Neoliberale Freiheit: Ausbeutung im Rahmen temporärer EU-Arbeitsmigration
12. Februar 2013 | Patrick Schreiner
Sie begann keineswegs erst mit der vollen Einbeziehung Deutschlands in die EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit am 1. Mai 2011, scheint seitdem aber nochmals deutlich zugenommen zu haben: Die temporäre Arbeitsmigration von Ost- nach Westeuropa, die in vielen Fällen mit Ausbeutung und Niedriglöhnen bis hin zu offenem Lohnbetrug verbunden ist.
In der Europäischen Union herrscht heute – mit wenigen Ausnahmen – für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Freizügigkeit auch über Ländergrenzen hinweg. Für Unternehmen gilt die Freiheit, Dienstleistungen auch im EU-Ausland zu erbringen. Es sind im Wesentlichen diese beiden Rechtsprinzipien, auf denen die temporäre Arbeitsmigration von Ost- nach Westeuropa beruht. Es sind insbesondere
- zur Erbringung von Dienstleistungen entsandte Beschäftigte,
- Saisonarbeitskräfte,
- Scheinselbstständige sowie
- Beschäftigte in grenzüberschreitender Leiharbeit,
die auf diese Weise nach Westeuropa kommen. Hier erbringen sie einfache, aber meist körperlich belastende Arbeiten vorwiegend in der Bauwirtschaft, der Landwirtschaft, der Tierhaltung, in Schlachtereien, in der Pflege sowie im Reinigungsgewerbe. Deutschland ist aufgrund der Grenznähe eines der Haupt-Zielländer.
Auf dem Papier ist die Rechtslage dieser Arbeiterinnen und Arbeiter gut, sofern sie in Branchen beschäftigt sind, für die das Arbeitnehmer-Entsendegesetz gilt. Dann müssen die Arbeitsbedingungen des Ziellandes weitgehend auch für Beschäftigte gelten, die nur vorübergehend im Zielland tätig sind. Aber selbst in diesen Fällen gilt, dass Papier geduldig ist: Überlange Arbeitszeiten, menschenunwürdige Behandlung, unzureichender Arbeitsschutz und Löhne im untersten Niedriglohnbereich sind in der temporären Arbeitsmigration eher die Regel als die Ausnahme.
Aufgrund mangelnder Kenntnisse der eigenen Rechte, fehlender Anlaufstellen, mangelnder Sprachkenntnisse und Unsicherheit ob der eigenen Handlungsmöglichkeiten sind die Betroffenen ihren Arbeit- und Auftraggebern, Ver- und Entleihern weitgehend hilflos ausgeliefert. Bettina Wagner, die in einem Berliner DGB-Büro Betroffene berät:
Die mangelnde Transparenz und das Wissen über die Unterschiede zwischen der rechtlichen Lage im Heimatland und in Deutschland versetzen freizügige Beschäftigte in eine besonders angreifbare Lage, die leicht ausgenutzt werden kann. In der Pflege beispielsweise wird der Mindestlohn umgangen, indem die Beschäftigten nicht als Pflegekräfte, sondern als Haushaltshilfen mit gelegentlichen Pflegetätigkeiten entsandt werden.
Unternehmen in Deutschland nutzen aber keineswegs nur osteuropäische Beschäftigte aus, sondern sie verdrängen dank Billiglöhnen auch Konkurrenz aus westeuropäischen Nachbarländern. So haben im Schlachtereigewerbe tausende Menschen in Dänemark, Frankreich und Belgien ihre Arbeit verloren, weil Standorte nach Deutschland verlagert oder schlicht geschlossen wurden. Innerhalb von nur zehn Jahren ist Deutschland vom Fleisch-Großimporteur zum -Großexporteur geworden. Wagner:
In vielen Branchen, wie zum Beispiel der Fleischverarbeitung, wird unter dem Mantel der Entsendung systematisch Sozialbetrug begangen. Beschäftigte werden im Heimatland zur Entsendung eingestellt und dann wiederholt mit Zwei-Jahres-Verträgen über Werkvertrags-Abkommen an eine Firma in Deutschland entsandt.
Über mehrere Fälle von Lohndumping in grenzüberschreitender Leiharbeit berichtete im September der NDR. Im niedersächsischen Visbek musste die Gemeinde bis zu 48 Prozent des Nettolohns Betroffener dazuzahlen, damit diese sowie ihre Familien überleben konnten. Mit falschen Versprechungen waren sie in die fleischverarbeitenden Betriebe der Region gelockt worden. "Einzelfälle", so die zuständige Industrie- und Handelskammer.
