Die neue Lohndebatte
14. Januar 2013 | Patrick Schreiner
Die Forderungen nicht nur der Gewerkschaften nach spürbaren Lohnerhöhungen in Deutschland werden lauter. Die Arbeitgeberseite wehrt sich – was nicht wirklich überrascht. Und doch ist das nicht das übliche Geplänkel. Vielmehr deutet sich in der neuen Lohndebatte an, was zu befürchten war: Die Arbeitgeber werden auf die erzwungenermaßen sinkenden Löhne in Südeuropa mit Forderungen nach neuen Lohnsenkungen in Deutschland reagieren.
Seit Beginn der Eurokrise setzen Bundeskanzlerin Angela Merkel, Kommissionspräsident José Manuel Barroso und Co. auf drastische und erzwungene Lohnsenkungen in Südeuropa. Erklärtes Ziel ist es, diese Staaten wieder „wettbewerbsfähiger“ zu machen. Hintergrund sind auseinanderlaufende Lohnstückkosten in Europa: Auf der einen Seite sind einige Volkswirtschaften, allen voran Deutschland, in den letzten zehn Jahren sehr viel billiger geworden. Im Verhältnis dazu sind auf der anderen Seite andere Länder, etwa in Südeuropa, teurer geworden. Dies führte zu drastischen Exportüberschüssen in Deutschland, aber etwa auch den Niederlanden oder Finnland. Spiegelbildlich dazu kam es in Spanien, Griechenland oder Portugal zu drastischen Exportdefiziten.
Man kann auf dieses Auseinanderlaufen der Lohnstückkosten auf (mindestens) zweierlei Weisen reagieren, will man die Lohnstückkosten wieder einander annähern und damit die Überschüsse und Defizite im Außenhandel reduzieren: Mit im Verhältnis zur Produktivität steigenden Löhnen in den Überschussländern oder mit im Verhältnis zur Produktivität sinkenden Löhnen in den Defizitländern. Merkel, Barroso und Co. haben sich fatalerweise für die zweitgenannte Strategie entschieden (diese wird häufig als "interne Abwertung" verniedlicht). Von Beginn an war daher die drastische Schwächung der Arbeitnehmerseite und das Drücken von Löhnen ein wesentlicher Bestandteil der „Krisenbekämpfung“:
- In Griechenland wurden bestimmte Haustarifverträge neu eingeführt, um Abweichungen vom Flächentarifvertrag zu ermöglichen. Das Günstigkeitsprinzip, demzufolge bei konkurrierenden Tarifverträgen stets der für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer günstigere Tarifvertrag gilt, wurde aufgehoben. Die Nachwirkung von Tarifverträgen wurde auf drei Monate begrenzt. 2010 wurden die Mindestlöhne nicht erhöht, real sind sie damit gesunken. 2011 wurde der nationale Mindestlohn um 22 Prozent gesenkt, für Menschen unter 25 Jahren sogar um 32 Prozent. Da die Mindestlöhne in Griechenland von den Tarifpartnern ausgehandelt werden, war dies ein Eingriff in die Tarifautonomie - gegen den Willen von Gewerkschaften wie auch Arbeitgebern. Im öffentlichen Dienst wurden die Löhne qua Diktat um nominal durchschnittlich ca. 30 Prozent reduziert. => Insgesamt sind die Reallöhne in Griechenland zwischen 2010 und 2012 um etwa 20 Prozent gesunken.
- Auch in Italien wurden Abweichungen vom Tarifvertrag auf betrieblicher Ebene ermöglicht. Betriebliche Tarifverträge können darüber hinaus nicht nur gegenüber Branchentarifverträgen, sondern auch gegenüber bestimmten gesetzlichen Bestimmungen nach unten abweichen. Im öffentlichen Dienst hat die Regierung die Löhne zwischen 2009 und Ende 2012 faktisch eingefroren, was aufgrund der Inflation zu Reallohnverlusten der Beschäftigten führte. => Insgesamt sind die Reallöhne in Italien zwischen 2010 und 2012 um fast 3 Prozent gesunken.
