40 Jahre Pinochet-Putsch in Chile: Zeit, über den Liberalismus neu nachzudenken
11. September 2013 | Patrick Schreiner
Am 11. September 1973 putschte das chilenische Militär unter der Führung von Augusto Pinochet den demokratisch gewählten, sozialistischen Präsidenten Salvador Allende aus dem Amt und trieb ihn in den Suizid. Die Putschisten genossen dabei die offene oder verdeckte Unterstützung sowohl der USA und anderer westlicher Staaten als auch der Unternehmer des Landes. Nicht zu Unrecht gilt dieser Putsch als eines der wichtigsten weltpolitischen Ereignisse der Nachkriegszeit. Er zeigte: Der Rückgriff des Liberalismus auf Autoritarismus und brutale Gewalt ist kein historisches Vorkriegsphänomen, sondern in ihm selbst angelegte Möglichkeit.
Zunächst seien einige Daten zur Machtergreifung und zur Gewaltherrschaft Augusto Pinochets in Chile aufgeführt (den Wikipedia-Seiten über Augusto Pinochet sowie über den Putsch in Chile 1973 entnommen):
- Am Tag des Putschs gab es 2.131 Verhaftungen, bis Jahresende waren es 13.364. Opfer wurden vorwiegend Mitglieder und Anhänger linker Parteien und Gewerkschaften.
- Die so genannte Valech-Kommission hat 27.255 politische Gefangene über die gesamten 17 Regierungsjahre Pinochets hinweg anerkannt. Andere Quellen vermuten einige 10.000 Opfer mehr.
- Mindestens 2.000 bis 2.500 der politischen Gefangenen blieben „verschwunden“, wurden also ermordet. Die Gesamtzahl der Morde betrug nach Angaben der so genannten Rettig-Kommission über die gesamten Regierungsjahre Pinochets hinweg 3.197; andere Quellen geben noch deutlich höhere Zahlen an.
- Es gab massive Folterungen an etwa 94 Prozent der Verhafteten.
- Es wurden unmenschliche Gefangenenlager und Geheimgefängnisse eingerichtet; Rechtsstaatlichkeit wurde abgeschafft.
- Ãœber eine Million Chileninnen und Chilenen mussten das Land verlassen.
- Menschenrechte und Demokratie gehörten ebenso der Vergangenheit an wie freie Wahlen. Das demokratisch gewählte Parlament wurde aufgelöst.
Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die Pinochet und sein Militärregime ergriffen, sind bekannt: Man rief die so genannten „Chicago Boys“ zurück ins Land; junge, neoliberale Wirtschaftswissenschaftler aus Chile, die an der Universität von Chicago ausgebildet worden waren – unter anderem von „Wirtschafts-Nobelpreisträger“ Milton Friedman. Auch Friedman selbst, obgleich nicht offizieller Berater der Regierung, unterstützte diese. Er ermahnte 1975 das chilenische Militärregime, alle Hindernisse zu beseitigen, die einem freien Wirken der Marktkräfte im Wege stünden; er bereiste das Land, hielt entsprechende Vorträge und legitimierte auf diese Weise das Regime. Chile brauche, so verkündete er, eine "Schocktherapie". Bei Pinochet stieß er auf offene Ohren: Mit Ausnahme der staatlichen Kupfergesellschaft wurden alle staatlichen oder halbstaatlichen Unternehmen privatisiert, die öffentlichen Ausgaben massiv gekürzt, Märkte dereguliert, das Bildungswesen ebenso wie die Sozialversicherungen weitgehend privatisiert und die Durchschnittslöhne deutlich gesenkt (bis 1980 um 17 Prozent). Chile wurde eine Art Experimentallabor für neoliberale Ideologen. Friedman bezeichnete diesen Machtwechsel und die mit ihm verbundene Wirtschaftspolitik euphorisch als „Wunder von Chile“.
