Andreas Fischer-Lescano: „Diese neoliberale Politik ist unvereinbar mit den Menschenrechten“
19. März 2014 | Patrick Schreiner
Ein Interview mit Andreas Fischer-Lescano über die Kürzungspolitik in Europa und ihre rechtlichen Grundlagen. Andreas Fischer-Lescano ist Rechtswissenschaftler und Professor an der Universität Bremen mit den Forschungsschwerpunkten Öffentliches Recht, Europarecht, Völkerrecht, Rechtstheorie und Rechtspolitik.
In Griechenland und anderen europäischen Ländern setzt die so genannte "Troika" aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds eine rigide Kürzungs- und Austeritätspolitik durch. Sie argumentieren in einem Gutachten, dass diese Politik gegen Menschenrechte verstößt. Wie begründen Sie diese Einschätzung?
Andreas Fischer-Lescano: Die Troika macht in sogenannten „Memoranden of Understanding“, die als Auflagen zu den Finanzhilfen vereinbart werden, sehr detaillierte Vorgaben dazu, wie die betroffenen Länder ihre Sozial-, Gesundheits-, Bildungs- und Arbeitssysteme umzugestalten haben. So sollen die Tarifautonomie eingeschränkt, die Zuzahlung von Patientinnen und Patienten zu Arzneimitteln erhöht, Löhne und Renten gesenkt werden. Das Bildungssystem soll, wie es euphemistisch heißt, im Hinblick auf die Humankapitalbildung "gestreamlined" werden. Das ist weitgehend eine Politik aus dem neoliberalen Giftschrank, die schon weite Teile von Lateinamerika verwüstet hat und nun auch in Europa ganze Generationen in die Hoffnungslosigkeit treibt. Dass und inwiefern die Austeritätspolitik in die Menschenrechte eingreift, haben mittlerweile schon zahlreiche internationale Organisationen festgestellt. Berichte der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), des Europäischen Sozialausschusses, des UN-Sozialausschusses und jüngst auch ein im Auftrag des Europäischen Menschenrechtskommissars angefertigter Bericht kritisieren die Auswirkungen dieser Politik als unvereinbar mit den Menschenrechten. Die Sparpolitik verletzt das Recht auf Gesundheit, das Recht auf das sozioökonomische Existenzminimum, die Tarifautonomie, die Bildungsfreiheit. Allerdings ist es bislang so, dass sich die Berichte und Rechtsverfahren nicht gegen die Troika unmittelbar, sondern gegen die Nationalstaaten gerichtet haben, die die Sparmaßnahmen umzusetzen haben. Es ist aber meines Erachtens an der Zeit, einmal die Menschenrechtsbindungen der Troika selbst herauszuarbeiten. Es ist ineffektiv, wenn man nur auf der staatlichen Umsetzungsebene ansetzt. Die Troika agiert derzeit weitgehend unkontrolliert. Das gilt es zu ändern.
Wer könnte der Troika Einhalt gebieten – wo doch deren Politik als alternativlos gilt?
Andreas Fischer-Lescano: Das wird nur in breiten Bündnissen von europäischen Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen funktionieren, die sich europaweit vernetzen müssen. Auf institutioneller Ebene sind das Europäische Parlament und der Europäische Gerichtshof gefragt, ihre Kontrollaufgaben ernst zu nehmen. Der Ausschuss für Wirtschaft und Währung des Europäischen Parlaments erarbeitet einen Untersuchungsbericht zur Troika-Politik. Das ist ein erster Schritt, aber das reicht bei weitem nicht aus. Das Europäische Parlament muss seine Mitbestimmungsrechte durchsetzen, nötigenfalls über den Europäischen Gerichtshof. Anders als nationale Parlamente könnte das Europäische Parlament die Krisenpolitik auf Augenhöhe kontrollieren. In der Krisenpolitik ist das Parlament aber von nationalen Regierungen und der EU-Kommission an den Katzentisch platziert wurden, es wurde weitgehend marginalisiert. Es unternimmt derzeit zu wenig, um gegen seine eigene Bedeutungslosigkeit vorzugehen. Aber auch der Europäische Gerichtshof ist bislang nicht annähernd seinen Aufgaben gerecht geworden. Er hat alle prozessualen Gelegenheiten genutzt, nicht zur Krisenpolitik entscheiden zu müssen. Das Gericht riskiert, dass seine Aufgaben demnächst wieder von den nationalen Gerichten wahrgenommen werden. Die europäischen Institutionen müssten sich daher eigentlich schon im institutionellen Eigeninteresse der sozialen Frage in Europa sehr viel stärker annehmen, als sie dies bislang getan haben. Hier gilt es, den Druck zu erhöhen, um die Unionsorgane wieder auf den Boden des Rechts zurückzubringen.
