Ideologie in der Schule: Die "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" über Mindestlöhne
16. September 2013 | Patrick Schreiner
Die "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft", ein neoliberales und arbeitgeberfinanziertes Lobby-Netzwerk, beitreibt seit längerem eine Webseite „von Lehrern für Lehrer“ zu wirtschaftlichen und politischen Themen. Dort werden didaktisch durchaus klug aufbereitete Materialien für die Arbeit in der Schule präsentiert – in Zeiten immer stressigerer Arbeitsverhältnisse möglicherweise eine willkommene Unterstützung für Lehrerinnen und Lehrer. Dass damit einseitige neoliberale und arbeitgeberfreundliche Ideologie transportiert wird, kann dabei schnell übersehen werden. – Ein Beitrag über Zahlentricks und Manipulationen.
Schon seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten scheint es nicht nur in Deutschland eine neoliberale, marktradikale Hegemonie im politischen Denken zu geben. Agenda 2010, Rente mit 67, Hartz IV, Steuersenkungen und die drastische Zunahme von Niedriglöhnen und prekären Arbeitsverhältnissen zeigen, dass sich diese Hegemonie längst auch in politische Maßnahmen und Entscheidungen übersetzt.
Und das keineswegs nur in Wahlkampfzeiten: Bei der Herstellung und Aufrechterhaltung dieser Hegemonie kommt vielmehr der Lehre in Schule und Hochschule eine entscheidende Bedeutung zu. Geschickt haben die Neoliberalen der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" (INSM), aber auch anderer Institutionen wie der Bertelsmann-Stiftung oder dem Oldenburger Institut für Ökonomische Bildung (IÖB) es geschafft, ihre Ideologien in vermeintlich neutrale Unterrichtsmaterialien und Lehrangebote zu übersetzen. Auf diese Weise genießen, weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit, Lobbyisten und Ideologinnen Einfluss auf Kinder und Jugendliche. Letztere nehmen INSM und Co. als etwas wahr, was diese schlicht nicht sind: neutrale externe Expertinnen und Experten. Eine gute Übersicht über die Gesamtproblematik gibt die Ausgabe Juni 2013 der Hessischen Lehrerzeitung, weitere Informationen finden sich etwa auch bei der gewerkschaftlichen Initiative Schule und Arbeitswelt.
Es lohnt sich, genauer anzusehen, wie die Einflussnahme auf Kinder und Jugendliche funktioniert. Ich will dies im Folgenden am Beispiel eines Hintergrundtextes mit dem Titel "Die Mindestlohn-Diskussion" tun, den die INSM auf einer speziellen Webseite „Wirtschaft und Schule“ gezielt für Lehrerinnen und Lehrer anbietet (Stand des INSM-Artikels: 18. Juli 2013).
Angeblich möchte die "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" mit ihrem Projekt „Wirtschaft und Schule“ neutral sein, wie sie auf der eben genannten Webseite schreibt:
Wir achten bei der Auswahl unserer Materialien aber strikt darauf, dass ein Thema nicht einseitig dargestellt wird, z.B. aus Perspektive einer spezifischen gesellschaftlichen Gruppe.
Tatsächlich gibt man sich oberflächlich den Anschein, neutral zu sein. Am Beispiel des Mindestlohn-Textes: In der Tat beschreibt man zunächst halbwegs neutral die aktuellen Mindestlöhne, die es in Deutschland und in anderen Ländern gibt. Allerdings ist diese Neutralität nur vorgetäuscht – weil entscheidende Punkte schlicht verschwiegen oder einseitig dargestellt werden.
So wird als ein Faktor, der zum Aufflammen einer Diskussion um Mindestlöhne in Deutschland geführt hat, die Öffnung des Arbeitsmarkts für osteuropäische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer benannt. Man tut dies allerdings nur formal neutral, tatsächlich aber durchaus mit suggestivem Zungenschlag:
Viele Beschäftigte hierzulande befürchten, dass die neuen Konkurrenten zu so niedrigen Löhnen zu arbeiten bereit sind, dass sie Einheimische aus ihren Jobs drängen oder zumindest das hiesige Lohnniveau drücken.
