Die Börsen-Zeitung entdeckt Moral und Tugend der Kapitalisten
7. November 2012 | Patrick Schreiner
Ja, die Neoliberalen: Erst fahren sie die Weltwirtschaft an die Wand, und mit ihr die eigene Ideologie, dann versinken sie in betretenes Schweigen – um schließlich unverbindlich von Moral und Tugend zu faseln. Und letzteres nur, um einer strikteren Regulierung ihrer geliebten Märkte zu entgehen. Ein allzu leicht zu durchschauendes Manöver. Kommentar zu einem Kommentar in der Börsen-Zeitung vom 3. November.
Leider bin ich erste jetzt auf einen interessanten Text von Claus Döring in der Börsen-Zeitung vom 3. November gestoßen, der einige Anmerkungen verdient (meiner Hinweisgeberin sei an dieser Stelle herzlich gedankt.) Der Titel des Artikels lautet "Ethik in der Finanzwirtschaft – geht das?" Darin berichtet Döring zunächst von einem Projekt „Ethik und Finanzwirtschaft“ des "Gemeinnützigen DVFA Instituts für Finanzstudien gGmbH" – der DVFA bezeichnet sich selbst als "Berufsverband der Investment Professionals". Das Projekt wird immerhin geleitet vom Philosophen und ehemaligen Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin.
Mir geht es allerdings überhaupt nicht um dieses Projekt – zu Recht stellt auch Döring fest, dass zu dem Thema "Ethik in der Finanzwirtschaft" eigentlich schon Sonntagsreden genug gehalten wurden. Das gilt nun aber auch für die Frage, die nach Döring tatsächlich im Mittelpunkt stehen soll: Die Frage nach den Grenzen des Marktes. Alles schon oft genug durchgekaut, ohne dass Finanzmarktakteure, "Investment Professionals" und Politik die richtigen Konsequenzen gezogen hätten.
Nein, sehr viel interessanter ist das Kernargument, das Döring anführt und das ich im Folgenden in zwei Zitaten kurz zitieren möchte:
Doch was soll an die Stelle von Utilitarismus, Marktradikalismus und Profitmaximierung treten? Wohl weder gesellschaftliche Regulierung noch individuelles Gutmenschentum [...] Man darf nicht vergessen, dass der Wohlstand, der seit Mitte des 19. Jahrhunderts nach und nach immer mehr Länder dieser Welt erreicht hat, getrieben wurde vom Prinzip der ökonomischen Rationalität und der Öffnung der Grenzen für den Warentausch, heute Globalisierung genannt. [...]
Der freie Markt soll also weiterhin frei bleiben, an ökonomischer Rationalität und Globalisierung hält Döring fest. Denn die seien ja Grundlage für den Wohlstand. Wer Schlimmeres befürchtete – immerhin wollte Döring eben noch, gemeinsam mit Nida-Rümelin, über die Grenzen des Marktes nachdenken – kann an dieser Stelle aufatmen.
Und Döring führt seine Geschichtsanalyse weiter:
Das Vertrauen in die Verlässlichkeit von Aussagen [...] hat zusammen mit einer staatlichen Rechtsordnung einst gewaltige Effizienzgewinne ermöglicht und die wirtschaftliche Entwicklung vorangetrieben. Doch Begriffe wie Tugend oder Anstand scheinen auch heute noch manche Manager aus ihrem Vokabular gestrichen zu haben, sofern sie sie jemals kannten.
Das ist eine interessante These. An der Krise sind nicht etwa Deregulierung, Verschuldungsspiralen und zunehmende Ungleichheit schuld. Nein, belehrt uns Döring, Schuld an der Krise trägt das Vokabular der Manager, weil ihm Begriffe wie "Anstand und Tugend" fehlen. Schuld ist das unmoralische Handeln vieler Manager.
Erinnern wir uns: Vor wenigen Jahren noch hörten sich die Neoliberalen gänzlich anders an. "Utilitarismus, Marktradikalismus und Profitmaximierung", jetzt von Döring verurteilt, war damals angesagt. Allerdings: "Utilitarismus, Marktradikalismus und Profitmaximierung" wurden auch damals keineswegs als Selbstzweck gefeiert. Gestandene Neoliberale glaubten vielmehr ganz genau zu wissen, wie der Kapitalismus funktioniert. Sie meinten, seine innerste Naturgesetzlichkeit zu kennen. Und sie meinten ganz genau zu wissen, wie man im Kapitalismus vernünftigerweise zu agieren hatte. Nämlich utilitaristisch, marktradikal und profitmaximierend. Das rechtfertigten die Neoliberalen nicht etwa mit Moral, sondern verkauften es als ökonomisches Naturgesetz, als zwingend, als alternativlos.
Was aber nun, nachdem diese Denke an die Wand gefahren ist? Regulierung und "Gutmenschentum" können nach Döring nicht die Antwort auf die Krise sein – gefragt seien hingegen Vertrauen, Verlässlichkeit, Tugend und Anstand der wirtschaftlich Handelnden. Die alte Argumentation mit alternativlosen Naturgesetzen wird hier durch eine moralisierende Argumentation lediglich übertüncht. Ersetzt wird sie nicht: Denn seine Ablehnung von Regulierung und "Gutmenschentum" begründet Döring ja gerade damit, dass nur deregulierte Märkte und Globalisierung zu Wohlstand führen. Hier feiert der Neoliberalismus der Vor-Krisen-Zeit fröhliche Urständ.
Neu ist diese Argumentation keineswegs - man lese etwa Horst Köhlers frühere Reden zur Finanzkrise oder manche Äußerung von Politikern zu Banken. Im Vordergrund ihrer Kritik steht nicht der neoliberale Kapitalismus, sondern die Unmoral der Kapitalisten. Döring zieht lediglich besonders konsequent seine Schlussfolgerungen aus dieser "Analyse": Märkte sollen frei und globalisiert bleiben, aber Manager sollen moralischer an diesen Märkten agieren. Das ist Voluntarismus. Es erinnert sehr an freiwillige Selbstverpflichtungen: Harmlos und zahnlos. Umweltschädliche Industrien ziehen Selbstverpflichtungen bei der Reduktion von Umweltbelastungen gegenüber verbindlichen Vorgaben immer vor. Sie ermöglichen es, weiterzumachen, ohne etwas zu ändern. Dank Döring wissen wir nun: Neoliberale ziehen Moralisieren gegenüber Regulieren vor. Denn auch die Moral ermöglicht es, weiterzumachen wie bisher. Stärker regulierte Märkte würden das nicht ermöglichen.
Dieser Text macht anschaulich, worum es im Kampf um wirkliche Alternativen gehen muss: Nicht um Moral und Ethik, sondern um ein Bewusstsein für Interessensunterschiede sowie für politische und wirtschaftliche Macht. Und sicher auch um die Erkenntnis, dass die Menschen, für die Döring und die Börsen-Zeitung schreiben, in eine der Gesellschaft dienende Funktion zurückgezwungen werden müssen - und zwar von außen. Freiwillig aus sich heraus werden sie es nicht tun.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.