Sibille Merz: "Das politische wie soziale Klima in Großbritannien ist derzeitig eisig"
30. Oktober 2013 | Patrick Schreiner
Ein Interview mit Sibille Merz über Austeritätspolitik, Ausgrenzung und die Krise in Großbritannien. Merz ist Promovendin am Goldsmiths College der University of London. Sie hat in dem Sammelband “Nation – Ausgrenzung – Krise. Kritische Perspektiven auf Europa”, der im Juni 2013 erschienen ist, einen Artikel zu dem Thema dieses Interviews verfasst.
Wie erleben die Britinnen und Briten die Wirtschafts- und Finanzkrise?
Sibille Merz: Hier in England ist die Krise vor allem in Bezug auf Kürzungen im Bildungs- und Sozialbereich präsent, die momentan die Bevölkerung spalten – sowohl im übertragenen als auch im buchstäblichen Sinne. Erst vor kurzem hat das Kabinett um Premier David Cameron weitere Sparmaßnahmen durchgesetzt, die tiefgreifende Transformationen der britischen Gesellschaft mit sich bringen dürften. Die sogenannte „bedroom tax“, die Kürzung von Wohngeld für diejenigen, die ein freies bzw. kürzlich freigewordenes Zimmer nicht untervermieten, oder die Deckelung von Transferleistungen für Menschen mit (zugeschriebener) Behinderung sind nur zwei der zahlreichen gravierenden Eingriffe in gesellschaftliches Zusammenleben in Großbritannien. Wissenschaftler_innen erwarten, dass diese und weitere Maßnahmen, wie auch schon die Kürzungen 2010-11, vor allem Arbeiter_innen, insbesondere jene in prekären Verhältnissen, Migrant_innen und Asylsuchende treffen werden.
Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts ComRes jedoch sind 40 % der Brit_innen der Ansicht, dass mindestens die Hälfte aller Transferleistungsempfänger_innen „Schmarotzer“ seien. Sogar 78 % sprachen sich für einen Entzug von Sozialhilfe aus, sollten die Empfänger_innen eine ihnen angebotene Arbeit ablehnen, durch die sie genauso viel oder weniger Einkommen erhalten würden. Auch einer Deckelung von Transferleistungen für kinderreiche Familien stimmten 62 % zu. Das politische wie soziale Klima ist derzeitig also eisig auf der Insel. Während sich die Wut über das erste Sparpaket der Regierung noch in massenhaften Protesten entlud, scheinen die aktuellen Kürzungen fast schon schulterzuckend hingenommen zu werden. Zu einfach ist es, die Folgen der Krise auf die ohnehin bereits Marginalisierten der britischen Klassengesellschaft abzuwälzen.
Besteht zwischen der rigiden Austeritätspolitik der Regierung und ausgrenzendem Denken bzw. nationalistischem Denken ein politischer Zusammenhang?
Sibille Merz: Ich würde diese Frage ganz klar mit ja beantworten. Die Sparpolitik der Regierung hat nicht nur innerhalb der britischen Gesellschaft die Grenzen neu gesteckt, sondern auch in Abgrenzung nach außen bzw. in Bezug auf diejenigen, die als konstitutives Außen der britischen Gesellschaft fungieren. Die rigide Sparpolitik der Regierung lässt sich nur legitimieren, indem die Verantwortung für die aktuelle Misere auf bestimmte soziale Gruppen abgewälzt wird. Die Rhetorik der „aspiration nation“, die mit der diskursiven Ausgrenzung von „chavs“ und „benefit cheats“ einhergeht, kann dabei als biopolitische Regierungstechnologie charakterisiert werden, die sowohl darauf abzielt, Verantwortung für das eigene Wohlergehen in Zeiten der Krise zu individualisieren, als auch darauf, einen homogenen nationalen Bevölkerungskörper entlang spezifischer Nützlichkeitskriterien und rassistischer Klassifizierungen zu konstruieren.