- In Portugal wurde die Quasi-Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen abgeschafft. Zudem wurden auch hier Abweichungsmöglichkeiten gegenüber Tarifverträgen eingeführt, und zwar Abweichungsmöglichkeiten nach unten. 2011 wurden die Mindestlöhne nicht erhöht, real sind sie damit gesunken. 2011 wurden die Löhne im öffentlichen Dienst um fünf Prozent gekürzt, 2010 und 2012 wurden sie eingefroren. Bei bestimmten Entgeltgruppen wurden das 13. und das 14. Monatsgehalt gekürzt oder abgeschafft. => Insgesamt sind die Reallöhne in Portugal zwischen 2010 und 2012 um etwa 10 Prozent gesunken.
- Auch in Spanien wurden Abweichungsmöglichkeiten auf betrieblicher Ebene geschaffen. Haustarifverträge erhielten einen generellen Vorrang gegenüber Flächentarifverträgen. 2011 wurden die Mindestlöhne nicht erhöht, real sind sie damit gesunken. Im öffentlichen Dienst wurden die Löhne 2010 um fünf Prozent gekürzt, zudem wurde die Arbeitszeit für alle ÖD-Beschäftigten auf einheitlich 37,5 Prozent ohne Lohnausgleich reduziert. => Insgesamt sind die Reallöhne in Spanien zwischen 2010 und 2012 um mehr als 6 Prozent gesunken.
Eine solche Politik ist Gift, beschwört sie doch Deflationsgefahren herauf. Sie vernichtet unmittelbar volkswirtschaftliche Nachfrage. Sie ist damit – neben der drastischen Kürzung von Staatsausgaben – wesentlich mitverantwortlich für die Rezession, in der die südeuropäischen Länder stecken. Eine Rezession, die letztlich dazu führt, dass die Verschuldung dieser Länder nicht zurückgeht.
Dies ist der Hintergrund, vor dem die neue Lohndebatte in Deutschland stattfindet.Die Gewerkschaften forderten jüngst deutliche Lohnerhöhungen, zuletzt verdi-Chef Frank Bsirske und DGB-Chef Michael Sommer. Beide hatten dabei durchaus auch die Situation in Europa im Blick. Eine Forderung und Perspektive, der sich in den letzten Wochen auch einige Wissenschaftler anschlossen:
- Der „Wirtschaftsweise“ Peter Bofinger hat Lohnerhöhungen von fünf Prozent gefordert, wovon zwei Prozent als Beitrag zur Überwindung der Eurokrise zu werten seien.
- Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Gert Wagner, hat Lohnerhöhungen von vier Prozent oder mehr gefordert.
- Auch Gustav Horn vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung fordert mit Blick auf die Eurokrise deutliche Lohnsteigerungen:
Wir sagen aus Gründen der europäischen Stabilität und auch aus Gründen der deutschen Stabilität, die ja unmittelbar mit der europäischen Stabilität verbunden ist, dürfen es in den nächsten zwei bis drei Jahren auch mal vier Prozent oder etwas mehr sein - als kurzfristigen Beitrag Deutschlands zur Stabilisierung des Euroraums.
Bofinger, Wagner und Horn verfolgen damit das gleiche Ziel wie Merkel, Barroso und Co. – nur eben mit weniger negativen Folgen für die Beschäftigten in Deutschland und Europa wie auch für die Volkswirtschaften insgesamt. Steigende Löhne hierzulande bremsen die Wirtschaft nämlich gerade nicht aus, sondern sie treiben sie an, und zwar letztlich europaweit. Wenn die Löhne in Deutschland steigen, so die Überlegung, dann wird die Lücke bei den Lohnstückkosten zwischen Deutschland und Südeuropa geschlossen. Die niedrigeren Lohnstückkosten in Deutschland nähern sich den höheren Lohnstückkosten in Südeuropa an.
