Italien in der Krise
4. Juni 2013 | Umberto Bettarini
Auch Italien steckt in der Krise. Das zurückliegende Jahr war für das Land eines der schwierigsten seit Beginn der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise. Das soziale Elend nimmt zu. Von den Jahren 2008-2009 abgesehen, waren die Wirtschaftsdaten 2012 die bislang schlechtesten. Auch 2013 scheint sich die Situation nicht zu verbessern. Der Internationale Währungsfonds prognostiziert für 2013 mit einem Rückgang von 1,9 Prozent erneut ein sinkendes Bruttoinlandsprodukt (BIP). Eine Erholung erwartet er nicht vor Ende 2014.
Die Krise hat verheerende wirtschaftliche Auswirkungen für das Land. Seit 2005 ist die Industrieproduktion um 18,5 Prozent zurückgegangen. Dieser Prozess hat sich 2012 deutlich beschleunigt, es ist ein weiterer Rückgang um 6,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu erwarten. Von dieser Entwicklung sind quasi alle Produktionssektoren erfasst. In einigen Fällen ist die Situation so gravierend, dass der Verlust ganzer Produktionsketten zu befürchten ist.
Hier ist besonders die Aluminiumproduktion auf Sardinien zu nennen, wo Unternehmen wie Alcoa und Eurallumina ihre gesamte Produktion aufgeben. Zu nennen ist auch die Stahlproduktion, bei der derzeit ökonomische Probleme mit gravierenden Überschreitungen von Gesetzen zum Schutz von Umwelt und Gesundheit durch einige skrupellose Unternehmen einhergehen. Letzteres hat im Fall des Unternehmens ILVA die Behörden gezwungen, die Schließung von Produktionsanlagen in Taranto zu verlangen. 11.000 Arbeiterinnen und Arbeitern droht hierdurch die Arbeitslosigkeit.
Solche wirtschaftlichen Schwierigkeiten gerade in einem strategischen Sektor wie der Stahlproduktion verschlimmern die Situation der gesamten italienischen Volkswirtschaft. Sie führen zu einer Zunahme der Importe und zu einem Anstieg der Kosten für die Versorgung mit Rohstoffen. Allerdings ist die Stahlindustrie nicht der einzige Sektor, der die Auswirkungen der Krise spürt. Auch Branchen wie die Herstellung von Textilien und Möbeln, die Italien immer geprägt haben, sind in Schwierigkeiten. Vor zehn Jahren hatte letztere noch einen Anteil von 16 Prozent des Weltmarkts, seither ist die Produktion von Möbeln um 80 Prozent eingebrochen.
Am stärksten von der Krise betroffen sind jene Unternehmen, die in erster Linie für den heimischen Markt produzieren. Während der Export gegenüber 2007 insgesamt eher verhalten rückläufig ist, bricht die Binnennachfrage drastisch ein. Dafür gibt es zwei wesentliche Gründe: Erstens den Anstieg der Arbeitslosigkeit und zweitens die höhere Inanspruchnahme von Sozialleistungen; beides reduziert die Kaufkraft der betroffenen Haushalte deutlich und führt zu einer Reduktion des privaten Konsums. Dieser lag im Januar 2013 nach einer Schätzung des Unternehmensverbands Confcommercio um 2,4 Prozent unter dem Vorjahreswert.
Zwei weitere Punkte sind an dieser Stelle hinzuzufügen: Die übermäßige steuerliche Belastung von Unternehmen wie auch von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie die enormen Liquiditätsprobleme der Betriebe. Erstere führt zunehmend zur Verlagerung nicht nur von Produktions-, sondern auch von Verwaltungsstandorten, um auf diese Weise Steuern zu sparen und wettbewerbsfähig zu bleiben. Dies führt wiederum zu einer weiteren Reduktion der Beschäftigung in Italien. Ein Grund für den zweitgenannten Punkt, für den schwierigen Zugang der Unternehmen zu Krediten, ist die Finanzkrise. Hinzu kommt allerdings auch, dass die italienische Regierung den Unternehmen insgesamt 40 Mrd. Euro schuldet. Dies blockiert Produktionskapazitäten auch in jenen Unternehmen, die eigentlich gut am Markt etabliert sind, die aber nicht die finanziellen Mittel haben, um Aufträge anzunehmen.
