Kürzungen, Sozialabbau und Verelendung – Europa in der Krise
22. April 2013 | Patrick Schreiner
Die handelnden Personen in Berlin und Brüssel scheinen ihrer Sache sicher zu sein: Die Eurokrise, so sagen sie, sei eine Schuldenkrise und müsse daher durch „sparen“ angegangen werden. Doch ein Blick zurück zeigt, dass nicht alles so einfach und eindeutig ist, wie es scheint.
Schauen wir auf das Jahr 1932. Damals erreichte eine globale Rezession ihren Höhepunkt, die durch den Zusammenbruch der New Yorker Börse 1929 ausgelöst wurde. Hunderte Millionen Menschen in aller Welt verloren ihre Existenzgrundlage. Mehr als sechs Millionen Menschen waren im Februar 1932 im Deutschen Reich arbeitslos gemeldet. Mit einer Quote von 44 Prozent war dies die weltweit höchste Arbeitslosigkeit. Die Arbeitslosenunterstützung reichte kaum zu Leben. Lange Schlangen vor Lebensmittel-Ausgabestellen waren vor allem in Großstädten nichts Ungewöhnliches.
Nach dem Ausbruch der Krise 1929 wollte man durch Steuererhöhungen für die Masse der Bevölkerung sowie durch Ausgabenkürzungen einen ausgeglichenen Haushalt herbeiführen. Staatliche Leistungen etwa für Millionen von Arbeitslosen, von Rentnerinnen und Rentnern wurden drastisch gekürzt. Den Beschäftigten wurden Senkungen ihrer Löhne und Gehälter diktiert. Die Folge war ein Verlust volkswirtschaftlicher Nachfrage und ein Zusammenbruch der gesamten Wirtschaft.
Eigentlich sollte man aus dem Jahr 1932 gelernt haben. Und tatsächlich: Nach dem Zweiten Weltkrieg setzten die westlichen Staaten bis in die 1970er Jahre auf strikte Marktregulierung, auf sozialen Ausgleich und auf hohe Löhne. Dies ermöglichte hohe Gewinne, umfangreiche Investitionen und Wachstum und sorgte damit für allgemeinen Wohlstand. Auf Konjunkturschwächen und Wirtschaftskrisen reagierte man gerade nicht mit Kürzungen, sondern erfolgreich mit Lohnsteigerungen und Mehrausgaben.
Davon aber will man heute nichts mehr wissen. Wieder meint man, mit Kürzungen und Sozialabbau aus der Krise zu kommen. Diese Politik wird im Wesentlichen von der EU-Kommission und vom Internationalen Währungsfonds diktiert, genießt aber die tatkräftige Unterstützung (nicht nur) der Bundesregierung.
Wir erleben vor allem in Südeuropa scharfe Angriffe auf die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Einige Beispiele: In Griechenland, Italien, Spanien und Portugal wurde die Verhandlungsposition von Gewerkschaften gegenüber den Arbeitgebern massiv geschwächt und der Kündigungsschutz für Beschäftigte reduziert. In Griechenland, Spanien und Portugal hat man den Mindestlohn gesenkt, am stärksten in Griechenland, dort für Menschen unter 25 Jahren um 32 Prozent. Die Arbeitszeiten wurden zu Gunsten der Arbeitgeber flexibilisiert.
Ziel dieser Maßnahmen war, neben der generellen Stärkung der Arbeitgeberseite, ein Senken des Lohnniveaus. So sind die Reallöhne zwischen 2010 und 2012 in Italien um fast 3 Prozent gesunken, in Portugal um etwa 10 Prozent und in Spanien um mehr als 6 Prozent. Am stärksten sind die Reallöhne in Griechenland zurückgegangen: etwa 20 Prozent.
Schon diese Lohnsenkungen haben äußerst schädliche Folgen, da sie die volkswirtschaftliche Nachfrage und das Verbrauchervertrauen nach unten ziehen. Hinzu kommen europaweit drastische Kürzungen der öffentlichen Haushalte. Die Stichworte „Schuldenbremse“ und „Fiskalpakt“ seien an dieser Stelle genannt. Auch hierdurch sind die Auswirkungen verheerend: Auch öffentliche Ausgaben sind wichtige volkswirtschaftliche Nachfrage.
Die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen der Kürzungspolitik hat man drastisch unterschätzt. Beispiel Griechenland: Noch im Mai 2010 hat die EU-Kommission für das Jahr 2012 einen Rückgang der griechischen Wirtschaftsleistung um 2,6 Prozent prognostiziert. Das war Grundlage des „Reformprogramms“ für Griechenland. Am Ende waren es 7,1 Prozent minus. Kein Wunder, dass die Verschuldung weiter wächst.
Die sozialen Folgen dieser Politik sind erschreckend, können angesichts der Erfahrungen von 1932 aber nicht wirklich überraschen. In Griechenland sind Obdachlosigkeit und Armut geradezu explodiert – obwohl das Land schon vorher eines der ärmsten in Westeuropa war. In Spanien und Griechenland ist die Hälfte der jungen Menschen ohne Arbeit. In Portugal und Italien sind Konjunktur und Arbeitsmarkt auf einem deutlichen Abwärtspfad.
Mit dieser Politik werden ganze Volkswirtschaften und Gesellschaften kaputt gemacht. Und sie trifft letztlich alle Länder. Es werden die Rechte und die Errungenschaften der Beschäftigten in ganz Europa in Frage gestellt. Es ist deshalb richtig, dass die deutschen Gewerkschaften das „soziale Europa“ zu einer der zentralen Forderungen am Tag der Arbeit und in ihren Aktivitäten zur Bundestagswahl gemacht haben.
Dieser Artikel erschien zuerst in der MaiZeitung 2013 der DGB-Region Nord-Ost-Niedersachsen.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.