Märchen aus der Deutschen Bank (5): Überschätzte Multiplikatoren bei Ausgabenkürzungen
29. November 2012 | Patrick Schreiner
Die wirtschaftlichen Folgen jeder Kürzungspolitik sind sehr viel gravierender, als es deren Befürworterinnen und Befürworter wahrhaben wollten. Dies ist das Ergebnis einer Erhebung, die jüngst der Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds, Olivier Blanchard, veröffentlicht hat. Überraschend ist dieses Eingeständnis durchaus, hat der IWF doch lange Jahre jene Staaten, die seine Kredite in Anspruch nehmen mussten, mit einer harschen und schädlichen Kürzungs- und Austeritätspolitik überzogen – wie aktuell Griechenland. Dass dieses Eingeständnis allerdings auf Kritik der Neoliberalen stoßen würde, war zu erwarten. Erstaunlich ist aber, wie wenig durchdacht diese Kritik jüngst in der FAS von Thomas Mayer formuliert wurde, ehemals Chefvolkswirt der Deutschen Bank. - Ein Beitrag über Zahlentricks und Manipulationen.
Thomas Mayer ist heute "Senior Fellow" am "Center for Financial Studies" der Universität Frankfurt; die Deutsche Bank unterstützt er aber ausweislich seiner Personenbeschreibung immer noch als "Berater". Grund genug, seinen am 25. November in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienenen Artikel "Sparen wir Südeuropa kaputt?" nicht nur kritisch zu lesen, sondern meine Replik auf diesen Artikel auch in die Reihe "Märchen aus der Deutschen Bank" einzuordnen – als deren Nummer 5.
Mayers erste Grundthese steht in der Unterzeile des Artikels: "Es gibt keine empirischen Belege dafür, dass Sparprogramme dem Wachstum schaden". Er bezieht sich direkt auf Blanchards Ergebnisse, deren empirische Evidenz er allerdings bestreitet. Dabei argumentiert Mayer, indem er als Beispiel ("Spanien ähnlich") Folgendes modellhaft vorrechnet:
- Das Haushaltsdefizit eines Landes betrage 100 Milliarden Euro, das Bruttoinlandsprodukt dieses Landes betrage 1 Billion Euro, entsprechend beträgt die Defizitquote 10 Prozent.
- Das Land muss seine Defizitquote binnen eines Jahres um 5 Prozentpunkte – 50 Milliarden Euro – reduzieren.
- Der Multiplikator liege nicht, wie der IWF in der Vergangenheit annahm, bei 0,5, sondern beim Mittelwert der Spanne, die Blanchard angegeben hat. Blanchards Spanne betrage 0,9 bis 1,7, der Mittelwert beträgt also 1,3.
- Da der Multiplikator angibt, wie stark eine Haushaltskürzung sich auf das BIP auswirkt, sinkt mit der Kürzung von Ausgaben um die angegebenen 50 Milliarden Euro das Bruttoinlandsprodukt um 65 Milliarden Euro (50 x 1,3 = 65).
- Das neue Bruttoinlandsprodukt beträgt also 935 Mrd. Euro (1000 – 65). Diese Zahl nennt Mayer nicht explizit, sie wird aber gebraucht.
- Durch den Rückgang des BIP kommt es zu Steuerausfällen. Mayer nimmt an, dass die Steuerquote bei 50 Prozent liegt, die Steuereinnahmen des Staates also 50 Prozent des BIP betragen. Ein Rückgang des BIP um 65 Milliarden Euro führt also zu einem Rückgang der Steuereinnahmen um 32,5 Milliarden Euro (65 x 0,5).
- Das Defizit, das ursprünglich um 50 Milliarden Euro sinken sollte, sinkt daher nur um 17,5 Milliarden Euro (50 – 32,5 = 17,5). Es beträgt nun 82,5 Milliarden Euro (100 – 17,5).
- Die Defizitquote, die ursprünglich 10 Prozent des BIP betragen hatte, beträgt daher nun nur noch 8,8 Prozent (82,5 / 935).
Quod erat demonstrandum, Kürzungspolitik ist wirksam, so Mayer: Im Ausgangsjahr hatte das Defizit 100 Milliarden Euro und 10 Prozent des BIP betragen, im Jahr nach den Kürzungen allerdings nur noch 82,5 Milliarden Euro oder 8,8 Prozent. Ein Rückgang um 17,5 Milliarden Euro oder 1,2 Prozentpunkte. Fazit Mayers, obwohl von ursprünglich 50 Milliarden Kürzungen wegen Steuermindereinnahmen effektiv nur 17,5 Milliarden erreicht wurden: positiv.
Doch dies ist aus drei Gründen nur die halbe Wahrheit.
Erstens: Mayer wollte laut Unterzeile ja beweisen, dass es "keine empirischen Belege" dafür gibt, dass "Sparprogramme dem Wachstum schaden." Tatsächlich bewiesen aber hat er etwas anderes, nämlich, dass trotz zurückgehendem Wachstum durch Kürzungen das Defizit und die Defizitquote sinken können. Die Wirtschaftsleistung insgesamt wächst bei Mayer nicht, sondern sie schrumpft. Das Wachstum wird also sehr wohl geschädigt. (Man muss allerdings einräumen, dass die letztlich seltsame Aussage, Sparprogramme schadeten dem Wachstum nicht, im Artikel selbst nicht wiederholt wird – möglicherweise wurde sie, wie oft üblich, von einer wenig kompetenten Redaktion hinzugefügt. Dann wäre dieser Fehler nicht Mayer zuzurechnen.)