Dass diese Befürchtung keineswegs nur von Beschäftigten gehegt wird, sondern auch von Teilen der Wissenschaft und der Politik, bleibt verschwiegen. Auch, dass die von „Beschäftigten“ befürchtete Entwicklung keineswegs nur eine Befürchtung, sondern etwa in der Fleischindustrie bzw. generell bei temporärer Arbeitsmigration längst Realität ist, bleibt unerwähnt. Anstatt die kritische Haltung der Mindestlohn-Befürworterinnen und –Befürworter sowie ihre Gründe zu benennen und zu reflektieren, wird ihnen durch suggestive Formulierungen wie „Einheimische aus ihren Jobs drängen“ oder „neuen Konkurrenten“ Besitzstandswahrung, darüber hinaus sogar ausgrenzendes Denken und Egoismus unterstellt. Die Frage, ob die Sicherung eines Mindest-Lohnniveaus nicht sogar volkswirtschaftlich sinnvoll sein könnte, wird nicht einmal gestellt.
An einer weiteren Stelle wird noch offensichtlicher unredlich argumentiert, nämlich hinsichtlich der Frage, wie hoch ein deutscher Mindestlohn von 8,50 Euro im Vergleich zu anderen Ländern angesiedelt wäre. Zunächst verweist die INSM zu Recht auf den Umstand, dass eine absolute Höhe des Mindestlohns („x Euro“) über das damit erreichte Lohnniveau bzw. Lebenshaltungsniveau nichts aussagt, sondern dieser Betrag in Relation zu setzen ist zum Durchschnittsverdienst in einem Land:
Wie viel ein Mindestlohn wert ist, lässt sich am Euro-Betrag allein kaum erkennen. Es hängt vielmehr entscheidend davon ab, wie teuer der Lebensunterhalt im jeweiligen Land ist. […] Welchen Lebensstandard diese Löhne gewähren, lässt sich am sogenannten Kaitz-Index ablesen – er setzt den Mindestlohn in Relation zum Durchschnittsverdienst. Während die Lohnuntergrenze in Frankreich immerhin bei 48 Prozent des durchschnittlichen Arbeitnehmereinkommens liegt, sind es am unteren Ende des Spektrums in Tschechien nur knapp 29 Prozent. Noch weniger ist es lediglich in den USA, wo der Kaitz-Index 28 Prozent beträgt. Deutschland würde sich in diesem Vergleich mit einem Mindestlohn von 8,50 Euro gleich ganz oben einsortieren: Es käme auf ein Absicherungsniveau von 48 Prozent des Durchschnittsverdienstes.
Was neutral beschreibend beginnt, endet allerdings mit einer schlichten Falschaussage: Die INSM behauptet, dass ein Mindestlohn von 8,50 Euro insgesamt 48 Prozent des deutschen Durchschnittsverdienstes entsprechen würde. Dies sei, verglichen mit anderen Ländern „gleich ganz oben“. Abgesehen davon, dass es keinen objektiven Grund dafür gibt, sich nicht „ganz oben“ einzuordnen, ist diese Behauptung schlicht falsch. Im ersten Quartal 2013 lag der durchschnittliche Stundenlohn in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamtes bei 20,52 Euro, ein Mindestlohn von 8,50 Euro entspricht daher 41,4 Prozent des Durchschnittslohns. Die Zahlen der INSM zu den relativen Mindestlohnhöhen in anderen Ländern beziehen sich vermutlich, wenngleich es nicht angegeben wird, auf das Jahr 2009. Sollte dem so sein, wäre zu fragen, ob solche veralteten Zahlen wirklich hilfreich sind. Davon abgesehen, betrug auch im Jahr 2009 die relative Höhe eines Mindestlohns von 8,50 Euro in Deutschland nicht 48 Prozent, sondern lediglich 42,5 Prozent des Durchschnittsverdienstes. Mit solchen Werten lag und liegt Deutschland aber nicht am oberen Rand der relativen Mindestlohnhöhen, sondern am unteren Rand vergleichbarer Industriestaaten. Die USA, die die INSM als Referenzbeispiel nennt, sind ein absoluter Ausreißer nach unten und aufgrund der sehr zerklüfteten (regionalisierten) Mindestlohnstrukturen dort eigentlich auch gar nicht vergleichbar.
