Ethnisierung der Unterschicht. Rassistisches und neoliberales Denken gegen Sozialleistungen
9. Oktober 2013 | Sebastian Friedrich
Die rassistische Unterscheidung zwischen »brauchbaren« und »nutzlosen« Menschen war schon im Kolonialismus ein bewährtes Muster, um die Ausbeute zu steigern. Auch heutzutage wird in Deutschland eine Bewertung von MigrantInnen vorgenommen, bei der das Leistungsprinzip als Messlatte dient.
Anfang März 2013 veröffentlichte die BILD-Zeitung eine Serie zur »Wahrheit über Roma in Deutschland« und behauptete, dass die Kriminalität der Roma steige. Es wurde die Frage gestellt, ob Martin Korol, Abgeordneter der Bremer Bürgerschaft, Recht habe. Der von BILD als »Roma-Kritiker« bezeichnete SPD-Politiker hatte in einer mittlerweile gelöschten Mitteilung auf seiner Homepage geschrieben, er spreche sich gegen die Einwanderung von Roma aus, weil sie ihre minderjährigen Töchter zwangsverheiraten würden, viele junge Männer Klebstoff schnüffeln würden und die Aussicht, dass »sie je zum BSP oder auch nur Rente beitragen« sowieso »gleich Null« sei. Er wolle zwar Roma nicht unter Generalverdacht stellen, aber er fürchte, »dass sie viele Kinder zeugen werden, sich aber für nichts in unserer Gesellschaft verantwortlich zeigen«. Diese Deutung wird bei Korol mit einer »archaischen Welt« begründet, aus der diese Menschen stammen würden.
Nicht erst seit Ausbruch der aktuellen Kapitalismuskrise wird Einwanderung in Deutschland mit sozialpolitischen Fragestellungen kombiniert. Während der »Asyldebatte» vor etwa zwanzig Jahren warnten PolitikerInnen vor »Zuwanderungsströmen« und »Überfremdung«. In den aktuellen Debatten um »Armutsflüchtlinge« wird erneut auf rassistische Begründungen für die Ablehnung von Einwanderung zurückgegriffen.
Selber schuld
Spätestens seit der Debatte um Thilo Sarrazins Buch »Deutschland schafft sich ab«, die im Herbst 2010 begann, wird die Integrationsdebatte eng mit der neoliberalen Debatte um eine »Neue Unterschicht« verknüpft. Zuvor waren vor allem Sozialleistungsabhängige mit »Sesshaftigkeitshintergrund« (Marwa Al-Radwany) in den Blick genommen worden. Als Bibel dieses ursprünglichen Diskurses über die »Unterschicht« gilt das Buch »Generation Reform« (2004) von Paul Nolte, der darin die »Unterschicht« auffordert, sich an einer »bürgerlichen Leitkultur« zu orientieren. Es gehe um ihre »Integration in die Mehrheitsgesellschaft« und die »Vermittlung kultureller Standards und Leitbilder«.
Die vermeintlich minderwertige Kultur der »Unterschicht« steht seitdem im Mittelpunkt der Diskussionen über die Gründe von sozialer Ungleichheit. Produktionsverhältnisse oder wenigstens Verteilungsverhältnisse als Ursache für Armut sind schon lange in den Hintergrund geraten. Ihren Ausdruck findet diese »Ethnisierung der Unterschicht« (Friedrich 2012) in Begriffen wie »migrantische Unterschicht«. Deren Existenz wird im Wesentlichen mit zwei sich teilweise widersprechenden Begründungen erklärt: MigrantInnen (bis hin zu deren Nachkommen in zweiter Generation) seien entweder leistungsunfähig oder aber leistungsunwillig. In beiden Fällen ist klar: Schuld an ihrer sozialen Situation sind die Menschen selbst, entweder wegen ihrer falschen »Kultur« oder aber wegen mangelnder Anstrengungen.
