"Bürgerschaftliches Engagement" statt solide finanzierter öffentlicher Dienstleistungen?
27. Februar 2013 | Patrick Schreiner
Am 1. Februar hat der Bundestag mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP „das Ehrenamt gestärkt.“ Faktisch hat man zwar nur für eine sehr kleine Gruppe Ehrenamtlicher steuerliche Vorteile ausgebaut, doch medial ließ sich dies gleichwohl gut verkaufen. „Ehrenamt“, „bürgerschaftliches Engagement“, das klingt nunmal gut. Wenn Menschen sich engagieren – wer möchte da schon kritisch sein? Doch Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement sind vom zunehmenden Rückbau und Rückzug des Öffentlichen nicht zu trennen.
Das verstärkte politische Interesse am Ehrenamt ist keineswegs neu. Vor etwa 15 Jahren begann in Deutschland eine neue Debatte um die Notwendigkeit und Stärkung von Ehrenamt und bürgerschaftlichem Engagement. (Ich will nicht ausschließen, dass die Debatte älter ist, aber mein persönliches politisches Gedächtnis reicht nicht weiter zurück) Dies war nicht zufällig zugleich die Zeit einer weiteren Schwächung sowohl es Öffentlichen als auch des Sozialstaats; die Zeit von Kürzungen und Einschnitten. Alle drei Entwicklungen gingen dabei Hand in Hand:
- Durch Steuersenkungen, Personalabbau und Ausgabenkürzungen schwächte man Staat und Kommunen finanziell und personell bei der Erfüllung ihrer Aufgaben,
- durch Sozialkürzungen verschärfte man die Lebenssituation einer großen Zahl Menschen, Stichwort Hartz IV und Rentenniveau-Senkung,
- und zugleich forderte man ein stärkeres bürgerschaftliches Engagement als Reaktion auf diesen Rückzug des Staates ein – der berühmte Kennedy-Spruch „Frag nicht, was Dein Land für Dich tun kann, sondern was Du für Dein Land tun kannst!“ erfuhr seine feierliche Wiederauferstehung und neoliberale Wandlung.
Und tatsächlich taten immer mehr Menschen viel für Ihr Land bzw. für ihre Kommune. Landauf, landab wurden öffentliche Dienstleistungen zurückgefahren, und landauf, landab sprangen Menschen mit freizeitlicher Arbeit oder auch durch Geldspenden ein. Bürgerstiftungen wurden gegründet, Fördervereine initiiert und am Feierabend Kindergartenwände gestrichen.
Dies war auch die Zeit der Tafeln. Als SPD und Grüne das soziale Mindestsicherungs-Niveau drastisch nach unten fuhren, schossen Tafeln in immer mehr Städten wie Pilze aus dem Boden. (Das Gerücht, mit der Hartz-Gesetzgebung wollten die damaligen Koalitionäre für gelangweilte Mittelschichtsangehörige Möglichkeiten bürgerschaftlichen Engagements schaffen, dürfte allerdings falsch sein.) Tafeln versorgen Menschen, die nur über ein geringes Einkommen haben, vorwiegend mit Nahrungsmitteln. Damit machen sie in vielen Fällen ein Leben am Existenzminimum erträglicher, in anderen Fällen helfen sie, überhaupt leben zu können. Ein auf den ersten Blick gutes und in jedem Fall gut gemeintes Engagement.
Zu Recht aber gerieten Tafeln in die Kritik. So wies etwa jüngst der Caritasverband Paderborn darauf hin, dass es Tafeln überhaupt erst ermöglichen, dass sich der Staat aus seiner sozialen Verantwortung zurückzieht. Die WAZ schreibt:
Christoph Eikenbusch vom Diözesan-Caritasverband Paderborn stellt die Arbeit der Tafeln, Warenkörbe und Kleiderkammern öffentlich infrage. Indirekt, denn er kritisiert in erster Linie den Staat, der sich im Kampf gegen Armut aus der Verantwortung schleiche und es zulasse, dass die Angebote der Hilfsdienste zu einer Regelversorgung würden. „Die Armutsbekämpfung wird dadurch in den Hintergrund gedrängt“, warnt Eikenbusch. Akuthilfe dürfe aber zu keiner Dauerlösung werden. Letztlich befähige die Arbeit der Hilfsdienste den Staat Âdazu, Mittel zu kürzen und Armut zu zementieren. Ein Veränderungsprozess könne so nicht eingeleitet werden.
Diese Kritik ist nicht neu, dadurch aber nicht weniger zutreffend. Tatsächlich schließen Tafeln und viele andere Bereiche bürgerschaftlichen Engagements Lücken, die Staat und Kommunen beim Rückzug aus ihrer sozialen Verantwortung hinterlassen. Sie ermöglichen dadurch überhaupt erst den neoliberalen Abbau öffentlicher Dienstleistungen und sozialer Solidarität. Sie wollen seine Folgen mildern - und machen ihn doch damit überhaupt erst möglich.
Die im Zitat kritisierte Regelversorgung, die die Tafeln längst übernommen haben, wird auch in vielen anderen Fällen bürgerschaftlichen Engagements befürchtet und diskutiert. Der Weser-Kurier berichtete, dass im niedersächsischen Twistringen die kommunale Bücherei nun von fünf Ehrenamtlichen mitbetrieben wird. Die Befürchtung, dass auch diese „Akuthilfe“ auf Dauer gestellt werden wird, ist bei den Beteiligten zumindest vorhanden.
Welche schaurigen Blüten es treiben kann, wenn bürgerschaftliches Engagement öffentliche Dienstleistungen und sozialstaatliche Absicherung ersetzen sollen, zeigte sich jüngst im niedersächsischen Uslar. Dort wurde - wie der NDR berichtet - das örtliche Schwimmbad 2012 von einem Förderverein übernommen. Der Grund war, wie so oft, dass sich die Kommune das Schwimmbad nicht mehr leisten konnte. Einmal mehr sollten Bürgerinnen und Bürger einspringen.
Dieser Förderverein zieht nun offenbar eine Menge Spenden an – Spenden, die vorher an die örtliche Tafel geflossen sind. Seit Oktober des Jahres verzeichnete die Tafel einen Einbruch der Spenden um 90 Prozent. 1200 Menschen, die bislang von ihr versorgt werden, sind betroffen, wenn die Tafel Ende Februar schließen sollte. Von der überschuldeten Stadt ist keine Hilfe zu erwarten: Im Gegenzug gegen Entlastung bei Kassenkrediten seitens des Landes hat sich die Stadt Uslar verpflichtet, rigoros zu sparen. Die Tafel steht vor dem Aus.
Auf diese Weise kannibalisiert sich das bürgerschaftliche Engagement wechselseitig, wenn es immer mehr Kernaufgaben von Staat und Kommunen übernehmen soll. Ein „Armutszeugnis“, ein Zeugnis für Armut im wahrsten Sinne des Wortes. Und das in einem Deutschland, das nie in seiner Geschichte mehr Wohlstand produzierte als heute.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.