All diese Probleme führten insgesamt zu einem Rückgang des BIP um 10 Prozent seit 2007 und zum Verschwinden von mehr als 30.000 Unternehmen zwischen 2009 und 2011. Dies sind katastrophale Zustände mit negativen Auswirkungen vor allem auch auf die Beschäftigungszahlen und auf die Kaufkraft der privaten Haushalte.
Die Krise und die Arbeitswelt - ein soziales Drama
Alle oben beschriebenen Entwicklungen haben negative Auswirkungen auf die Situation der Beschäftigten. Im vierten Quartal 2012 hat die Arbeitslosigkeit mit einem landesweiten Durchschnitt von 11,2 Prozent ein sehr hohes Niveau erreicht. Auf regionaler Ebene schwankt dieser Wert sehr stark, in Süditalien erreicht er bis zu 18 Prozent. Besonders betroffen sind junge Menschen, unter denen die Arbeitslosigkeit im eben genannten Quartal landesweit 36,9 Prozent betrug. Dies sind erschreckende Werte, die eine stagnierende Wirtschaft anzeigen, der es nicht mehr gelingt, neue Arbeitsplätze für die jungen Generationen zu schaffen.
Bei den Beschäftigungszahlen lassen sich deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede feststellen. Während seit Anfang 2008 bis heute die Beschäftigungsquote der Männer deutlich gesunken ist (minus 4,5 Prozent), ist die der Frauen unverändert geblieben. Dies erklärt sich dadurch, dass in den von der Krise betroffenen Branchen - insbesondere Maschinenbau, Eisen und Stahl sowie der Bausektor - die Beschäftigung gerade von Männern sehr hoch ist. Auf der anderen Seite führt der Kaufkraftverlust der Privathaushalte dazu, dass verstärkt Frauen eine Arbeit aufnehmen und so das Familieneinkommen erhöhen. Insgesamt wirkt diese Entwicklung in Richtung einer Angleichung der Beschäftigungsquoten von Männern und Frauen, allerdings auf niedrigem Niveau.
Schon diese ersten Zahlen zeigen, dass die Krise die Beschäftigten massiv trifft. Eine Analyse der Arbeitslosen- und Beschäftigungsquoten bleibt allerdings unvollständig, wenn sie nicht auch jene Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Blick nimmt, die sich in Kurzarbeit befinden. Die Gewerkschaft CGIL schätzt auf Basis von Sozialversicherungs-Daten, dass pro Jahr eine Milliarde Stunden Kurzarbeit anfallen, wovon eine halbe Million Beschäftigte betroffen sind. Das sind bedrückende Zahlen, deren Anstieg kaum zu stoppen scheint. Alleine im Februar dieses Jahres wurden über 79 Millionen Stunden Kurzarbeit genehmigt. Und alleine in der Lombardei, einer der am meisten betroffenen Regionen, wurden im Januar und Februar 2013 etwa 42 Millionen Stunden Kurzarbeit genehmigt.
Diese Daten zeigen, dass die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Durchführung einer Industriepolitik für Italien von zentraler Bedeutung sind, um die Beschäftigung zu erhöhen, auf diese Weise den Konsum der Privathaushalte anzukurbeln und die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen.
Arbeitslosigkeit wird andernfalls zu einer regelrechten Plage für die italienische Gesellschaft. In einer solchen Stagnation, verbunden mit fehlenden Möglichkeiten beruflicher Weiterbildung, ist nach einer Entlassung die Chance, wieder Arbeit zu finden, sehr gering. Diese Situation ist nicht nur aus ökonomischer Sicht schlimm, sondern sie verletzt auch die Würde der betroffenen Menschen. Die Folge ist, dass Zeitungen immer öfter über Selbstmorde von Arbeitslosen oder überschuldeten Unternehmerinnen und Unternehmern berichten müssen. 2012 haben sich 89 Menschen aufgrund ihrer ökonomischen Situation das Leben genommen, in diesem Jahr waren es alleine im ersten Quartal 32 Menschen.