Wie kaum ein anderer steht vor allem Sarrazin für den ersten Strang. Paradigmatisch ist die Aussage Sarrazins in einem Interview mit dem österreichischen Kurier (24.9.2011) gut ein Jahr nach Erscheinen seines Buches »Deutschland schafft sich ab«. Auf die Frage, ob er MuslimInnen für dümmer als andere Einwanderergruppen ansieht, antwortete er: »In meinem Buch führe ich die durchschnittlich niedrigere Bildungsleistung der muslimischen Migranten auf ihren durch den Islam geprägten kulturellen Hintergrund zurück. Die Einstellung zu Bildung und Wissen, Eigenschaften wie Fleiß und Genauigkeit und Pflichtbewusstsein vererben sich kulturell.«
Mit solchen Aussagen ist Sarrazin tief in einen kulturellen Rassismus verstrickt, bei dem nicht das Konzept der »Rasse« Ausgangspunkt für naturalisierenden Rassismus darstellt, sondern ein determinierendes Konzept von »Kultur«. »Kultur« erscheint als quasi-natürliche Eigenschaft von Menschen, die in sich abgeschlossenen »Kulturkreisen« zugeschrieben werden. Basis des antimuslimischen Rassismus ist die Konstruktion einer homogenen Kultur des Islams (siehe Shooman 2011). MuslimInnen (oder solche, die dafür gehalten werden) werden in der Tendenz nicht nur als »unzivilisiert«, »unaufgeklärt« und »fundamentalistisch« gezeichnet, sondern auch als nicht so »leistungsfähig«, weil etwa Bildung in der islamischen Kultur keine große Rolle spiele.
»Nutzlose« und »nützliche« Andere
Durch die ethnisierenden Armutserklärungen wird eine weitere Entwicklung erkennbar: Spätestens seit der Debatte um die Green Card werden MigrantInnen in »nutzlose« und »nützliche« Andere unterschieden. Als nützlich erscheinen etwa »gut ausgebildete Fachkräfte aus dem Ausland«, um die mit Verweis auf die demographische Entwicklung in Deutschland geworben wird. So wurde am 1. August 2012 die Blue-Card-Richtlinie der EU umgesetzt und damit der Zuzug von Fachkräften aus Nicht-EU-Ländern sowie der von Hochqualifizierten erleichtert. Wer als Hochqualifizierter in den ersten drei Jahren allerdings in die Sozialabhängigkeit rutscht, verliert das Daueraufenthaltsrecht. Nicht erwünscht sind »Armuts-« oder »Wirtschaftsflüchtlinge«, was in jüngster Zeit vor allem geringqualifizierte MigrantInnen aus Bulgarien und Rumänien zu spüren bekommen. Im Oktober 2012 forderte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) eine Verschärfung der Regeln für Asylbewerber aus Serbien und Mazedonien, da diese »unser System« ausnutzen würden. Hintergrund war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Aufstockung der Leistungen für AsylbewerberInnen. Gegenüber BILD (13.10.2012) erklärte Friedrich: »Das wird dazu führen, dass die Asylbewerber-Zahlen noch weiter steigen, denn es wird für Wirtschaftsflüchtlinge noch attraktiver zu uns zu kommen und mit Bargeld wieder abzureisen.«
Die Rede von »Wirtschafts-« und »Armutsflüchtlingen« weist auf den Common Sense hin, dass wirtschaftliche Not nicht als legitimer Fluchtgrund angesehen wird. Armut wird nicht als ein strukturelles Problem im globalen Maßstab betrachtet, sondern als individuelles oder kollektives Fehlverhalten. Auf individuelle Schuld an Armut wird verwiesen, wenn Einzelne es nicht geschafft haben, sich aus eigenen Kräften »nach oben« zu arbeiten; auf kollektive, wenn auf eine vermeintliche Unfähigkeit einer Bevölkerungsgruppe verwiesen wird. So wie es jüngst auch der Kölner Kardinal Joachim Meisner tat, als er ähnlich wie Korol gegenüber dem Kölner Stadt-Anzeiger (10.4.2013) die Ansicht vertrat, dass die Bevölkerungsgruppe der Roma aus der Slowakei »in unsere Zivilisation nicht zu integrieren« sei, denn manche Frauen würden jedes Jahr ein Kind bekommen und dann vom Kindergeld leben.
Verknüpft wird der allgemeine Ruf nach »Fachkräften« mit der Forderung nach Sozialstaatsabbau – etwa wenn Gunnar Heinsohn (FAZ, 21.10.2010) argumentiert, dass Deutschland im Wettbewerb um die Hochqualifizierten äußerst ungünstig dastehe, weil EinwanderInnen den Sozialstaat, die ausbildungslosen Jugendlichen und die Renten mitfinanzieren müssten. Heinsohn legt hiermit implizit nahe, dass es gut sei, den Sozialstaat abzubauen, um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Darin zeigt sich der enge Zusammenhang zwischen den als »nützlich« und den als »nutzlos« begriffenen MigrantInnen: Sie werden entlang der Kategorie der ökonomischen Verwertbarkeit sortiert.