Anders als (neo-) liberale Ideologinnen und Ideologen gerne kolportieren, war die Wirtschaftspolitik des Regimes aber alles andere als erfolgreich. Die Wirtschaftsleistung brach in den Jahren nach dem Putsch drastisch ein und blieb über die Gesamtzeit der Junta Pinochets hinweg unterdurchschnittlich, die Inflation ging nur langsam zurück, Arbeitslosigkeit und Armut stiegen deutlich an. Wenngleich Chile noch heute eines der neoliberalsten Länder der Erde sein dürfte, wurden einige größere Privatisierungsexzesse aufgrund ihrer fatalen Ergebnisse nach dem Ende der Militärdiktatur wieder rückgängig gemacht. In der Wochenzeitung Jungle World erschien zur wirtschaftlichen und politischen Entwicklung Chiles nach dem Putsch jüngst ein aufschlussreicher Artikel. Und selbst das neoliberale Web-Portal Spiegel Online musste einräumen:
Wenn heute jemand die Diktatur Augusto Pinochets (1973 bis 1990) verteidigt, dann geschieht das gewöhnlich mit den Worten: Schaut, was er aus dem Land gemacht hat. Chiles Wirtschaft ist das allseits bewunderte Vorbild in Lateinamerika. […] Für die Pinochetistas ist klar, wem das Wirtschaftswunder zu verdanken ist: den Chicago Boys, jenen radikalen Ökonomen, die an der University of Chicago studiert hatten und die monetaristischen Theorien ihres Gurus Milton Friedman ab 1975 in Chile ausprobieren durften. […] Doch war es das wirklich? Bei aller Erfolgsrhetorik wirkt die Bilanz der Chicago Boys im Rückblick eher enttäuschend: Das durchschnittliche Wachstum zwischen 1973 und 1990 lag bei mageren 2,9 Prozent - nicht besser als der weltweite Durchschnitt. Damit nicht genug: Der Durchschnittslohn sank während der Pinochet-Ära, und der Anteil der Bevölkerung unter der Armutsgrenze stieg dramatisch von 20 auf 44 Prozent.
40 Jahre Putsch in Chile – das sollte aber nicht nur Anlass sein, über das offensichtliche Scheitern neoliberaler Wirtschafts- und Sozialexperimente und die Brutalität bei ihrer Umsetzung nachzudenken. Es sollte auch und vor allem Anlass sein, sich Gedanken über den Liberalismus als solchen zu machen.
Dies war wohl jüngst auch die Intention von Rainer Hank, liberaler Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung – wenn auch aus anderer Perspektive. Ihm wurde der Karl-Hermann-Flach-Preis der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung verliehen. Hank fragt sich in seiner am 1. September in der FAS abgedruckten Dankesrede (nicht im Internet verfügbar), weshalb es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer Spaltung zwischen Linken und Liberalen gekommen sei: „Warum sind Liberale nicht mehr links? Warum hasst die Linke den (Neo-) Liberalismus so sehr?“ In einer durchaus spannend zu lesenden Argumentation kommt er zum Schluss: „Alles hat angefangen mit dem Jahr 1973“.
Für die Entfremdung zwischen Liberalen und Linken spielen in Hanks Augen, unter anderem, die Ereignisse am 11. September 1973 in Chile eine zentrale Rolle. Ein Grund sei die inhaltliche und politische Nähe der Chicago-Liberalen zum Pinochet-Regime gewesen, die für Linke inakzeptabel gewesen sei und zu einer dauerhaften Spaltung zwischen Liberalen und Linken geführt habe. Hank zitiert kritisch Milton Friedman, der 1976 in einem Newsweek-Artikel seine oben beschriebene Unterstützung des Regimes verteidigte (ich zitiere im Folgenden das englischsprachige Original Friedmans):
Having set the facts straight, let me add that, despite my sharp disagreement with the authoritarian political system in Chile, I do not regard it as evil for an economist to render technical economic advice to the Chilean government to help end the plague of inflation, any more than I would regard it as evil for a physician to give technical medical advice to the Chilean government to help end a medical plague.
Friedman rechtfertigte sein Handeln in diesen Zeilen damit, dass er Chiles Regierung nur wirtschaftlich unterstützt habe, nicht aber politisch; ein technokratisches Argument. Hank erkennt hierin eine inhaltliche Spaltung zwischen einem wirtschaftlichen Liberalismus und einem politischen; und er legt Karl-Hermann Flach eine kritische Einschätzung in den Mund, der er – Hank – sich auch selbst anschließt:
Wir können sicher sein, Flach hätte nicht nur mit einem Leitartikel Einspruch erhoben gegen die Auffassung, man könne wirtschaftliche Freiheit trennen von politischer Freiheit, ein Einspruch, der sowohl das Regime Allendes als erst recht jenes Pinochets getroffen hätte.
