halber sollen abschließend drei Argumente genannt werden, warum Rating-Agenturen keine "nationalen Agenten" der USA sind:
- Erstens berufen sich die Agenturen völlig zu Recht auf den Umstand, dass Europa durch seine massive Austeritäts- und Kürzungspolitik in eine tiefe Rezession schlittert. Berlin, Paris und Brüssel machen schlicht die falsche Politik, die die Staatsverschuldung nach oben treibt und die Schuldentragfähigkeit europäischer Staaten gefährdet. Insofern stehen hinter allen Abwertungen durch Rating-Agenturen zumindest AUCH ökonomische Daten und Fakten.
- In diesem Zusammenhang sei zweitens auch darauf verwiesen, dass es gute Gründe gibt, die USA und Großbritannien trotz teilweise höheren Schuldenstands besser zu bewerten als manches europäische Land: In den USA und in Großbritannien greift im Extremfall die Notenbank ein, wodurch Staatsanleihen ein hohes Maß an Sicherheit erhalten. Aus ideologischen Gründen ist dies der Europäischen Zentralbank verwehrt. Die macht es sehr viel wahrscheinlicher, dass ein Staat der Eurozone Pleite geht, verglichen mit den USA oder Großbritannien. Es gibt also gute Gründe, angelsächsische Länder besser zu bewerten.
- Drittens gibt es kein US-amerikanisches Interesse, Europa zu schaden. Schließlich wären die USA die ersten, die unter einem ökonomischen Zusammenbruch Europas zu leiden hätten. Ganz im Gegenteil ist es gerade die US-Regierung, die seit Jahren wiederholt eine vernünftige, wachstumsorientierte Politik in Europa anmahnt – leider ohne Erfolg.
Quellenangaben:
- Anonym (2012): EU spielt Downgrading herunter <http://www.zeit.de/wirtschaft/2012-01/ratingagentur-abstufung-kommentare> (27.08.2012).
- Gärtner, Manfred/ Griesbach, Björn/ Jung, Florian (2012): Die Macht der Meinungsmacher. Wie Ratingagenturen staatliche Verschuldungsdynamiken beeinflussen (können). <http://www.oekonomenstimme.org/artikel/2012/08/die-macht-der-meinungsmacher--wie-ratingagenturen-staatliche-verschuldungsdynamiken-beeinflussen-koennen/> (10.08.2012).
- Merk, Xaver (2012): Söder betreibt Geschäft der amerikanischen Ratingagenturen. <http://www.die-linke-bayern.de/politik/presse/detail/zurueck/meldungen/artikel/soeder-betreibt-geschaeft-der-amerikanischen-ratingagenturen/> (27.08.2012).
- Poß, Joachim (2012): Schäuble torpediert europäische Lösung bei Ratingagenturen. <http://www.spdfraktion.de/presse/pressemitteilungen/Sch%C3%A4uble_torpediert_europ%C3%A4ische_L%C3%B6sung_bei_Ratingagenturen> (27.08.2012).
- Rügemer, Werner (2011): Ratingagenturen - ein zutiefst korruptes System. <http://www.nachdenkseiten.de/?p=10067> (21.07.2011).
- Stützle, Ingo (2011): Downgrade!!! Macht und Ohnmacht der Rating-Agenturen. In: RLS Standpunkte 26 (2011). <http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Standpunkte/Standpunkte_26-2011.pdf> (31.08.2012).
- Zydra, Markus et al. (2012): Watschn für das Musterland. <http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/negativer-rating-ausblick-fuer-bayern-watschn-fuer-das-musterland-1.1422358> (27.08.2012).
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.