Autoritärer Liberalismus: Carl Schmitt, Heinrich Brüning und der U-Bahn-Streik in Athen
28. Januar 2013 | Patrick Schreiner
In der vergangenen Woche hat die griechische Regierung durch einen gewaltsamen Polizeieinsatz und durch die Anwendung eines Notstandsgesetzes das Ende des U-Bahn-Streiks in Athen erzwungen. Mindestens zehn Arbeiter wurden bei dieser autoritären Missachtung von Streikrecht und Koalitionsfreiheit verletzt. Der Vorgang macht deutlich: Gerade der marktradikale Neoliberalismus braucht den starken Staat, und er schafft ihn sich als repressiven. Wir wissen das mindestens seit Carl Schmitt und Heinrich Brüning - eigentlich....
Dem späteren Haus- und Hof-Juristen der Nazis, Carl Schmitt, wird der berühmte Satz zugeschrieben:
Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.
Schmitt benennt damit in zustimmender Weise einen faktisch richtigen, rechtlich und politisch aber höchst fragwürdigen Umstand: Ein Staat ist dann nach innen souverän, wenn er das Recht nach Belieben außer Kraft setzen kann. Schmitt sprach sich in seiner Arbeit „Die Diktatur“ konsequenterweise für ebendiese Diktatur aus – denn nur eine diktatorische Exekutive könne in Krisenzeiten rasch entscheiden und energisch handeln. So wurde in Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung auf das maßgebliche Drängen Carl Schmitts hin festgelegt, dass der Reichspräsident sowie die Landesregierungen bestimmte Verfassungsartikel außer Kraft setzen und gewaltsam die öffentliche Ordnung wiederherstellen können, „wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird“.
Politisch und rechtlich relevant wurden dieser Artikel und die dahinterstehende Ideologie vor allem mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929. Deutsche Industrieverbände, Arbeitgeber und liberale Intellektuelle interpretierten die Krise nicht in erster Linie als Wirtschafts-, sondern als Staatsschuldenkrise – eine Sichtweise, mit der sie sich durchsetzten. Reichskanzler Heinrich Brüning betrieb als Konsequenz dessen eine massive Kürzungs- und Austeritätspolitik, auch mit massiven Lohn- und Ausgabenkürzungen sowie der Einführung von Schuldenbremsen für alle Gebietskörperschaftsebenen. Diese Politik drückte er unter mehrfachem Rückgriff auf Notstandsgesetze durch. Ihre Folge war eine massive Verschärfung der Wirtschaftskrise: Mehr als sechs Millionen Menschen waren im Februar 1932 im Deutschen Reich arbeitslos gemeldet; mit einer Quote von 44 Prozent hatte das Deutsche Reich damit die weltweit höchste Arbeitslosigkeit. Lange Schlangen von Arbeitslosen, die sich um Lebensmittel anstellten, waren vor allem in Großstädten nichts Ungewöhnliches; die Massen verelendeten. Repressionen gegenüber Streikenden und Protestierenden waren wesentlicher Bestandteil der Regierungspolitik.
Die Parallelen zur Eurokrise im Allgemeinen und zur Situation in Griechenland im Besonderen sind frappierend. Dies gilt auch und gerade, wenn man die Vorkommnisse rund um den Athener U-Bahn-Streik in der vergangenen Woche in den Blick nimmt. Die dortigen Beschäftigten wehren sich gegen drohende Gehaltskürzungen von bis zu 25 Prozent – Gehaltskürzungen, die Teil der Austeritäts- und Kürzungsmaßnahmen der griechischen Regierung sind und denen schon vorher massive Angriffe auf die Rechte der Beschäftigten vorausgegangen waren. Als die Polizei am vergangenen Freitag Vormittag mit 300 Beamten ein besetztes U-Bahn-Depot stürmte, waren die Arbeiterinnen und Arbeiter seit neun Tagen im Streik. Im Zuge des Polizeieinsatzes kam es zu mehreren Festnahmen und, auf Seiten der Streikenden, auch zu Verletzten.
Dem Einsatz vorausgegangen war eine Anordnung der Regierung, die unter Androhung von Festnahmen und auf der Grundlage eines Notstandsgesetzes die U-Bahn-Beschäftigten anwies, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. (Die Gewerkschaften reagierten daraufhin mit einem erfolgreichen Streikaufruf an weitere Beschäftigte des öffentlichen Nahverkehrs.) Seit 1974 wurden in Griechenland solche Anordnungen auf der Grundlage eines Notstandsgesetzes neun Mal erlassen, davon alleine im Rahmen der aktuellen Krise drei Mal – zuletzt eben in der vergangenen Woche gegen die streikenden Beschäftigten der Athener U-Bahnen.
Die griechische Regierung definierte hier einen Ausnahmezustand, in dessen Rahmen sie Grundrechte und Freiheiten suspendierte – mindestens das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Streikrecht, die Koalitionsfreiheit und letztlich sogar die von Liberalen angeblich so hoch geschätzte Vertragsfreiheit. Mitgetragen, das sei an dieser Stelle ausdrücklich erwähnt, von der in Athen mitregierenden Sozialdemokratie.
