Dokumentation
Anmerkungen der gewerkschaftlichen Vertreter zur Enquete „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität"
15. April 2013 | Redaktion
In der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" waren mit Dietmar Hexel (Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstands des DGB) und Norbert Reuter (Mitarbeiter im Bereich Wirtschaftspolitik beim ver.di Bundesvorstand) zwei Gewerkschafter vertreten. Beide haben anlässlich der heutigen Präsentation des Abschlussberichts der Kommission persönliche "Anmerkungen der gewerkschaftlichen Vertreter zum Abschluss der Enquete 'Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität'" veröffentlicht, in denen sie ein kritisches Fazit ziehen. Ich dokumentiere ihre Erklärung im Folgenden.
„It’s the society, stupid!“
Die nötigen Veränderungen der Gesellschaft und Wirtschaft zu mehr Lebensqualität und Wohlstand durch nachhaltiges Handeln ist ein Vorhaben, das sich über mehrere Generationen erstreckt. Jede Veränderung dieser Größenordnung bringt Unsicherheiten mit sich und führt teilweise auch zu verständlichen Widerständen. Die Probleme der Energiewende sind dafür ein aktuelles Beispiel. Nur wenn nachhaltiges Wirtschaften nicht als Entbehrung oder Bedrohung, sondern als Gewinn für Wohlstand und Lebensqualität empfunden wird, gelingt die nötige Transformation.
Der Mensch, der Teil der Natur und ein soziales Wesen ist, will sich nicht fragÂwürdigen ökonomischen Zielen unterordnen, sondern über Fortschritt und vor allem soziale Innovationen selbst entscheiden und ein Gutes Leben für alle verwirklichen. Diese Sichtweise leitet auch das Handeln der Gewerkschaften.
Der Wandel vollzieht sich auf der Produktions- wie auf der Konsumentenseite und ist eingebettet und flankiert in kulturelle, soziale und gesetzliche Normen. Die Grenzen unseres Planeten müssen anerkannt werden, gleichzeitig Gute Arbeit und existenzsichere Arbeitsplätze gewährleistet sein, wenn eine nachhaltige Veränderung gelingen soll. Das klarzumachen war für uns in der Enquete schwierig. Die sozialen Aspekte der Transformation wurden eher als Nebenschauplatz betrachtet und Ökonomie und Ökologie in den Vordergrund gerückt. Doch ohne die Gewährleistung des „Sozialen“ wird Ökonomie schädlich und Ökologie sinnlos für die Menschen. Soziale Leitplanken sind ein zentrales Handlungsfeld und Voraussetzung für Akzeptanz beim Gelingen der nötigen Veränderungen.
Gedämpfte Wachstumsaussichten
Das bloße Setzen auf „Wachstum“ bringt keine Lösung. Eine Rückkehr zu hohen Wachstumsraten in Deutschland und Europa wird es aller Voraussicht nach nicht mehr geben. In allen entwickelten Volkswirtschaften ist seit mehreren Dekaden ein Trend abnehmender Wachstumsraten zu beobachten. Zudem zeigen Projektionen, dass unter realistischen Annahmen allein aus demografischen Gründen bis 2060 (bis dahin geht die amtliche Bevölkerungsvorausberechnung) nur noch mit WachstumsÂraten von unter einem Prozent zu rechnen ist (vgl. Sondervotum PG1, Drs. 17(26) 84). Dabei ist unterstellt, dass der Produktivitätsfortschritt auf dem Niveau der letzten 20 Jahre bleibt und nicht weiter absinkt. Niedrige bzw. weiter zurückgehende Wachstumsraten des BIP bedeuten aber keineswegs, dass keine Lohnsteigerungen mehr möglich sind oder Kürzungen im Sozialbereich unabwendbar werden: trotz niedriger Wachstumsraten des BIP ist – bei anhaltendem Produktivitätsanstieg und gleichzeitig zurückgehender Bevölkerung – von einem weiterhin deutlich steigenden Pro-Kopf-Einkommen auszugehen (vgl. Sondervotum PG, Drs. 17(26) 84).