Hank spricht sich hier, Flach als Zeugen nehmend, gegen eine Trennung von politischem und wirtschaftlichem Liberalismus aus. Beide seien nur mit dem jeweils anderen denkbar. Wie Hank argumentiert, ist allerdings widersprüchlich – und mehr als aufschlussreich für ein besseres Verständnis des Liberalismus. Hank setzt im letzten Halbsatz en passant Pinochet und Allende gleich. Zwar verurteilt er Pinochet etwas mehr („erst recht“), doch im Grunde hält er die Politik Allendes und die Politik Pinochets insofern für gleichsetzbar, als beide spezifische Formen von Freiheit verachteten, Pinochet die politische und, das wäre die implizite Schlussfolgerung, Allende die wirtschaftliche. Damit tut Hank so, als sei das Ermorden und Foltern vieler tausend Menschen moralisch so verwerflich wie etwa das Erhöhen von Steuern für Reiche oder das Enteignen von Unternehmern. Er bestärkt diese Einschätzung an späterer Stelle, wenn er vermerkt, die Linken ignorierten, dass Pinochet den Chileninnen und Chilenen immerhin Wohlstand gebracht habe:
[Die Linken] ignorierten geflissentlich, dass die Menschen in Chile dank Marktwirtschaft vor dauerhafter Armut bewahrt wurden! Bescheidener Wohlstand wurde ihnen zugestanden, Würde und Freiheit wurden ihnen indessen verwehrt.
Hier kehrt die Trennung von politischer und wirtschaftlicher Freiheit, die Hank – mit Flach – eigentlich Friedman vorwerfen möchte, durch die Hintertür wieder. Hank unterscheidet, entgegen seinen eigenen Worten, sehr wohl zwischen wirtschaftlicher und politischer Freiheit. Spätestens hier erweist sich, dass er sich lediglich gegen Friedmans Argument wehrt (und selbst dies nur halbherzig), wirtschaftliche Freiheit und politische Freiheit seien moralisch unabhängig voneinander zu werten. Hank und Friedman teilen damit bei aller Differenz eine urliberale Grundposition, ein argumentatives Element des Liberalismus und der kapitalistischen Marktwirtschaft schlechthin: Die gedankliche und ideologische Trennung von Politik/Staat und Wirtschaft und, daraus resultierend, die (vermeintlich gleichwertende) Unterscheidung von wirtschaftlicher und politischer Freiheit.
- Politik/Staat, das gilt Hank und Friedman – wie dem Liberalismus überhaupt – jenseits der wirtschaftlichen Sphäre als Raum der Freiheit – und zwar Freiheit zur Partizipation wie auch Freiheit vor der Verletzung individueller Rechte (insbesondere dem Eigentumsrecht). Politik gilt dem Liberalismus aber zugleich als zumindest potentiell freiheitsfeindlich, da sie immer wieder in das Wirtschaftsgeschehen interveniert.
- Wirtschaft hingegen gilt Hank und Friedman – wie dem Liberalismus überhaupt – als Sphäre selbstregulierender Märkte, in der dank Vertragsfreiheit, Eigentumsrecht und freiem Unternehmertum materieller Wohlstand gemäß marktinhärenter natürlicher Gesetzmäßigkeiten geschaffen wird. Dieser Gedanke einer Unabhängigkeit und Eigengesetzlichkeit von Wirtschaft (von Märkten) ist Dreh- und Angelpunkt liberalen Denkens. Damit eine solche Wirtschaft funktionieren kann, solle sich die Sphäre von Politik/Staat weitgehend oder vollständig aus ihr heraushalten.
Diese Argumentation blendet aus, dass die behauptete institutionelle Trennung von Politik/Staat und Wirtschaft weder naturgegeben noch alternativlos ist, sondern vielmehr als Kern des modernen Kapitalismus ein Ergebnis historischer Prozesse und politischer Entscheidungen darstellt. Sie ist menschengemacht. Karl Polanyi hat diesen Umstand in seinem Hauptwerk „The Great Transformation“ wie folgt beschrieben:
Ein selbstregulierender Markt erfordert nicht weniger, als die institutionelle Trennung der Gesellschaft in eine wirtschaftliche und eine politische Sphäre. Eine solche Dichotomie ist, genau genommen, vom Standpunkt der Gesellschaft als Ganzes gesehen, bloß eine andere Formulierung für die Existenz eines selbstregulierenden Marktes. Man kann natürlich meinen, dass diese beiden Bereiche in jeglicher Art von Gesellschaft zu allen Zeiten voneinander getrennt sind. Eine solche Folgerung wäre jedoch ein Trugschluss. Sicherlich kann keine Gesellschaft ohne irgendein System auskommen, das die Erzeugung und Verteilung von Gütern sicherstellt. Daraus folgt aber nicht, dass es separate wirtschaftliche Institutionen geben muss; normalerweise ist die Wirtschaftsordnung bloß eine Funktion der Gesellschaftsordnung, in die sie eingeschlossen ist.
