Die "US-Fiskalklippe" in den deutschen Medien: Austerität diesseits und jenseits des Atlantiks
13. November 2012 | Patrick Schreiner
Wenn deutsche Zeitungen derzeit über die so genannte "Fiskalklippe" in den USA schreiben, kann man sich nur verwundert die Augen reiben. Eigentlich müsste diese "Klippe" von all jenen begrüßt werden, die an den Erfolg staatlicher Kürzungs- und Austeritätspolitik glauben. Schließlich beinhaltet sie genau jene Rezeptur, die sie derzeit auch den südeuropäischen Krisenländern als Heilsweg empfehlen: Kürzungen und Austerität. Doch weit gefehlt: Sogar die liberale und konservative Journalistenschaft beschreibt die "Fiskalklippe" als eine der derzeit größten Gefahren für die Weltwirtschaft. Hier lohnt ein genauerer Blick in diese Medien sowie auf Zahlen und Fakten – besonders am 13. November, dem Tag vor dem morgigen Europäischen Aktionstag für Arbeit und Solidarität.
Gemeint ist mit dem Begriff "Fiskalklippe" oder "Fiscal cliff" der Umstand, dass aufgrund bestehender bzw. auslaufender Gesetze in den USA zum Jahreswechsel 2012/2013 Steuern massiv erhöht und Staatsausgaben (nicht ganz so massiv) gekürzt werden müssen. Insgesamt belaufen sich diese Steuererhöhungen und Minderausgaben auf 607 Mrd. US-Dollar, was etwa 3,91 Prozent des Bruttoinlandsprodukts des Jahres 2012 entspricht. Aufgrund ihres enormen Umfangs drohen diese Maßnahmen, die USA in eine tiefe Rezession zu stürzen. Genau dies ist der Grund, weshalb sich die Presse in den USA wie auch in Europa weitgehend einig ist: Obama, seine Demokraten und die Republikaner, so wird gehofft und erwartet, müssen diese drastische rezessive Wirkung abmildern. Eine Forderung, die zwar inhaltlich richtig, aber für die meisten Schreiberlinge alles andere als widerspruchsfrei ist.
Schon Paul Krugman hat jüngst in seinem Blog auf die wenig konsequente Haltung fiskalpolitischer "Falken" hingewiesen: Einerseits fordern (Neo-) Liberale und Konservative immer wieder drastische Reduktionen öffentlicher Haushaltsdefizite, vor allem durch die massive Kürzung öffentlicher Ausgaben. Nun stehen die USA genau vor solchen Reduktionen – und die "Falken" wollen sie plötzlich abmildern. Genüsslich beschreibt Krugman die ideologischen Verrenkungen, die sie dabei eingehen müssen.
Doch auch in Deutschland ist die (neo-) liberale und konservative Presse weitgehend einig in ihrer Inkonsequenz. Einerseits unterstützt sie massiv und unkritisch die drastische Kürzungs- und Austeritätspolitik, die derzeit den südeuropäischen Ländern aufgezwungen wird. Andererseits aber hofft man auch in den liberalen und konservativen Redaktionen auf eine Einigung in den USA und damit auf eine Abmilderung der "Fiskalklippe". Ein Blick in Artikel verschiedener Zeitungs- und TV-Webseiten lohnt hier durchaus.
Beginnen wir mit dem "Handelsblatt":
Beide Parteien müssen sich nun aber im Haushaltsstreit zusammenraufen und einen Kompromiss zum Schuldenabbau finden. Sonst droht zu Beginn 2013 die sogenannte fiskalische Klippe, also automatische Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen. Dies würde der ohnehin wackeligen US-Konjunktur gänzlich den Boden entziehen und könnte damit eine handfeste Rezession nach sich ziehen.
Der TV-Nachrichtensender "n-tv", üblicherweise alles andere als austeritätsfeindlich, schreibt:
Die US-Wirtschaft erholt sich langsam, doch es droht ein Rückfall in die Rezession. Grund ist das Gezerre um einen neuen Haushalt. Einigen sich Demokraten und Republikaner im Kongress nicht, treten automatisch Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen in Kraft. Für die Konjunktur wäre das ein schwerer Schlag.
Die "Welt" zitiert Commerzbank-Ökonom Bernd Weidensteiner als Kronzeugen für die Schädlichkeit von Austeritätspolitik in den USA:
Sollten alle Erleichterungen 2013 wegfallen und die geplanten Ausgabekürzung ungeschmälert umgesetzt werden, 'würde das Defizit um etwa 4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes sinken', schreibt Commerzbank-Ökonom Bernd Weidensteiner. 'Dieser massive fiskalische Umschwung würde die Wirtschaft nächstes Jahr in eine Rezession treiben.'
