Aktualisierte Daten zum Scheitern der Kürzungspolitik in Griechenland
7. Dezember 2012 | Patrick Schreiner
Vor einer Woche hat der Bundestag dem aktuellen Rettungspaket für Griechenland mit deutlicher Mehrheit zugestimmt. Von Politik und Medien wurde es in erster Linie als ein Maßnahmenbündel wahrgenommen, mit dem dem Land mehr Zeit für die "Konsolidierung" seiner Haushalte eingeräumt wurde. Sehr viel mehr als das ist es aber ein Dokument des Scheiterns der Kürzungs- und Austeritätspolitik, die die Europäische Union, die Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds den Griechinnen und Griechen seit einigen Jahren aufzwingen. Der Beschluss des Bundestags soll daher Anlass sein, einen (erneuten) Blick zu werfen auf die Prognosen und Realitäten der wirtschaftlichen Entwicklung in Griechenland.
Schon seit Jahren werden die Haushaltsdefizite in Griechenland und damit verbunden die notwendigen “Hilfspakete” (Kredite) zum Vorwand genommen, um über vermeintlich freigiebige und finanziell inkompetente Griechinnen und Griechen zu schimpfen. Aktuell etwa wird über die angeblich zunehmende Korruption in dem Land berichtet, ohne überhaupt zu fragen, auf welchen – fragwürdigen – Methoden solche "Statistiken" beruhen. Und ebenso wenig wird reflektiert, ob die Inkompetenz und die Gründe für die griechischen Haushaltsdefizite möglicherweise ganz woanders zu finden sind.
Dabei würde ein schlichter Blick in die “Anpassungsprogramme” der Europäischen Union und des IWF genügen, um zu erkennen: Ein Großteil des aktuellen Defizits ist darauf zurückzuführen, dass man das Ausmaß des Wirtschaftseinbruchs in Griechenland deutlich unterschätzt hatte. Dies lässt sich recht einfach durch einen Vergleich der Prognosen, die den Anpassungsprogrammen zu Grunde liegen, mit den korrigierten Prognosen in deren Revisionen und mit den Ist-Werten darstellen. Im Folgenden stelle ich entsprechende Entwicklungen mit aktualisierten Zahlen dar, diese Ausführungen ergänzen damit meine Artikel zum gleichen Thema, die ich im März und im Juni dieses Jahres veröffentlicht habe.
Doch zunächst eine kurze Darstellung des Zusammenhangs von Kürzungen und Wirtschaftseinbruch, letzterer gemessen als Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP): Wenn ein Staat seine Ausgaben stark zurückführt, hat dies negative Auswirkungen auf die Konjunktur und auf die wirtschaftliche Entwicklung. Der Staat kann sich aus der Krise nicht heraussparen (es sei denn auf Kosten anderer Volkswirtschaften). Dafür gibt es mehrere Gründe, die beiden wichtigsten sind wohl die folgenden:
1. Wenn die öffentlichen Haushalte Ausgaben kürzen, so bricht staatliche Nachfrage weg. Da die öffentliche Hand aus volkswirtschaftlicher Perspektive ein großer und wichtiger Nachfrager ist, wirkt der Einbruch der staatlichen Nachfrage gerade in Krisenzeiten unmitttelbar wachstumshemmend.
2. Wird die staatliche Umverteilung von wohlhabenderen zu ärmeren Menschen durch einen Abbau von Sozialleistungen zurückgeführt, so ergibt sich ein zusätzlicher Rückgang der Nachfrage, der das Wachstum gefährdet – denn die Nachfrage durch Wohlhabende ist aufgrund einer höheren Sparquote relativ geringer als die Nachfrage durch ärmere Menschen. Oder umgekehrt formuliert: Gerade weil ärmere Menschen einen hohen Anteil ihres Einkommens für den Konsum ausgeben, bricht Nachfrage weg, wenn kleine – und auch mittlere – Einkommen belastet bzw. gesenkt werden.
Wenn ein Staat seine Ausgaben stark zurückführt, hat dies also negative Auswirkungen auf die Konjunktur und die wirtschaftliche Entwicklung. Genau ein solcher – im Wesentlichen durch Kürzungen öffentlicher Ausgaben, aber auch durch erzwungene Lohnsenkungen – provozierter Einbruch der Wirtschaft war und ist in Griechenland zu beobachten.