Im Folgenden sei auf einen weiteren Punkt hingewiesen, der Erwähnung verdient. Wie so oft, äußerst sich die INSM auch in diesem Hintergrundtext für Lehrerinnen und Lehrer zur Frage, ob ein Mindestlohn Arbeitsplätze vernichte. Sie stellt dies so dar, als sei der Verlust an Arbeitsplätzen durch Mindestlöhne eine unumstrittene ökonomische Tatsache:
Politiker stehen bei der Festlegung der unteren Lohngrenze vor einem Dilemma: Je höher sie den Mindestlohn ansetzen, desto eher beseitigt er das Problem der „Working Poor“ – also das Phänomen, dass Menschen trotz Arbeit arm sind. Gleichzeitig verteuert der Mindestlohn aber die Arbeitskraft und erhöht damit das Risiko, dass sich bestimmte Jobs für die Unternehmen nicht mehr rechnen. Es gibt also einen Konflikt zwischen dem sozialpolitischen Ziel, das mit einem Mindestlohn erreicht werden soll, und dem beschäftigungspolitischen Ziel. Die Beschäftigungswirkung eines Mindestlohns ist nach dem ökonomischen Standardmodell klar: Liegt der Mindestlohn über dem Marktlohn, zu dem Angebot und Nachfrage nach einer bestimmten Arbeitsleistung ausgeglichen wären, stellen die Unternehmen weniger Arbeitskräfte ein. In diesem Fall führt der Mindestlohn zu Arbeitsplatzverlusten.
Als einzige Ausnahme wird die – relativ seltene und zu Recht als „theoretisch“ bezeichnete – Konstellation benannt, dass ein Unternehmen über ein Monopol verfügt und daher über Mindestlöhne gezwungen werden könnte, von seinen Monopolprofiten einen Teil an die Beschäftigten weiterzugeben. Von diesem eher konstruierten Extremfall abgesehen, ist ein Mindestlohn für die INSM ein Arbeitsplatzvernichter ohne Wenn und Aber.
Für diese Behauptung werden im Wesentlichen zwei Argumente benannt: Erstens das „ökonomische Standardmodell“ und zweitens eine Studie. Zunächst zum „ökonomischen Standardmodell“. Hierzu ist anzumerken, dass es ein solches schlicht nicht gibt. Es gibt verschiedene Modelle des Arbeitsmarkts und der Lohnfindung, von denen das von der INSM als „Standard“ behauptete zwar weit verbreitet, vor allem aber das arbeitgeberfreundlichste ist. Es unterstellt, dass Löhne durch das Angebot einer „Ware Arbeit“ einerseits und die Nachfrage nach einer „Ware Arbeit“ andererseits bestimmt wird. Anbieter sind dabei die Beschäftigten, Nachfrager die Unternehmen. Der Lohn wird als eine Art „Gleichgewichtspreis“ gedacht. Ein Mindestlohn, so behauptet nun das „Standardmodell“, würde für bestimmte Beschäftigungsgruppen den Lohn über den Gleichgewichtslohn heben. Dies führe zu Arbeitslosigkeit, da es mehr Arbeit im Angebot gäbe (die Beschäftigten wollen wegen des hohen Lohnes mehr arbeiten), aber weniger Arbeit nachgefragt würde (den Unternehmen ist die Arbeit zu teuer, da sie an ihr nichts mehr verdienen können, sie reduzieren ihre Nachfrage). Dass ein solches Modell realitätsferner Quatsch ist und auch in der Wissenschaft wiederholt scharfe Kritik findet, sollte aus drei Gründen unmittelbar einleuchten:
- Das Modell unterstellt, dass Unternehmen genau berechnen können, wieviel sie an einem Arbeitnehmer oder einer Arbeitnehmerin verdienen und welchen Lohn sie ihm/ihr entsprechend bezahlen können. Dies ist aber, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, bei der Komplexität von Unternehmensstrukturen und Arbeitsmärkten schlicht nicht der Fall.