Davon wollen die Arbeitgeber allerdings, wenig überraschend, nichts wissen. Einen Zusammenhang zwischen der Lohnentwicklung in Deutschland und der Eurokrise leugnen sie schlichtweg - zumindest, wenn es darum geht, Lohnsteigerungen in Deutschland abzuwehren. Die Frankfurter Rundschau berichtete am 8. Januar:
Als „grotesk“ wies der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, Peer-Michael Dick, den Ruf nach stärkeren Tarifsteigerungen zurück. Die Behauptung, die Löhne seien in der Vergangenheit nicht stark genug gestiegen, entbehre jeder Grundlage, meinte Dick. Ökonomisch fragwürdig sei es zudem, die Tarifpolitik in Deutschland in Zusammenhang mit den Schuldenproblemen Südeuropas zu bringen.
Dass Arbeitgeber sich gegen Lohnerhöhungen - und im Zweifel für Lohnsenkungen - aussprechen, ist nicht neu. Erinnern wir uns: Schon vor 10-15 Jahren traten sie mit massiven Forderungen nach der Senkung von Löhnen und Lohnebenkosten auf. Angeblich sei die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft gefährdet, argumentierten sie (obwohl Deutschland schon damals mehr exportiert als importiert hat.) Bei den schwarz-gelben und rot-grünen Bundesregierungen stießen sie damit auf offene Ohren. Eine systematische Schwächung der Beschäftigten und der Gewerkschaften, als „Entkrustung des Arbeitsmarkts“ beschönigt, folgte – Stichwort Agenda 2010, Stichwort Hartz-Gesetzgebung. Die Reallöhne in Deutschland sanken zwischen 2001 und 2009 um 3,0 Prozent – dies war der mit Abstand schlechteste Wert aller Staaten in Europa und der einzige negative.
Das Auseinanderlaufen der Lohnstückkosten in Europa ist eine unmittelbare Folge dieser Politik und dieser Reallohnentwicklung. Insofern sind auch die aktuellen Lohnsenkungen in Südeuropa durchaus eine unmittelbare Folge der zurückliegenden Lohnsenkungen hierzulande.
Aktuell schließt sich aufgrund der massiven Lohnsenkungen in Südeuropa die Schere zwischen Lohnstückkosten dort und hier nun wieder. Und genau das ist für die Arbeitgeber das Argument, weshalb die Löhne in Deutschland nur verhalten steigen sollten – wenn überhaupt. Die FR in oben verlinktem Artikel:
Dagegen mahnte der neue Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Ulrich Grillo, zur Zurückhaltung. Deutschland habe international konkurrenzfähige Lohnstückkosten und müssen [sic!] aufpassen, dass dieser Wettbewerbsvorteil nicht verloren gehe. Schließlich hätten andere Staaten sich bei den Lohnstückkosten bereits verbessert.
Allerdings: Eines Tages werden die Lohnstückkosten in Südeuropa auf das deutsche Niveau heruntergedrückt sein. Dann werden die deutschen Exportüberschüsse zurückgehen. Was sich in Grillos Argumentation heute schon andeutet, wird dann noch radikalisiert werden: Wieder wird man die mangelnde "Wettbewerbsfähigkeit" Deutschlands bejammern, wieder wird man die Senkung von Löhnen und Lohnnebenkosten fordern, wieder werden Gewerkschaften beschimpft werden. Und vermutlich wird man bei der Bundesregierung wieder Gehör finden, welche Parteien auch immer diese dann bilden.
Dies zeigt: Die Schaffung der Europäischen Währungsunion hat offenbar einen Teufelskreis aus Lohnsenkungen, Rezession und steigender Arbeitslosigkeit ausgelöst; kurz: eine Konkurrenz um möglichst niedrige Löhne. Ein Teufelskreis, in dem die einen auf Lohnsenkungen der anderen ebenfalls mit Lohnsenkungen reagieren – in der Hoffnung, am Ende billiger zu sein. Nur dass genau dieses Verhalten die volkswirtschaftliche Nachfrage massiv schwächt, Deflationen und Rezessionen provoziert und damit am Ende allen schadet.
Es gilt, hieraus auszubrechen. Die Vorschläge von Horn, Wagner und Bofinger sowie die Lohnforderungen der Gewerkschaften weisen in die richtige Richtung.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.