Öffentliche Aufmerksamkeit fand auch dieser Fall: Im August 2012 wurden bei Abbrucharbeiten auf dem Gelände des Universitätsklinikums Essen 52 polnische Bauarbeiter eines Subunternehmens, die nach ausbleibenden Lohnzahlungen protestiert hatten, von der Baustelle verwiesen. Der Industriegewerkschaft BAU und dem Landschaftsverband Rheinland, letzterer war Auftraggeber für die Arbeiten, gelang es erst nach langwierigen Verhandlungen, das Generalunternehmen zur Zahlung eines Lohns in Höhe des für den Baubereich verbindlichen Mindestlohns zu bewegen. – Im bayerischen Kelheim schließlich mussten Ende Juli zwölf bulgarische Bauarbeiter mangels Geld zelten und von Lebensmittelspenden leben. Sie hatten wochenlang an einer Berufsschule gearbeitet, aber keinen Lohn erhalten. Offiziell arbeiteten sie als Miteigentümer eines Subunternehmens an der Baustelle. Anders als der Landschaftsverband Rheinland im Essener Fall sah sich der zuständige Landkreis als öffentlicher Auftraggeber nicht in der politischen Verantwortung, den betroffenen Beschäftigten zur Seite zu stehen.
Gewerkschaftliche Handlungsmöglichkeiten in solchen Fällen sind begrenzt. Erlangt die zuständige Gewerkschaft Kenntnis von konkreten Fällen des Lohnprellens, nicht selten dank fest angestellter Kolleginnen und Kollegen der Betroffenen, so steht sie vor der Entscheidung zwischen zwei unschönen Alternativen: Entweder sie tritt an die Öffentlichkeit, dann lassen sich die Zustände skandalisieren und politisch nutzen, die Beschäftigten aber erhalten ihr Gehalt meist nicht. Oder aber die Gewerkschaft tritt in Verhandlung mit den verantwortlichen Hintermännern, deren Grundbedingung für jede Verhandlungsbereitschaft allerdings – für den jeweils aktuellen wie auch für alle Folgefälle – Verschwiegenheit ist. Ergebnis der Verhandlungen ist dann nicht selten, dass gut gekleidete Herren in dunklen Limousinen am Arbeitsort erscheinen und den Arbeitern aus Metallkoffern heraus den ausstehenden Lohn in bar auszahlen.
Neben Fällen offenen Lohnprellens dürfen jene Fälle wie in Visbek nicht vergessen werden, in denen Menschen zu indiskutablen Arbeits- und Entlohnungsbedingungen beschäftigt werden, ohne dass Löhne gänzlich geprellt werden. Die Dunkelziffer hierbei dürfte hoch sein, verlässliche Daten und Fakten gibt es allerdings nicht – dies gilt für den gesamten Bereich der temporären Arbeitsmigration. Genau dies macht es den politisch Handelnden leicht, sich aus der Verantwortung zu stehlen. So antwortete der niedersächsische Noch-Arbeitsminister Jörg Bode (FDP) im Frühjahr 2012 auf eine parlamentarische Kleine Anfrage zum Thema, die Landesregierung gehe "mangels empirisch belegter und belastbarer Hinweise für die gegenteilige Annahme" davon aus, dass "in der übergroßen Mehrheit" der Fälle nach Recht und Gesetz gehandelt werde. Zynisch verweist er die Betroffenen an Polizei und Zoll, die meist aber schlicht nicht zuständig sind.
Anders als Bode sieht der DGB durchaus Handlungsbedarf. Er hat (überwiegend öffentlich finanzierte) Beratungsstellen für betroffene Beschäftigte in Berlin, Hamburg, München und Frankfurt/Main eingerichtet, weitere Beratungsstellen in Stuttgart und dem Ruhrgebiet werden folgen. Zu erwähnen ist auch der Europäische Verein für Wanderarbeiterfragen, der 2004 auf Initiative der IG BAU gegründet wurde. Hingegen sind jüngste Bemühungen des DGB Niedersachsen, eine auf das Flächenland zugeschnittene Beratungsstelle zu schaffen, bislang an der Ignoranz des Arbeitsministers Bode gescheitert.
Ziel dieser gewerkschaftlichen Initiativen ist es vor allem, den Betroffenen niedrigschwellig und mehrsprachig zur Seite zu stehen. Solche Angebote können allerdings Maßnahmen auf gesetzgeberischer Ebene nicht ersetzen. Der europäische Binnenmarkt wird seit Jahrzehnten systematisch dazu genutzt, die Beschäftigten verschiedener Länder zueinander in Konkurrenz zu setzen – mit dem Ziel möglichst niedriger Löhne und schlechter Arbeitsbedingungen. Und auch auf einzelstaatlicher Ebene wurden und werden die Arbeitsmärkte immer radikaler liberalisiert. Beides bereitete ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen im Rahmen temporärer Arbeitsmigration überhaupt erst den Boden.
Diese Entwicklung gilt es umzukehren: Arbeitsmärkte sind zu re-regulieren und die Rechte von Beschäftigten wieder auszuweiten. In den EU-Verträgen ist den sozialen Rechten Vorrang vor den vier Grundfreiheiten des Binnenmarkts (freier Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr) einzuräumen.
Dieser Text erschien zuerst in Lunapark21 Ausgabe 20/2012. Er ist von der CC-Lizenz gemäß Impressum ausgeschlossen; das Zitieren und das Verlinken des Textes ist erlaubt, nicht aber das Vervielfältigen/Kopieren.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.