Das "Wall Street Journal Deutschland" will da nicht nachstehen:
Wenn es zur Fiskalklippe kommt – also zu den im Januar drohenden üppigen Steuererhöhungen und gleichzeitigen Ausgabenkürzungen - würde die Wirtschaft in den USA in die Rezession rutschen.
Etwas milder, gleichwohl besorgt, drückt sich der "Focus" aus:
Doch die zunächst dringendste Aufgabe für Obama ist, die zum Jahreswechsel drohende automatische Ausgabenkürzung infolge der hohen Staatsverschuldung abzuwenden. Republikaner und Demokraten müssen sich in den kommenden Wochen auf den seit langem überfälligen Sparkompromiss einigen. Sonst treten 2013 per Beschluss Steuererhöhungen sowie Budgetkürzungen in Milliardenhöhe (fiscal cliff) in Kraft – unter anderem für das Militär. Diese Maßnahmen drohen das Wirtschaftswachstum zusätzlich zu behindern.
In den bekannt kurzen Sätzen formuliert die "Bild":
Vor allem beim Thema Staatsverschuldung drängt die Zeit: Die USA drohen nach der Jahreswende von der so genannten Fiskalklippe („fiscal cliff”) zu stürzen. Das Problem: Mit dem Beginn des neuen Jahres setzen nach jetzigem Stand automatisch milliardenschwere Steuererhöhungen und Einsparungen ein. Damit soll der Haushalt saniert werden, doch Experten fürchten, die Maßnahmen könnten die USA in eine neue Rezession manövrieren.
Auch die "Zeit" warnt vor einer drohenden Rezession in den USA, hervorgerufen durch die "Fiskalklippe":
Der Begriff Fiskalklippe meint automatische Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen zum Jahreswechsel. Die fiskalische Klippe war im vergangenen Jahr festgelegt worden, nachdem die Haushaltsverhandlungen im US-Kongress gescheitert waren. Sollten die finanzpolitischen Automatismen zum 1. Januar 2013 greifen, würde das Defizit bis September kommenden Jahres um 503 Milliarden Dollar (395 Milliarden Euro) sinken, wie aus einer Berechnung des unabhängigen Haushaltsbüros des Kongresses hervorgeht. Allerdings könnten die USA durch die Ausgabenkürzungen in eine Rezession rutschen.
Und auch "Spiegel Online", sonst für Austeritätspolitik fast immer zu haben, zeigt sich besorgt:
Nur noch 53 Tage haben Republikaner und Demokraten, um sich zumindest auf eine Übergangslösung für den Schuldenabbau zu einigen. Ansonsten droht zum 1. Januar 2013 die sogenannte haushaltspolitische Klippe ("fiscal cliff"), die man im vergangenen Jahr nach monatelangem Streit ins Gesetz geschrieben hatte, um sich selbst unter Druck zu setzen und nach der Präsidentschaftswahl eine Lösung zu finden. Und genau da stehen jetzt die Amerikaner: direkt vor der Klippe. Gelingt keine Einigung, treten automatisch Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen von gut 600 Milliarden Dollar für 2013 in Kraft, die das Land - und in Folge die Weltwirtschaft - in eine neue Rezession treiben könnten, wie zahlreiche Experten, darunter der Internationale Währungsfonds (IWF), fürchtet. Nahezu allen Amerikanern würden die Steuern erhöht, die Arbeitslosenquote würde wohl von jetzt 7,9 auf über neun Prozent empor schnellen. Die US-Wirtschaft würde aller Voraussicht nach im nächsten Jahr nicht wachsen, sondern um 0,5 Prozent schrumpfen. Nur das jährliche Defizit könnte mit etwa 500 Milliarden Dollar um die Hälfte reduziert werden. Doch der Preis wäre hoch - zu hoch für die wichtigste Ökonomie des Planeten.
Halten wir also fest: Die Medien – und durchaus auch Politik und Wirtschaft – sind sich bis weit ins konservative und (neo-) liberale Spektrum hinein einig darin, dass Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen in den USA im Umfang von 3,91 Prozent des Bruttoinlandsprodukts eine ernste Rezessionsgefahr heraufbeschwören und deshalb verhindert werden müssen. Diese Einschätzung wird in den USA ebenso wie in Europa breit geteilt. Inhaltlich ist sie auch völlig richtig. Das Seltsame ist nur, dass die gleichen Medien, PolitikerInnen und Wirtschaftsleute – zumindest die deutschen – gegen Austeritäts- und Kürzungspolitik in Südeuropa nichts einzuwenden haben.