Wachstum ist Mittel statt Ziel
Unreguliertes und unqualifiziertes Wachstum ist kein Problemlöser, sondern erweist sich zunehmend als Problem einer „guten“ sozial-ökologischen Entwicklung. Lebensqualität und Wohlstand koppelt sich in entwickelten Industriegesellschaften zunehmend vom Wachstum ab, die negativen Begleiterscheinungen des Wachstums nehmen zu: der Raubbau an natürlichen Ressourcen, Klimawandel, Erosion der Biodiversität, schlechte Arbeitsbedingungen, sowie stark zunehmende VerteilungsÂungerechtigkeiten bei Einkommen und Vermögen verbunden mit einer sich ausweitenden Armut breiter Bevölkerungsschichten. Im Ergebnis wird es notwendig, diesen Entwicklungspfad zu verlassen, wenn statt Spaltung der Gesellschaft und Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen Wohlstand und Lebensqualität für alle Menschen erreicht werden soll.
Die Mehrheit der Koalition in der Enquete sieht Wachstum allerdings nach wie vor als universellen Problemlöser. Demgegenüber hat die Opposition in ihren Sondervoten klargestellt, dass die Fixierung der Wirtschaftspolitik auf das BIP-Wachstum durch eine Konzentration auf die Verwirklichung konkreter, im demokratischen Prozess gesetzter Ziele (etwa Vollbeschäftigung, Zurückführung der Konzentration von Einkommen und Vermögen, konkrete Umwelt- und Ressourcenziele zur Rückführung der Umweltbelastung und Senkung des Ressourceneinsatzes) abgelöst werden muss.
Grundprinzip Ausbeutung und Beschleunigung beenden
Ein dominantes Grundprinzip unserer Wirtschaftsweise ist nach wie vor die Ausbeutung von Natur und menschlichen Fähigkeiten, soweit sie nicht durch erreichte Gesetze, Regeln und Tarifverträge gestoppt wurde. Selbst in unserem reichen Land nimmt die Armut zu, viele Beschäftigungsverhältnisse sind prekär und ungesichert. Die Beschleunigung im Alltagsleben sowohl am Arbeitsplatz wie in der Freizeit ist enorm. Die seelischen Erkrankungen nehmen zu. Wir sind an einem Punkt angelangt, wo die Vorteile unserer Wirtschaftsweise von den Nachteilen überÂwogen werden. Die Transformation muss deshalb eine Abkehr vom Grundprinzip der ungezügelten Verwertung und Ausbeutung sein. Das Denken in Kreisläufen, wie es uns die Natur vormacht, stellt das nötige Paradigma dar.
Dieser Gedanke taucht im Bericht der Enquete vor allem im Kontext unseres Umgangs mit der Natur auf. Deutliche Anstrengungen waren nötig, um die zuÂnehmende Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Beschäftigten zu thematisieren, etwa durch den Hinweis auf einen zunehmend „schlechten“ Produktivitätszuwachs (im Sondervotum der Opposition zur PG 1, Drs. 17(26) 84).
„Guten“ Produktivitätsfortschritt sichern
Weil die Zahl der erwerbsfähigen Menschen abnimmt, kommt dem ProduktivitätsÂfortschritt eine zentrale Bedeutung zu, um Wohlstand und Lebensqualität zu sichern. Viele Indikatoren (DGB-Index „Gute Arbeit“, Zunahme Burnouts etc.) sprechen dafür, dass dieser Zuwachs bereits in der Vergangenheit zunehmend auf einem „schlechten“ Produktivitätszuwachs (beruhend auf Lohndumping, Zunahme unÂbezahlter Mehrarbeit, höherem Leistungsdruck, weniger Pausen, Leiharbeit, WerkÂverträge etc.) beruhte. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, ist eine Reform der Arbeitsbeziehungen und der Arbeitsmarktpolitik notwendig. Das Problem kann nicht alleine oder vorwiegend bei der Bundesagentur abgeladen werden, die ihre Strategie und ihre Strukturen angesichts der grundlegenden Veränderungen auch anpassen muss. Unternehmen müssen sich viel stärker als bisher um PersonalÂgewinnung, -entwicklung und -bindung kümmern. Vor allem ist für mehr LebensÂqualität und Wohlstand nötig, die Gleichstellung von Leiharbeit und Werkverträgen („Equal Pay“) zu den Stammbelegschaften zu regeln. Mit einem gesetzlichen Mindestlohn muss der Ausbeutung von Menschen ein Riegel vorgeschoben werden. Um dem Zeitwohlstand als zunehmend wichtige Komponente von Lebensqualität eine höhere Bedeutung zu verschaffen, ist die Lage und Länge der Arbeitszeit, die Beziehung zwischen Arbeits- und Freizeit und vor allem die Zeitflexibilität während des ganzen Berufslebens zu diskutieren. Zeiten von latenter Arbeitslosigkeit müssen zur Qualifizierung und persönlichen Weiterentwicklung abgesichert zur Verfügung stehen.