In einem gewissen Umfang haben die EU-Kommission und der IWF dies durchaus vorhergesehen und in ihre Reformmaßnahmen eingeplant. Im Mai 2010 haben sie ein Anpassungsprogramm für Griechenland entworfen, das Annahmen hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung getroffen und davon ausgehend Maßnahmen zur Reduktion des griechischen Haushaltsdefizits zusammengestellt hat. Dem folgte im Frühjahr 2012 ein weiteres Anpassungsprogramm, das der gleichen Logik und wirtschaftspolitischen Konzeption folgte. Wie die folgende Grafik zeigt, sind EU und IWF dabei zunächst von einem Einbruch des Bruttoinlandsprodukts um 2,6 Prozent im Jahr 2011 ausgegangen, im Jahr 2012 sollte das BIP hingegen schon wieder um 1,1 Prozent wachsen. Die Realität aber sah und sieht dann doch gänzlich anders aus:
Wiederholt mussten EU und IWF ihre eigenen Annahmen nach unten korrigieren. Ausgegangen war man zunächst von den genannten –2,6 Prozent für 2011 und +1,1 Prozent für 2012 (hellblau). Beinahe von Revision zu Revision verschlechterten sich diese ohnehin schon schlechten Werte noch weiter. In der fünften Revision des ersten Anpassungsprogramms (Oktober 2011) ging man schon von –5,5 Prozent in 2011 und –2,8 Prozent in 2012 aus (dunkelblau). Das tatsächliche Ist-Ergebnis für 2011 lag schließlich bei –7,1 Prozent (rot, revidiert gegenüber dem in meinem früheren Artikel genannten Wert), die aktuellste Eurostat-Prognose vom Dezember 2012 geht für 2012 von einem Einbruch um –6,0 Prozent aus (dunkelgrün). Vermutlich ist das Ende der Fahnenstange selbst hier noch nicht erreicht. Gegenüber dem Stand vom März und Juni 2012, den ich in meinen damaligen Artikeln dargestellt habe, hat sich die Situation damit erneut drastisch verschärft.
Dieser Einbruch der Wirtschaftsleistung schlägt sich unmittelbar in einem Einbruch der Staatseinnahmen nieder, zugleich steigen die Staatsausgaben automatisch stärker als kalkuliert an. Im Jahr 2011 lagen die durch den zusätzlichen Rückgang der Wirtschaftsleistung bedingten Mindereinnahmen bei deutlich über 10 Prozent der gesamten – von EU und IWF fest einkalkulierten – Steuereinnahmen. Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass Griechenlands finanzielle Situation sich nicht verbessert und das Land ein Rettungspaket nach dem anderen benötigt.
Dies zeigt: EU und IWF haben, als sie ihre Anpassungsprogramme entwarfen, die negativen Auswirkungen von Haushaltskürzungen – bzw. generell von Austeritätspolitik – massiv unterschätzt. Diese Organisationen und vor allem die dahinterstehenden wirtschaftspolitischen Konzepte sind es, die gescheitert sind. Seitens des IWF gab es kürzlich immerhin das vorsichtige Eingeständnis des Chefvolkswirts Olivier Blanchard, dass man in der Vergangenheit die so genannten Multiplikatoren deutlich unterschätzt habe. (Ein Multiplikator gibt an, wie stark sich Haushaltskürzungen in einer negativen wirtschaftlichen Entwicklung niederschlagen.)
Den Griechinnen und Griechen wird dieses Eingeständnis nicht mehr viel helfen. Es sollte aber Anlass sein, endlich umzudenken. Wie die Debatte rund um das Griechenland-Rettungspaket gezeigt hat, sind die politischen Entscheidungsträgerinnen und –träger zumindest in CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP hiervon allerdings noch weit entfernt. Und auch der konservative griechische Ministerpräsident Antonis Samaras lebt nach wie vor in Wolkenkuckucksheim: Er hat jüngst allen Ernstes verkündet, mit den derzeitigen „Reformen“, „Änderungen“ und „Privatisierungen“ arbeite man an einer „Erfolgsgeschichte“.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.