Dies ist ein dramatischer Zustand, der jedoch nicht in grundlegende soziale Auseinandersetzungen mündet, mit gewalttätigen Zusammenstößen auf der Straße, wie es in anderen Ländern der Fall ist. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens Ersparnisse, die es vielen Familien erlauben, unter Rückgriff auf diese Ressourcen den ökonomischen Schwierigkeiten vorerst zu begegnen. Zweitens das Sozialsystem. Gerade letzteres bildet den zentralen Schlüssel für den sozialen Zusammenhalt. Das gesamte Sozialsystem Italiens garantiert eine gewisse Dauerhaftigkeit von Zahlungen für eine begrenzte Zeitdauer nach dem Verlust des Arbeitsplatzes. Auf diese Weise erhält der größte Teil der Italienerinnen und Italiener, wenngleich in schwierigen Situationen, finanzielle Mittel zum Überleben. Dieses Gesamtbild unterliegt aber einem schnellen Wandel. Die Reformen des Sozialsystems werden das Schutzniveau in den kommenden Jahren deutlich absenken.
Politik in Zeiten der Krise
Es war die Politik, die die Situation in den Jahren der Krise noch verschärft hat. Die Kürzungs- und Austeritätspolitik der europäischen Regierungen hat sich auf der Nachfrageseite extrem negativ ausgewirkt; sie hat den Konsum gedrückt und die Rezessionsspirale weiter vorangetrieben. In Italien führte diese Politik zu drastischen Mittelkürzungen auf lokaler Ebene, zur Unterdrückung der Rechte von Beschäftigten sowie zum Abbau des Sozialstaats.
Den lokalen Gebietskörperschaften wurden Kürzungen auferlegt, wie sie Italien in seiner gesamten Geschichte noch nicht erlebt hat. Hinzu kommt ein "interner Stabilitätspakt", der die lokalen Gebietskörperschaften auf einen Beitrag zur Einhaltung des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes verpflichtet. Dieser "interne Stabilitätspakt" hemmt die lokalen Finanzierungskapazitäten, etwa für Investitionen - und zwar auch dann, wenn die finanziellen Mittel eigentlich vorhanden wären. Er verhindert beispielsweise auch, dass finanziell gut aufgestellte Kommunen ein öffentliches Wirtschafts- und Beschäftigungsprogramm auflegen, um der Konjunktur auf lokaler Ebene Impulse zu geben.
Hinzu kommt, dass im Zuge der Austeritätspolitik Kürzungen im Bereich öffentlicher Dienstleistungen und Sozialleistungen vorgenommen wurden. Hier ist insbesondere auf die Bereiche Bildung, Gesundheit und Rente zu verweisen. Dies bremst die Konjunktur zusätzlich aus. Zugleich bringt es deutliche Nachteile für die Bürgerinnen und Bürger mit sich, die nun schlechtere öffentliche Leistungen zu höheren Kosten erhalten. Und dies, obwohl die Ausgaben für Soziales und für die öffentliche Verwaltung in Italien ohnehin schon unterhalb des europäischen Durchschnitts liegen.
Diese Elemente von Austeritätspolitik, die mit massiven sozialen Ungerechtigkeiten einhergehen, finden sich auch in anderen europäischen Ländern. Ein spezifisches Element ist im Falle Italiens allerdings das drastische Unterschätzen von Auswirkungen und Dauer der Krise. Die Regierung Silvio Berlusconis hatte versucht, die Krise zu leugnen. Die Regierung Mario Montis, zur Konsolidierung der desaströsen öffentlichen Haushalte ins Amt bestellt, stand dem in nichts nach: Man sagte eine schnelle Erholung der Wirtschaft schon ab dem Jahr 2013 voraus. Mit diesem Ziel hatte man die wichtigsten Reformen der letzten Jahre durchgeführt, hat man das soziale Sicherungsniveau abgesenkt und das Renteneintrittsalter angehoben.
Diese Maßnahmen wurden als notwendige Opfer zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und zur raschen Erholung der Wirtschaft dargestellt. In der Realität aber hat all dies dazu beigetragen, dass der private Konsum eingebrochen und die Krise sich drastisch verschärft hat. Letztlich hat man es damit für viele Menschen ausgerechnet in einer wirtschaftlich schwierigen Phase deutlich erschwert, Zugang zum Arbeitsmarkt zu finden.
Eine Lösung kann nur darin liegen, einen neuen politischen Kurs zu finden, der der italienischen Wirtschaft Impulse und dem Land neue Entwicklungsperspektiven gibt. Dazu muss Arbeit entschlossen ins Zentrum der Politik gerückt werden.
Dieser Artikel erschien zuerst in WISO-Info 2 (2013).
Umberto Bettarini ist studentischer Mitarbeiter der italienischen Gewerkschaft CGIL.