Auf welcher europa- oder völkerrechtlichen Grundlage beruht die Politik der "Troika"? Wie beurteilen Sie diese Grundlage?
Andreas Fischer-Lescano: Die Kompetenzen der Troika beruhen auf einer Mischung aus Völker- und Unionsrecht. Teilweise sind ihre Aufgaben im Vertrag über den europäischen Stabilitätsmechanismus geregelt, teilweise in den Statuten des IWF. Die Unionsorgane, also die Europäische Kommission und die Europäische Zentralbank, sind zudem an das Unionsrecht gebunden. Obwohl nun diese Bindung insbesondere dazu führt, dass die Kommission und die Europäische Zentralbank an Grund- und Menschenrechte gebunden sind, wie sie in der Europäischen Grundrechtecharta und der Europäischen Konvention für Menschenrechte zum Ausdruck kommen, agieren die Unionsorgane derzeit weitgehend außer Kontrolle. Sie halten sich nicht an die Kompetenzgrenzen des Unionsvertrages, der ihnen beispielsweise verbietet, im Lohnbereich Vorgaben zu machen. Sie handeln Klauseln aus, die die Menschenrechte völlig unverhältnismäßig beschneiden und gerade besonders vulnerable Gruppen – wie Migrantinnen und Migranten, Kranke, Menschen mit Behinderung, Kinder, Frauen – besonders hart treffen. Sie verletzen minimale Verfahrensvorgaben, indem die Sozialpartner nicht beteiligt, das Europäische Parlament marginalisiert, ein Menschenrechts-Auditing verweigert werden.
Entpuppt sich die Europäische Grundrechtecharta damit als stumpfes Schwert? Immerhin gilt sie doch seit einigen Jahren als europäisches Primärrecht, also als unmittelbarer Bestandteil der Verträge, auf denen die Europäische Union beruht?
Andreas Fischer-Lescano: Bislang muss man das leider wirklich so sagen. Der Europäische Gerichtshof hat viel dafür getan, dieses Schwert stumpf zu machen. In seinem Pringle-Urteil, in dem es um die Frage ging, ob die Verfahren des Europäischen Stabilitätsmechanismus mit dem Unionsrecht vereinbar sind, hat der EuGH den Anwendungsbereich der Charta in der Krise sehr beschnitten und sich geweigert, die nationalen Umsetzungen der Sparaufnahmen an der Charta zu messen. Man wird hier nur über europaweiten institutionellen und gesellschaftlichen Druck weiterkommen. Rechtlich gilt es zu insistieren, dass die Unionsorgane natürlich auch bei der Implementierung der Sparpolitik an die Charta gebunden sind.
Sie betonen den gesellschaftlichen Druck, der notwendig sei. Welche Rolle kann eine rechtswissenschaftliche Argumentation in den politischen Auseinandersetzungen um die Austeritäts- und Kürzungspolitik spielen?
Andreas Fischer-Lescano: Das Recht kann eine politische Auseinandersetzung nicht ersetzen, aber nur wenn man den Rechtsdiskurs einbezieht, kann man die Sparpolitik effektiv delegitimieren. Es ist die Kernaufgabe des Rechts, einer außer Kontrolle geratenen Politik Grenzen zu setzen und ihre demokratische Kontrolle zu ermöglichen. Wir müssen wieder dahin zurückkommen, dass die Unionsorgane die Menschenrechte und die demokratischen Beteiligungsrechte der Sozialpartner und der Parlamente respektieren. Wenn es nicht gelingt, das auf europäischer Ebene zu verankern, wenn die europäischen Institutionen nicht endlich zur Kenntnis nehmen, dass sie sich den Rechten und der sozialen Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Rentnerinnen und Rentner, der Sparerinnen und Sparer, der Kranken, der Studierenden, der Kinder, der Menschen mit Behinderung, der Flüchtlinge zuwenden müssen, dann wird Europa bald Geschichte sein. Der Humus, auf dem die sozial-nationalen Zentrifugalkräfte gedeihen, ist die Unsensibilität Europas für die soziale Frage.
Dieser Artikel erschien zuerst in WISO-Info 1 (2014). Ein Aufsatz von Andreas Fischer-Lescano zum Thema erschien in Heft 1/2014 der Zeitschrift Kritische Justiz.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.