An dieser Stelle lohnt ein Vergleich der Situation in den USA mit dem Umfang der Maßnahmen, die Griechenland und Portugal (auch) auf Druck von Europäischer Union und Internationalem Währungsfonds – mit Unterstützung der deutschen Regierung Merkel – durchführten und weiter durchführen werden. Die folgende Abbildung stellt den Umfang dieser Maßnahmen den drohenden Maßnahmen in den USA gegenüber, jeweils in Jahreswerten und in Prozent des Bruttoinlandsprodukts:
Abbildung 1: Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen in Griechenland 2010-2013, Portugal 2011-2012 und USA 2013, jeweils in Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Zur Erklärung: (1) = Ist-Werte, (2) = Schätzungen, (3) = Projektion, (4) = Soll-Werte. Quellen: Second Economic Adjustment Programme for Greece; Economic Adjustment Programme for Portugal / Fifth Review; Congressional Budget Office's Update to the Economic and Budget Outlook: Fiscal Years 2012 to 2022; Congressional Budget Office: Economic Effects of Reducing the Fiscal Restraints that is Scheduled to Occur in 2013. Eigene Darstellung und teilweise eigene Berechnung.
Die Abbildung zeigt, dass Griechenland in vier Jahren und Portugal in zwei Jahren höhere negative fiskalpolitische Auswirkungen auf die Konjunktur durchmachen mussten bzw. erwarten müssen. In Griechenland war die negative Wirkung einmal – nämlich 2010 – sogar mehr als doppelt so hoch, wie sie jetzt aktuell in den USA zu erwarten ist. Ohne dass ich es im Detail untersucht hätte, ist doch davon auszugehen, dass auch in Spanien die Sparprogramme größer sind als das Maßnahmenbündel, auf das die USA zusteuern.
Wie sind diese Zahlen zu interpretieren? Sie bedeuten selbstverständlich nicht, dass die in den USA drohenden Kürzungen und Steuererhöhungen harmlos wären. Sie sind alles andere als das. In der Tat stellen diese Maßnahmen eine Gefahr für die Wirtschaftsentwicklung in dem Land selbst, letztlich aber auch für die Weltwirtschaft dar. Die massive Rezession, in der sich viele Staaten in Südeuropa befinden, sollte eine Lehre sein. Insofern gilt es, alles dafür zu tun, dass in den USA insbesondere die Kürzungen und zumindest die konjunkturschädlichsten der drohenden Steuererhöhungen unterbleiben.
Allerdings sollte eine kritische Frage durchaus erlaubt sein: Weshalb fällt die (neo-) liberale und konservative Presse ins Wehklagen wegen 3,91 Prozent drohender Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen in den USA, trägt aber weitaus größere Kürzungen in Griechenland und Portugal ohne Murren mit? Weshalb ist Austeritätspolitik für sie in den USA ein Problem, nicht aber in Südeuropa? Weshalb setzt sie sich in der Regel sogar offensiv für massive Kürzungen in Südeuropa ein, beschreibt diese in den USA aber als Gefahr? Auf diese Fragen sind aus meiner Sicht mehrere Antworten denkbar – ich überlasse meinen geneigten LeserInnen die Entscheidung, welche sie für schlüssiger halten:
- Schlichte Dummheit und Ignoranz.
- Das gedankenlose Nachplappern von Einschätzungen und Analysen, die derzeit die Politik und Medien in den USA diskutieren.
- Die egozentrische und nationalistische Einschätzung, dass eine Rezession in den USA für Deutschland weitaus schädlicher ist als eine Rezession in Griechenland oder Portugal.
- Man hat aus vergangenen Fehleinschätzungen hinsichtlich der rezessiven Wirkung von Austeritätspolitik gelernt und dadurch einen realistischeren Blick erlangt. (Wer diese Antwort für richtig hält, kann sich schonmal auf flammende Schriften zur Verteidigung griechischer und portugiesischer DemonstrantInnen, streikender GewerkschafterInnen und Anti-Kürzungs-AktivistInnen freuen, gedruckt in der "Welt", in der "Bild", im "Handelsblatt" und im "Spiegel".)
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.