Verteilungsprobleme lösen
In Deutschland haben sich die Verteilungsungerechtigkeiten in den letzten Jahren zugespitzt (sinkende Lohnquote, extreme Vermögenskonzentration bei einem sehr kleinen Prozentsatz der Haushalte, während die ärmsten zwanzig Prozent der HausÂhalte verschuldet sind). Die Verteilungsprobleme nehmen weltweit, aber auch in Deutschland weiter zu. Diese Sachverhalte finden sich nur in den Sondervoten der Opposition wieder, die Regierungskoalition klammert diesen Tatbestand aus. Dies gilt für das Steuerrecht (siehe die steuerlichen Maßnahmen im Sondervotum der Opposition zur „Zukunftsfähigen Finanzpolitik“, Drs. 17(26) 95 ab S. 61), für die Frage der Finanzierung der Sozialversicherungen (dito und Sondervotum der Opposition zur PG1, Drs. 17(26) 84), aber auch hinsichtlich der Verteilung des vorÂhandenen und im Trend sinkenden Arbeitsvolumens.
Die Diagnose zunehmender Verteilungsungerechtigkeiten und daraus resultierender Regulierungsanforderungen wurde von der Mehrheit der Kommission kategorisch zurückgewiesen. Stattdessen wurde das „segenreiche“ Wirken möglichst unÂregulierter Marktkräfte betont. Angesichts der „multiplen Krisen“, die derzeit Europa und die Welt in Atem halten, halten die deutschen Gewerkschaften eine solche Sichtweise für brandgefährlich.
Gesellschaftliche Krise ignoriert
Demokratie, Politik und auch die Soziale Marktwirtschaft befinden sich in einer schweren Glaubwürdigkeitskrise. Über zwei Drittel der Deutschen haben Zweifel daran, dass ihre Lebensqualität steigt, wenn die Wirtschaft wächst. Die meisten haben den Eindruck, dass das System nur noch wenigen dient. Diese schwere gesellschaftliche Krise wurde in der Enquete aufgrund des Beharrens der Koalition nicht thematisiert. Die Mehrheit erweckte den Eindruck, dass man, abgesehen von marginalen Änderungen, im Grunde so weiter machen könne wie bisher und man auf die Selbstheilungskräfte des Marktes vertrauen könne. Eine aus unserer Sicht gefährliche Realitätsverweigerung. Wir haben es mit Brüchen, nicht mit Anpassungsmaßnahmen zu tun.
Kontroverse um Regulierung und Ordnungspolitik
Aufgrund der unterschiedlichen Diagnose der Entwicklung ergab sich auch eine nicht aufzulösende Kontroverse in der Enquete im Hinblick auf die nötigen Konsequenzen und politischen Handlungsnotwendigkeiten. Selbst moderate Vorschläge der Opposition für Regulierungen, beispielsweise im Bereich des Ressourcenverbrauchs, wurden von der Koalition mit dem Vorwurf entgegnet, man wolle einen „Nanny-Staat“ (Sondervotum MdB Meierhofer, Drs. 17(26)113) oder habe ein obrigkeitsstaatliches Verständnis.
