Krise in Griechenland: Das Scheitern der Prognosen von EU und IWF
26. März 2012 | Patrick Schreiner
Aktuell werden die wiederholt nicht ausgeglichenen öffentlichen Haushalte in Griechenland und damit verbunden die notwendigen "Hilfspakete" (Kredite) von Euro-Staaten und IWF zum Vorwand genommen, um immer wieder über vermeintlich freigiebige und finanziell inkompetente Griechen zu schimpfen. Dass die Inkompetenz und die Gründe für die griechischen Haushaltsdefizite möglicherweise ganz woanders zu finden sind, wird hingegen nicht reflektiert. Dabei würde ein schlichter Blick in die das "Anpassungsprogramm" der Europäischen Union und des IWF genügen, um zu erkennen: Ein Großteil des aktuellen Defizits ist darauf zurückzuführen, dass man das Ausmaß des Wirtschaftseinbruchs in Griechenland deutlich unterschätzt hatte. Dies lässt sich recht einfach durch einen Vergleich des Anpassungsprogramms mit seinen Revisionen und mit den Ist-Werten darstellen.
Wenn ein Staat seine Ausgaben stark zurückführt, hat dies negative Auswirkungen auf Konjunktur und wirtschaftliche Entwicklung. Der Staat kann sich aus der Krise nicht heraussparen - es sei denn auf Kosten anderer Volkswirtschaften. Dafür gibt es mehrere Gründe, die beiden wichtigsten sind wohl die folgenden:
1. Wenn die öffentlichen Haushalte Ausgaben kürzen, so bricht staatliche Nachfrage weg. Da die öffentliche Hand aus volkswirtschaftlicher Perspektive ein großer und wichtiger Nachfrager ist, wirkt der Einbruch der staatlichen Nachfrage gerade in Krisenzeiten wachstumshemmend.
2. Wird die staatliche Umverteilung von wohlhabenderen zu ärmeren Menschen eingeschränkt, so ergibt sich ein zusätzlicher Rückgang der Nachfrage, der das Wachstum gefährdet – denn die Nachfrage durch Wohlhabende ist aufgrund einer höheren Sparquote relativ geringer als die Nachfrage durch ärmere Menschen.
Genau ein solcher durch Kürzungen öffentlicher Ausgaben provozierter Einbruch der Wirtschaft war und ist in Griechenland zu beobachten. In einem gewissen Umfang haben dies die EU-Kommission und der IWF sogar durchaus vorhergesehen und eingeplant. Im Mai 2010 haben sie ein Anpassungsprogramm für Griechenland entworfen, das Annahmen hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung getroffen und davon ausgehend Maßnahmen zur Reduktion des griechischen Haushaltsdefizits entworfen hat. Wie die folgende Grafik zeigt, sind EU und IWF dabei von einem Einbruch des Bruttoinlandsprodukts um 2,6 Prozent im Jahr 2011 ausgegangen:
BIP-Wachstums-Prognose der EU-Kommission für Griechenland (für 2011 und 2012 in Prozent, Quelle: Anpassungsprogramm und Revisionen für Griechenland)
Allerdings blieb diese Prognose weit hinter dem Einbruch der Wirtschaft zurück, der dann tatsächlich folgte. Offensichtlich haben IWF und EU die Auswirkungen einer drastischen Kürzungspolitik massiv unterschätzt. Im Zuge der zweiten Revision im Dezember 2010 hat die EU-Kommission ihre Prognose für das Jahr 2011 zunächst auf einen Einbruch von 3,0 Prozent erhöht. Dies war angesichts der Entwicklung, die sich schon damals abzeichnete, eine eher vorsichtige Prognose. Entsprechend waren weitere Revisionen notwendig: im Juli 2011 ging man schon von 3,8 Prozent aus, im Oktober 2011 dann von 5,5 Prozent. Der tatsächliche Wert war schließlich mit 6,8 Prozent nochmals deutlich höher. Insgesamt ist damit die griechische Wirtschaft seit 2008 um ein Fünftel eingebrochen.
In ihren Revisionen waren IWF und EU äußerst zurückhaltend. Wie ein Verdächtiger im Polizeiverhör scheinen sie im Zeitverlauf stets nur so viel vom eigenen Verfehlen zugegeben zu haben, wie nicht mehr zu leugnen war. Dafür spricht auch, dass man noch im Juli 2011 für das Jahr 2012 ein positives Wachstum behauptet hat. Ein deutlicher, aber letztlich nicht mehr zu verweigernder Realismus ist hier erst im Oktober 2011 eingekehrt: In der fünften Revision des Anpassungsprogramms hat man die Wachstumsprognose für 2012 auf fast minus drei Prozent mehr als deutlich reduziert. Ob dies allerdings reichen wird, dürfte fraglich sein.