Zweitens: Mayer lässt völlig außen vor, dass es weitere belastende Faktoren geben kann, die zu einem Sinken des BIP sowie der Steuereinnahmen führen. Austeritätspolitik besteht eben nicht nur aus Kürzungen der Staatsausgaben. Sind diese weiteren Faktoren in ausreichendem Maße gegeben, so droht das Defizit durch Kürzungen nicht zu sinken, sondern sehr wohl zu wachsen. Diese Faktoren sind gerade derzeit in den derzeitigen südeuropäischen Krisenländern gegeben, sie dürfen in einer Gesamtrechnung also eigentlich nicht vernachlässigt werden:
- Das Senken von Löhnen in der Privatwirtschaft führt – wie Kürzung von Staatsausgaben – zu geringerer Binnennachfrage, was im Regelfall zu einem Sinken des BIP und zu Steuerausfällen führt.
- Die gleiche Wirkung tritt auf, wenn die Unternehmen Investitionen zurückstellen oder streichen. Dies werden sie insbesondere dann tun, wenn die wirtschaftlichen Aussichten schlecht sind – was spätestens der Fall ist, wenn es zur massiven Kürzung von Staatsausgaben und Löhnen kommt.
- Und schließlich kann die betroffene zusätzlich Volkswirtschaft belastet werden, wenn die wichtigsten Handelspartner gleichfalls in einer Krise stecken, Austeritäts- und Kürzungspolitik durchführen und daher keine Produkte mehr abnehmen.
Alleine die Auswirkungen der Kürzung von Staatsausgaben zu betrachten, greift also viel zu kurz. Dennoch lohnt es sich, die Rechnung Mayers über das erste – von ihm betrachtete – Jahr hinaus weiterzuführen. Drittens nämlich blendet Mayers Artikel völlig aus, welche langfristigen Auswirkungen die von ihm gefeierte Kürzungspolitik hat. Er berechnet lediglich die Folgen durch Kürzungen, die nach dem Zeitraum von einem Jahr auftreten.
Will man Mayers Berechnung weiterführen, so ist eine zusätzliche Annahme zu treffen. Diese betrifft die Frage, in welchem Umfang Kürzungen in den Folgejahren vorgenommen werden sollen. Ich gehe in den folgenden Berechnungen davon aus, dass – wie bei Mayer – die Kürzungen jährlich die Hälfte des Defizits umfassen. Liegt das Defizit allerdings unter 10 Milliarden Euro, so betragen die Kürzungen 100 Prozent des Defizits.
Führt man Mayers Berechnung wie beschrieben weiter, so entwickeln sich das Bruttoinlandsprodukt, das jährliche Haushaltsdefizit sowie die jährlichen Ausgabenkürzungen wie folgt:
Abbildung 1: Weiter-Berechnung von Thomas Mayers Modell. Quelle: eigene Berechnung und Darstellung.
In Mayers Modell ("Spanien ähnlich") liegt das Haushaltsdefizit nach 20 Jahren Kürzungspolitik erstmals unter 0,5 Milliarden Euro, die Defizitquote liegt dann bei 0,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Nach 25 Jahren Kürzungspolitik liegt das Defizit erstmals bei 0,0 Milliarden Euro (in der Abbildung nicht mehr enthalten). Wohlgemerkt: Ohne Berücksichtigung der oben genannten, weiteren belastenden Faktoren.
Entscheidend an Mayers Thesen ist, dass das Bruttoinlandsprodukt schon nach 5 Jahren nur noch bei 771 Milliarden Euro liegt. Schon nach fünf Jahren hat das Land also einen Verlust an wirtschaftlicher Leistung – und materiellem Wohlstand – von 22,9 Prozent erlitten. Nach 20 Jahren, wenn das Haushaltsdefizit erstmals unter 0,5 Prozent liegt, beträgt das BIP gerade noch 630 Milliarden Euro, das Land hat dann also über ein Drittel seiner Wirtschaftskraft verloren. Grund für diesen enormen Einbruch sind letztlich vor allem die Steuermindereinnahmen, die mit Kürzungen stets einhergehen und die stets weitere Kürzungen verlangen. Angesichts dieser Zahlen zu behaupten, Kürzungspolitik habe keine negativen Auswirkungen, ist zynisch und zeugt von Verblendung.
Übrigens: Würde der Multiplikator tatsächlich nur etwa 0,5 betragen, wie der IWF und die Europäische Union (EU) offiziell noch immer behaupten, so läge das Haushaltsdefizit in Mayers Modell schon nach acht Jahren erstmals unter 0,5 Milliarden Euro. Das BIP wäre zu diesem Zeitpunkt auf 933 Milliarden Euro gesunken, der Wohlstandsverlust betrüge also "nur" noch 6,7 Prozent. Kein Wunder, dass Mayer gegen Ende seines Artikels unter Berufung auf die EU behauptet, der Multiplikator im Allgemeinen und jener in Südeuropa liege "nach wie vor zwischen 0,3 und 0,7".
Beim IWF hat hingegen immerhin schon Chefökonom Oliver Blanchard genauer hingesehen und Realismus einkehren lassen. Es bleibt zu hoffen, dass dies auch der restliche IWF in seiner tatsächlichen Politik, die Europäische Union und neoliberale Autorinnen und Autoren möglichst bald tun – im Sinne einer vernünftigen Wirtschafts- und Finanzpolitik in Europa.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.