- Das Modell unterstellt, dass Beschäftigte und Unternehmen gleichberechtigte Marktteilnehmer sind, die frei einen Lohn aushandeln, wodurch es zu Markt-/Gleichgewichtslöhnen kommt. In der Realität aber sind die Beschäftigten deutlich schwächere Akteurinnen und Akteure, den Unternehmen mehr oder weniger ausgeliefert. Der Lohn als Gleichgewichtspreis ist daher eine Illusion.
- Das Modell unterstellt, dass Beschäftigte ihre Arbeit ausweiten, wenn die Löhne steigen, und ihre Arbeit einschränken, wenn die Löhne fallen. Zumindest letzteres ist falsch: Menschen, die durch ihre Arbeit nicht genug zum Leben verdienen, deren Löhne also zu niedrig sind, nehmen tendenziell noch weitere Jobs an, um überleben zu können. Niedrige Löhne führen also nicht zu einem geringeren, sondern zu einem höheren Angebot von Arbeit durch die Beschäftigten.
Die beiden letztgenannten Punkte sind gute Gründe dafür, dass von außen in die Lohnfindung eingegriffen wird. Deshalb gibt es Tarifverhandlungen, und deshalb wird über Mindestlöhne diskutiert. Von der INSM, die angeblich „nicht einseitig“ darstellen möchte, werden diese für abhängig Beschäftigte höchst relevanten Aspekte aber nicht einmal erwähnt.
Nun sei noch auf das zweite Argument der INSM verwiesen, nämlich die Studie, die einen Arbeitsplatzverlust durch einen Mindestlohn belegen soll:
Letztlich gibt nur die Analyse vorhandener Daten Aufschluss über den tatsächlichen Einfluss von Mindestlöhnen auf die Arbeitsplätze. Die beiden amerikanischen Ökonomen David Neumark und William Wascher haben fast 100 solcher empirischen Studien zusammengetragen. Das Ergebnis ihrer Auswertung: Zwei Drittel der Studien stellten eine Abnahme der Beschäftigung fest, lediglich 10 Prozent eine Zunahme.
An dieser Stelle soll der Hinweis genügen, dass die genannte Studie methodisch wiederholt kritisiert worden ist und andere Studien, auch andere Meta-Studien, zu anderen Ergebnissen kommen. Insgesamt scheint sich die wissenschaftliche Einschätzung zu Mindestlöhnen, soweit sie empirisch begründet (also nicht blind aus Modellen abgeleitet) wird, zu drehen: In den 1990ern war eine eindeutige Mehrheit der Studien der Ansicht, Mindestlöhne vernichteten Arbeitsplätze. Heute ist dies anders.
Die angeblich so neutrale und gleichzeitig ökonomisch so kompetente INSM beendet ihren Hintergrundartikel mit einem weiteren Argument gegen Mindestlöhne, das hier gleichfalls zumindest kurz benannt werden soll:
Der Mindestlohn geht außerdem zulasten des Unternehmensgewinns oder – bei einer Überwälzung der steigenden Produktionskosten auf die Preise – zulasten der Käufer. Verteuert sich dadurch die Lebenshaltung, bewirkt der Mindestlohn unter Umständen nicht einmal eine spürbare reale (inflationsbereinigte) Einkommenserhöhung.
Auch diese Behauptung ist hanebüchen. Erstens ist ein Mindestlohn-induzierter Anstieg der Inflation in einem Ausmaß, das den gesamten Anstieg real wieder auffrisst, rechnerisch schlicht nicht möglich. Denn wenn es solche inflationären Effekte geben sollte, so treffen sie alle Einkommen gleichermaßen, so dass sich die Effekte breiter verteilen und relativ zur großen Gruppe derer, deren Einkommen oberhalb der Mindestlohnschwelle liegen, der Mindestlohn immer noch eine Verbesserung darstellt. Davon abgesehen, ist eine Reallohnsicherung für den Mindestlohn sehr einfach zu bewerkstelligen: Es genügt, jedes Jahr den Mindestlohn um die Inflationsrate des Vorjahres anzuheben. Aber auch darüber schweigt die INSM.
Es ist erschreckend, sich vorzustellen, dass solche Texte von Lehrerinnen und Lehrern als vermeintlich neutrales Unterrichtsmaterial oder zur Vorbereitung des Unterrichts genutzt werden.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.