In solchen Notstandsgesetzen und Ausnahmezuständen kommt eine Form von Herrschaft zum Vorschein, die mit Rechtsstaat und Demokratie wenig, mit (Neo-)Liberalismus aber durchaus einiges zu tun hat. Der sozialdemokratische Jurist Hermann Heller, zunächst freundschaftlich verbundener Kollege und später intellektueller Gegenspieler Carl Schmitts, prägte hierfür den Begriff des „autoritären Liberalismus“. Tatsächlich ist der Liberalismus nämlich, allem Marktradikalismus und aller angeblichen Staatsfeindlichkeit zum Trotz, auf einen starken Staat durchaus angewiesen. Im Kapitalismus wird der Ausnahmezustand nämlich insofern sehr rasch zur Norm, als diese Produktionsweise Krisen, soziale Ungleichheit und Verelendung notwendig und geradezu zyklisch provoziert. Dies gilt besonders für jenen ökonomisch deregulierten Kapitalismus, den Neoliberale anstreben und den sie seit 30 Jahren erfolgreich durchsetzen. Die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung dient vor diesem Hintergrund als Rechtfertigung für Repressionen und die Preisgabe von Grund- und Menschenrechten. Faktisch dient sie der Wahrung von Privilegien und Herrschaftsstrukturen. Während in Athen (nicht nur) den U-Bahn-Beschäftigten Gehaltskürzungen gewaltsam aufgezwungen werden, bleiben die Vermögen, Einkommen und Machtpositionen der politischen und wirtschaftlichen Eliten in Europa unangetastet.
Anders als der traditionelle Liberalismus des 19. Jahrhunderts ist sich der Neoliberalismus des 20. Jahrhunderts der Bedeutung von Ausnahmezuständen und Notstandsgesetzen für den Machterhalt der eigenen Eliten durchaus bewusst. Neoliberale Schriften sind, analog zu Carl Schmitt und oft mit direktem Bezug auf ihn, von einer tiefen Skepsis bis Abneigung gegenüber demokratischer Willensbildung durchzogen. So will Friedrich August von Hayek die Steuerpolitik, also das ureigenste Recht demokratischer Parlamente, der demokratischen Willensbildung weitgehend entziehen. Ähnlich die Ordoliberalen: Walter Eucken führte 1932 die damalige Wirtschaftskrise auf den demokratischen Einfluss der "Massen" zurück. Alexander Rüstow forderte im gleichen Jahr, also kurz vor der Machtübertragung an die Nazis, in Anlehnung an Schmitt einen "starken Staat", ein Außerkraftsetzen der Demokratie, um politische Eingriffe in Marktprozesse zu unterbinden. Ähnliche autoritäre Forderungen nach einem starken Staat finden sich auch bei Wilhelm Röpke und Alfred Müller-Armack, dem späteren Staatssekretär von Ludwig Erhard. Erhard und Müller-Armack werden in liberal-konservativen Kreisen bis heute als die Begründer der "Sozialen Marktwirtschaft" gefeiert.
Ausnahmezustände und Notstandsgesetzgebungen im heutigen autoritären Neoliberalismus nähren sich letztlich aus dieser grundlegenden Skepsis gegenüber demokratischen Verfahren. Sie fügen sich ein in repressive Strukturen und Institutionen, die zu einer Grundeigenschaft moderner neoliberaler Gesellschaften geworden sind, wie Loic Wacquant darlegt:
Will man die historische Anthropologie des Neoliberalismus, wie er sich gegenwärtig in den von ihm maßgeblich erfassten Ländern entwickelt, weiter entfalten, ist zunächst anzuerkennen, dass er ein zentrales Bildungselement der Staatsstruktur ist.[…] [Der neoliberale Staat] spiegelt vor, beides, die Marktkräfte und die Freiheit zu bewahren, behält aber in Wirklichkeit die Segnungen dieser Art von Freiheit den Eliten vor, während er gegenüber den unteren Klassen eine Politik des „bestrafenden Paternalismus“ durchsetzt.
Es scheint paradox und ist doch alles andere als widersprüchlich: Der moderne Neoliberalismus, der sich nach außen so gerne staatskritisch, freiheitsliebend und gegen jegliche Interventionen in die Märkte positioniert, ist auf den starken Staat zur Aufrechterhaltung von Machtstrukturen und Privilegien geradezu angewiesen. Die Angst vor Revolten der Subalternen ist dem neoliberalen Staat mindestens ebenso sehr Existenzberechtigung wie die Durchsetzung „freier“ Märkte.
Die Repressionen gegen die U-Bahn-Beschäftigten in Athen weisen geradezu exemplarisch auf diesen Umstand hin.
Literatur
- Anonym (2013): Polizei stürmt besetztes U-Bahn-Depot in Athen. <http://www.tagesschau.de/wirtschaft/griechenland-streiks116.html> (26.01.2013).
- Anonym (2013): Athens U-Bahnen fahren nach neun Tagen wieder. <http://www.tagesschau.de/wirtschaft/griechenland-streiks118.html> (26.01.2013).
- Harvey, David (2011): A brief History of Neoliberalism. 4. Auflage. Oxford/ New York.
- Hirsch, Joachim (1995): Der nationale Wettbewerbsstaat. Staat, Demokratie und Politik im globalen Kapitalismus. Berlin/ Amsterdam.
- Oberndorfer, Lukas (2012): Die Renaissance des autoritären Liberalismus? Carl Schmitt und der deutsche Neoliberalismus vor dem Hintergrund des Eintritts der „Massen“ in die europäische Politik. In: Prokla 42,3 (2012).
- Ptak, Ralf (2007): Grundlagen des Neoliberalismus. In: Butterwegge, Christoph/ Loesch, Bettina/ Ptak, Ralf (Hg.): Kritik des Neoliberalismus. Wiesbaden. S. 13-85.
- Smith, Helena (2013): Greece breaks up Athens metro strike. <http://www.guardian.co.uk/world/2013/jan/25/greece-athens-metro-strike?CMP=twt_gu> (26.01.2013).
- Wacquant, Loic (2012): Der neoliberale Leviathan. Eine historische Anthropologie des gegenwärtigen Gesellschaftsregimes. In: Prokla 42,4 (2012). S. 677-698.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.