Aber zurück zum Jahr 2011. Wenn ein Anpassungsprogramm entworfen wird, das auf einem Einbruch der Wirtschaftsleistung um "nur" 2,6 Prozent beruht, dann führt ein tatsächlicher Einbruch um 6,8 Prozent zu massiven Problemen. Zu zusätzlichen sozialen Problemen sowieso, wie wir in Griechenland beobachten können und müssen. Es führt aber eben auch zu einem massiven Einbruch der Staatseinnahmen und einem massiven Anstieg der Staatsausgaben. Auch hier lagen EU und IWF mit ihren Prognosen deutlich daneben, wie die folgende Grafik 2 für die Staatseinnahmen zeigt. Hier ist zu sehen, welche Einnahmen der IWF und die EU den Griechen für die Jahre 2011 und 2012 vorhergesagt haben:
Staatseinnahmen-Prognose der EU-Kommission für Griechenland (für 2011 und 2012 in Mrd. Euro, Quelle: Anpassungsprogramm und Revisionen für Griechenland)
Endgültige Werte liegen hierzu zwar noch nicht vor, aber aussagekräftig sind diese Zahlen doch: Der Einbruch der Wirtschaft, durch drastische Kürzungen provoziert, führt zu einem ebenso drastischen Einbruch der geschätzten und kalkulierten Einnahmen. Hatten EU und IWF für 2011 und für 2012 zunächst noch Einnahmen von jeweils über 98 Mrd. Euro vorhergesagt, so gingen sie in ihrer fünften Revision gerade mal noch von 90 Mrd. Euro aus. (Ein Rätsel ist die Prognose für 2012 in der vierten Revision, in der man trotz nach unten korrigierter Wachstumsschätzung höhere Einnahmen vorhersagte, verglichen mit den Werten der zweiten Revision.)
Die Reduktion der geschätzten und kalkulierten Einnahmen beträgt etwa acht Mrd. Euro pro Jahr, die gegenüber den Planungen des Anpassungsprogramms fehlen. Addiert man hierzu die (schwieriger zu schätzenden) zusätzlichen Ausgaben, so wird deutlich, was der Hauptgrund für das wiederholte Verfehlen der Vorgaben zur Reduzierung des griechischen Haushaltsdefizits ist: Eine kontraproduktive Finanzpolitik und das Versagen von EU und IWF beim Entwerfen eines funktionierenden Reformprogramms für das Land.
Am Beispiel Deutschland hätte man übrigens zumindest in Ansätzen erkennen können, dass ein Staat sich aus der Krise nicht herauskürzen kann. Deutschland hat eine Phase hinter sich, in der durch massive Kürzungen auf der Ausgabenseite versucht wurde, das Haushaltsdefizit abzubauen. Gemeint sind die Jahre 2001 bis 2005 – eine wirtschaftlich schwache Phase, die nur durch einen dann einsetzenden, exportgetriebenen Aufschwung beendet wurde. Die damalige rot-grüne Bundesregierung versuchte verzweifelt, durch eine sehr restriktive Ausgabenpolitik die vom Stabilitäts- und Wachstumspakt der Europäischen Union vorgegebene Defizitgrenze von maximal 3,0 Prozent des Bruttoinlandsprodukts einzuhalten.
Das Ergebnis war mehr als verheerend: Das jährliche Wachstum des Bruttoinlandsprodukts erreichte für einen Fünf-Jahres-Zeitraum historisch schlechte Werte. Aufgrund der wegbrechenden Steuereinnahmen konnte die Euro-Defizitgrenze ab 2002 vier Jahre in Folge nicht eingehalten werden. Die Schuldenstandsquote aber stieg auf einen damaligen neuen Höchstwert. Der Versuch, sich aus Schulden „herauszusparen“, ist damals gescheitert. Genauso, wie er heute in Griechenland scheitert. Mit dem Unterschied allerdings, dass das Ausmaß der Kürzungen und entsprechend der sozialen und wirtschaftlichen Verheerungen in Griechenland heute um ein Vielfaches größer ist.
Quellen:
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.