Neben Empfänger_innen von sozialen Transferleistungen dürften das aktuell vor allem Migrant_innen, bzw. diejenigen, die als solche gelesen werden, zu spüren bekommen. Justizminister Damian Green fasst die Migrationspolitik der Regierung treffend zusammen: „We are also working closely with other government departments to create a hostile environment which makes it much harder for migrants to live in the UK illegally“. Innenministerin Teresa May wirbt aktuell für eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit für Arbeiter_innen innerhalb der EU und des Zugangs zu Sozialleistungen für EU-Bürger_innen in Großbritannien. Dabei geht diese Stigmatisierung von Migrant_innen Hand in Hand mit dem Versuch, eine neue britische Identität zu konstruieren, die zwangsläufig ausgrenzend wirkt und einem Nationalismus in die Hände spielt, den der Labour-Vorsitzende Ed Miliband euphemistisch als „celebrating what binds us together and what we project outwards to the world“ beschreibt. Ein gefährlicher Nährboden für weitaus militanteres nationalistisches Gedankengut.
Findet ausgrenzendes und nationalistisches Denken Widerhall in Medien und Öffentlichkeit?
Sibille Merz: Die britischen Medien tragen dieses Denken nicht nur zu einem erheblichen Teil mit, sondern tragen selbst aktiv zur Produktion dessen bei. Dabei ist es nicht nur die Boulevardpresse mit den meistgelesenen Tageszeitungen The Sun oder Daily Mail, sondern auch die öffentliche Nachrichtenagentur BBC, die sich rege an der diskursiven Marginalisierung bestimmter sozialer Gruppen beteiligt. Besonders in Bezug auf die Diffamierung von Empfänger_innen von Transferleistungen und der Konstruktion eines Narrativs von „Schmarotzern“ und Nutznießern des Wohlfahrtsstaats (bzw. dessen, was in Großbritannien davon übrig ist) spielen die Medien eine entscheidende Rolle. Während man bei der direkten Bezichtigung von Migrant_innen noch verhältnismäßig vorsichtig ist – zu gefährlich ist die Präsenz antirassistischer Stimmen – ist der Hass der Mittel- und Oberschicht auf diejenigen, die angeblich auf die Kosten der steuerzahlenden Bürger_innen leben, geradezu salonfähig geworden. Die regelmäßige Hetze gegen diese sogenannten „chavs“ trägt dabei zur Legitimation und breiten Akzeptanz von weiteren Sparmaßnahmen im Sozialbereich bei und hilft, die normative Arbeitsethik aufrechtzuerhalten. Eine aktuelle Studie der Gewerkschaft TUC zeigt jedoch, dass die Ablehnung von sozialen Transferleistungen, insbesondere von Arbeitslosengeld, auf breitem Unwissen und Missverständnissen über tatsächliche Ausgaben und Missbrauchsfälle beruht. So glaubt zum Beispiel der Mehrheit der Brit_innen, dass die Auszahlung von Arbeitslosengeld 41 Prozent des gesamten Etats beträgt, während sich die wirklichen Ausgaben gerade einmal auf 3 Prozent belaufen. Diese Unwissenheit ist natürlich fruchtbarer Boden für sowohl die Rhetorik der Regierung, als auch die Hasstiraden der Boulevardpresse.
Zum Weiterlesen
Sebastian Friedrich / Patrick Schreiner (Hg.): Nation – Ausgrenzung – Krise. Kritische Perspektiven auf Europa. edition assemblage, 240 Seiten, 18,00 EUR [D]. ISBN 978-3-942885-36-2 (bol.de, thalia.de, buch.de, ebook.de).
Der Sammelband untersucht Formen und Auswirkungen ausgrenzenden und nationalistischen Denkens im Kontext der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise in Europa. Weitere Informationen zum Buch: Nation - Ausgrenzung - Krise.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.