Die Trennung von Wirtschaft und Politik ist historisch also nichts anderes als eine menschengemachte Voraussetzung (vermeintlich) selbstregulierender Märkte; damit ist sie ein Phänomen der Neuzeit. Polanyi verortet sie im Wesentlichen im 19. Jahrhundert. Kapitalismus ist jene historisch entstandene Gesellschaftsform und Produktionsweise, die nicht die Märkte der Gesellschaft, sondern die Gesellschaft den Märkten unterordnet – und dabei aber stets mit Widerständen und Grenzen ihrer Realisierbarkeit konfrontiert ist. Umgekehrt bedeutet dies aber, dass, wer wie Liberale an selbstregulierende Märkte glaubt, notwendig die Trennung von Politik und Wirtschaft immer wieder unterstreichen und politisch-institutionell immer wieder neu herstellen muss. Genau dies machen Friedman und Hank.
Diese Trennung von Politik und Wirtschaft immer wieder zu unterstreichen und politisch-institutionell herzustellen, ist in der Realität allerdings alles andere als unproblematisch und widerspruchsfrei. Polanyi führt eine ganze Reihe überzeugender Beispiele dafür an, dass und wie sich Wirtschaftsliberale für politische Interventionen in die Wirtschaft oder für die Beschränkung politischer Freiheit zu Gunsten der wirtschaftlichen Freiheit starkmachten – und zwar keineswegs nur zur Etablierung vermeintlich selbstregulierender Märkte, sondern auch für deren Erhalt und Funktionieren. Die Pinochet-Gewaltherrschaft kann ohne Weiteres in diese Reihe eingeordnet werden, auch sie diente der Herstellung und Aufrechterhaltung „freier“ Märkte. Polanyi stellt (mit Blick auf Chile fast schon prophetisch) fest:
Das Gegenteil von Interventionismus ist Laissez-faire, und wir haben eben festgestellt, daß der Wirtschaftsliberalismus nicht mit Laissez-faire gleichgesetzt werden kann (obzwar es im allgemeinen Sprachgebrauch nichts ausmacht, sie wechselseitig zu gebrauchen.) Im engeren Sinne ist der wirtschaftliche Liberalismus das Organisationsprinzip einer Gesellschaft, in der die Wirtschaft auf der Institution eines selbstregulierenden Markts beruht. Sicherlich werden weniger Interventionen eines bestimmten Typs erforderlich sein, sobald sich ein solches System mehr oder weniger etabliert hat. Das bedeutet jedoch bei weitem nicht, daß Marktsystem und Intervention einander ausschließende Begriffe sind, denn solange das System nicht etabliert ist, müssen und werden die Liberalen ohne zu zögern nach staatlichen Eingriffen zum Zweck seiner Etablierung, und, sobald dies geschehen ist, zu seiner Aufrechterhaltung rufen. Der Anhänger des Wirtschaftsliberalismus kann somit, ohne sich zu widersprechen, den Staat auffordern, gesetzlich einzugreifen; er kann sogar Zuflucht zu den Kräften des Bürgerkriegs nehmen, um die Vorbedingungen für einen selbstregulierenden Markt zu schaffen.
Es ergibt sich für Liberale im Moment der Konfrontation mit der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Realität ein dauerhafter ideologischer Konflikt: Wie weit, so stellt sich ihnen die Frage, darf politische Freiheit eingeschränkt werden, um wirtschaftliche Freiheit zu gewährleisten, und wie weit muss umgekehrt auf wirtschaftliche Freiheit verzichtet werden, um politische Freiheit zu ermöglichen? Friedman und Hank entwickeln lediglich graduell unterschiedliche Antworten auf diese urliberale Frage.