In der Projektgruppe 3 (Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch) hat die Koalitionsmehrheit faktisch keinen einzigen konkreten Handlungsvorschlag an den Bundestag zugelassen. Das stößt deshalb auf unser Unverständnis, weil eine gut gemachte Ordnungspolitik vielfach hervorragende Erfolge vorweisen kann, umÂgekehrt aber rein marktbasierte Mechanismen oft genug bewiesen haben, dass sie nicht in der Lage sind, gesellschaftlich und politisch gewollte Zielsetzungen zu erreichen. Der „blaue Himmel über der Ruhr“, den Willy Brandt 1961 forderte und der heute Wirklichkeit ist, wäre ohne entsprechende Regulierungen im Umweltrecht nie möglich gewesen. Selbst der Vertreter des Verbandes der Chemischen Industrie, Dr. Gerd Romanowski, hat in einer Anhörung der Enquete eingeräumt, dass das „anspruchsvolle Ordnungsrecht“ der Bundesrepublik „erfolgreich gewesen“ sei (Protokoll 17/24). Vor diesem Hintergrund wirkte die durchgängige Weigerung der Koalition, vernünftige Regulierungen – auch in vertretbaren Rahmen einer PionierÂleistung - zu beschreiben, wie aus der Zeit gefallen.
Rückstand zur gesellschaftlichen Diskussion
Ãœberraschenderweise haben die Diskussionen in der Enquete vielfach einen beachtlichen Rückstand gegenüber der Zivilgesellschaft erkennen lassen. Während beispielsweise Neoliberalismus und Marktgläubigkeit in der Gesellschaft längst diskreditiert sind, wurden sie von Teilen der Enquete geradezu mit Leidenschaft verÂteidigt. Vielfach war das Beharren auf neoliberalen Grundsätzen nur noch mit einer starren ideologischen Fixierung zu erklären. Glaubenssätze können jedoch an Fakten und Naturgesetzen nichts ändern.
Grad der Konkretisierung
Die Gewerkschaften haben in ihrer täglichen Arbeit einen sehr starken Praxisbezug. Alles was wir tun und vorschlagen muss sich in der Arbeits- und Lebenswelt unserer Mitglieder bewähren. Wir sind es gewohnt, dass unsere Vorschläge stets konkret, praktikabel und lebensnah sein müssen. Mit dieser Haltung sind wir auch in die Enquete gegangen. Unser Ziel war es, dem Bundestag sehr konkrete und umÂsetzbare Handlungsempfehlungen vorzulegen. Das war auch Auftrag des Einsetzungsbeschlusses. In diesem Punkt ist die Enquete jedoch weitgehend gescheitert. Lediglich das Indikatorenmodell im Mehrheitsbericht und die vielfältigen und zum Teil sehr umfangreichen Minderheitenvoten der Opposition zu den einzelnen Projektgruppen enthalten konkrete Handlungsempfehlungen. Ansonsten sucht man diese vergebens. Der Mehrheitsbericht der Enquete beschränkt sich darauf, den Status quo zu referieren und entweder gar keine HandlungsÂempfehlungen abzugeben, auf die Stärkung der Marktkräfte zu setzen oder auf Akteure außerhalb des Bundestages (wie z.B. internationale Organisationen oder Regierungskonferenzen) zu verweisen. Das hat uns als Gewerkschaftsvertreter besonders enttäuscht.
Es sind große Zweifel angebracht, ob aus dieser Enquete überhaupt irgendeine praktische Konsequenz erwachsen wird. Natürlich gibt es stets mehrere „WahrÂheiten“. Doch ganz sicher ist, dass wir jetzt handeln müssen und wir es mit einem Bruch der jahrzehntelang gewohnten Praxis zu tun haben, wenn Nachhaltigkeit und Lebensqualität keine leeren Schlagworte bleiben sollen.
Allgemein bleibt bei uns der Eindruck, dass Chancen der Enquete nicht genutzt wurden und von der Enquete keine richtungsweisenden Impulse ausgehen. Ob dies durch die verschiedenen Sondervoten passieren wird, bleibt abzuwarten. Ansonsten ist zu befürchten, dass schon nach kurzer Zeit sich im Parlament – wie auch in der Enquete geschehen - ein „business as usual“ durchsetzt und der Lösungsraum der massiven sozialen und ökologischen Herausforderungen kleiner wird, mit allen nicht wünschenswerten sozialen Folgen. Trotz aller Enttäuschung freuen wir uns, dass einzelne Mitglieder der Enquete über Fraktionsgrenzen bereit waren, die sozialen Fragen anzuerkennen und sich um einen Dialog bemüht haben.