Dabei spielt das Kriterium der Leistungsfähigkeit eine zentrale Rolle, wie zahlreiche Verweise auf »Musterbeispiele gelungener Integration« zeigen. Diese eher liberale Position greift weniger auf Naturalisierungen zurück; statt den Abstieg oder die Armut mit kulturellem Rassismus zu begründen, wird vielmehr ein Aufstiegsversprechen durch »Leistung« in den Vordergrund gestellt.
Die liberale Geste ist jedoch nur an junge MigrantInnen mit »idealem« Lebenslauf gerichtet. Der Erfolg der als »integriert« Begriffenen bildet dabei den Beweis dafür, dass man »es« eben doch schaffen kann, wenn man sich richtig anstrengt. Gleichzeitig werden sie zu Ausnahmefiguren stilisiert, die einer Masse von Menschen gegenüberstehen, die eben nicht diesem Ideal entsprechen.
Justierungen des Rassismus
Auf den ersten Blick mag dieser liberalen Position etwas Positives abgewonnen werden, da MigrantInnen scheinbar weniger aufgrund ihrer »ethnischen« Herkunft sortiert werden, sondern die individuelle »Leistung« im Vordergrund steht. Das rassistische Wissen wird allerdings nicht durch den Leistungsdiskurs verdrängt, sondern verschränkt sich vielmehr mit diesem. Dabei geht die herkömmliche Trennung zwischen »Wir« und »Sie« mit einer Spaltung der »Anderen« in zwei Gruppen einher. Auf der einen Seite stehen »Musterbeispiele gelungener Integration«, auf der anderen »Integrationsverweigerer« (Friedrich/ Schultes 2011). Allerdings bleiben auch die positiven Beispiele »andere Andere«. Sie werden nicht als »deutsche Leistungsträger« angesehen, sondern als MigrantInnen, die sich durch ihre Leistung und dem daraus resultierenden gesellschaftlichen Beitrag (besonders in Form von Steuerzahlungen) das »In-Deutschland-leben-Dürfen« verdient haben.
Die virulente »Ethnisierung der Unterschicht« stützt rassistische Deutungsmuster. Sie hat unter anderem zur Folge, dass im gesellschaftlichen Diskurs der strukturelle Rassismus als eine mögliche Erklärung für die tatsächliche soziale Marginalisierung von MigrantInnen und ihren Kindern ausscheidet.
Literatur
- Sebastian Friedrich/ Hannah Schultes (2011): Von ›Musterbeispielen‹ und ›Integrationsverweigerern‹. Repräsentationen von Migrant_innen in der ›Sarrazindebatte‹. In: Sebastian Friedrich (Hg.): Rassismus in der Leistungsgesellschaft. Münster. S. 77-95.
- Sebastian Friedrich (2012): Die diskursive Erschaffung des ‘nutzlosen Anderen’. Zur Verschränkung von Einwanderungs- und Unterschichtendiskurs. In: Margarete Jäger / Heiko Kaufmann (Hg.): Skandal und doch normal. Münster. S. 96-111.
- Paul Nolte (2004): Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik. München.
- Yasemin Shooman (2011): Keine Frage des Glaubens. Zur Rassifizierung von ‚Kultur‘ und ‚Religion‘ im antimuslimischen Rassismus. In: Sebastian Friedrich, (Hg.) s.o., S. 59-76.
Dieser Text erschien zuerst in iz3w Ausgabe Juli/August 2013. Ich danke für die Genehmigung zur Übernahme des Textes. Er ist von der CC-Lizenz gemäß Impressum ausgeschlossen; das Zitieren und das Verlinken des Textes ist erlaubt, nicht aber das Vervielfältigen/Kopieren.
Sebastian Friedrich ist Journalist und Publizist aus Hamburg. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Sozialstaatsdiskurse, Neue Rechte, AfD, Kritische Soziale Arbeit, Diskursanalyse sowie Klassenanalyse. Als @formelfriedrich twittert er regelmäßig. Seine Homepage: sebastian-friedrich.net.