Dieser ideologische Konflikt ist nun aber keineswegs nur ein Konflikt zweier Grundsätze, die in der Realität „auf Augenhöhe“ in Widerspruch gerieten. Es handelt sich vielmehr um einen Konflikt zwischen Ungleichem. Bei genauerer Betrachtung nämlich, und wenn es hart auf hart kommt, gilt dem Liberalismus die wirtschaftliche Freiheit durchaus mehr als die politische. Der Grund dafür ist, dass wirtschaftliche Freiheit im Liberalismus stärkere Begründung hat als politische Freiheit. Beide gelten ihm zwar als moralisch wertvoll, als ethisch angemessene und wichtige Ziele. Die wirtschaftliche Freiheit allerdings genießt zusätzlich quasi-naturgesetzliche Legitimation – der Glaube an ökonomische Gleichgewichtsmodelle, an intrinsische Markteffizienz und die objektive Rolle von Preissignalen machen die Idee des selbstregulierenden Marktes für den Liberalismus zum Dreh- und Angelpunkt. Märkte gelten ihm als naturgegeben. An dieser Stelle kommt die oben angesprochene liberale Blindheit gegenüber dem historisch-sozialen Gemachtsein von (vermeintlich) selbstregulierenden Märkten zum Tragen.
Die Frage nach möglichen Zusammenhängen - in der Konzeption des Liberalismus - zwischen der Verletzung politischer Freiheit auf der einen Seite und der Verwirklichung wirtschaftlicher Freiheit auf der anderen Seite erweist sich damit als Kernfrage. Selbst wenn man im ideologischen Elfenbeinturm die strikte und konsequente Trennung von Staat/Politik und Wirtschaft hochhalten kann – in der Realität scheitern solche Ideen rasch an politischen, sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten. Beide geraten in der politischen Realität, wie oben beschrieben, permanent in Konflikt.
Sie tun dies in unterschiedlichem Ausmaß und im Regelfall nicht mit den unfassbaren Konsequenzen, die vor 40 Jahren Chile erlebte. So kann man zwar durchaus, muss aber keineswegs notwendig immer bis hin zu Bürgerkriegen und Militärputschs denken, um Beispiele für die Einschränkung politischer Freiheit zu Gunsten wirtschaftlicher Freiheit – zur Etablierung vermeintlich selbstregulierender Märkte – zu finden: Die Garantie des Eigentums an Produktionsmitteln, die Legitimation von Parteispenden durch Reiche und Unternehmen mittels des Persönlichkeitsrechts oder die Nichtkodifizierung sozialer Rechte sind nur drei der wichtigsten entsprechenden (verfassungs-) rechtlichen Mechanismen. (Was, nebenbei bemerkt, die vermeintliche Gleichwertigkeit von politischer und wirtschaftlicher Freiheit im Liberalismus einmal mehr in Frage stellt.) Polanyi betont mit überzeugenden Argumenten, dass das liberale Verfassungsdenken sich trotz oberflächlich identisch erscheinender Begriffe im historischen Verlauf drastisch gewandelt hat: Ging es zunächst um verfassungsrechtliche Sicherungen gegen Angriffe der Krone, so sollten Eigentum und Märkte später vorrangig gegen das Volk gesichert werden. Oder in den Worten Loic Wacquants:
[Der neoliberale Staat] spiegelt vor, beides, die Marktkräfte und die Freiheit zu bewahren, behält aber in Wirklichkeit die Segnungen dieser Art von Freiheit den Eliten vor, während er gegenüber den unteren Klassen eine Politik des „bestrafenden Paternalismus“ durchsetzt.
Die Spannbreite des real existierenden Liberalismus ist vor diesem Hintergrund groß, sie reicht von bürgerlich-demokratischen Verfassungen bis hin zu Militärregimes. Wirtschaftliche Freiheit und politische Freiheit als gleichwertig zu behaupten, ist einfach. Die schöne Illusion, vermeintlich selbstregulierende Märkte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit seien miteinander vereinbar, sie seien gar zwei Seiten der gleichen Medaille, lässt sich abstrakt und theoretisch leicht aufrechterhalten. Liberale Politik sieht aber anders aus, wenn die erwünschte Ausweitung vermeintlich selbstregulierender Märkte soziale Konflikte provoziert oder auf massive politische Widerstände trifft. Wie in Griechenland 2013. Oder vor allem wie in Chile 1973.
Eine gewisse Tendenz zum Autoritären, zum Brutalen und zur Gewalt ist im Liberalismus ideologisch angelegt. Zu Recht prägte Hermann Heller den Begriff des „autoritären Liberalismus“.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.