Europäische Krisenpolitik, HIV-Neuinfektionen und Suizide in Griechenland
18. Juni 2014 | Patrick Schreiner
Die Krisenpolitik der „Troika“ aus EU-Kommission, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank, von quasi allen europäischen Regierungen unterstützt, wird derzeit von Politik und Medien als Erfolg gefeiert. Das ist wirtschaftspolitisch unsinnig, vor allem aber blendet diese beschönigende Sichtweise die verheerenden sozialen Folgen der Austeritäts- und Kürzungspolitik aus. Eine besonders bedrückende Entwicklung in diesem Zusammenhang ist die Zunahme von HIV-Neuinfektionen und Suiziden in Griechenland.
Das Athener Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung hat kürzlich eine dankenswerte Publikation zur sozialen Lage in Griechenland veröffentlicht: „The social situation of Greece under the crisis“. Es handelt sich um eine umfangreiche kommentierte Datensammlung. Unter anderem werden darin Zahlen zu HIV-Neuinfektionen sowie zu Suiziden genannt, die ich für die nachfolgenden Schaubilder ins Verhältnis zur griechischen Gesamtbevölkerung der jeweiligen Jahre gesetzt habe.
Die aktuellsten Zahlen, die für Suizide vorliegen, sind die des Jahres 2011. Erkennbar ist, dass die Zahl der Suizide je 100.000 Einwohner 2011 gegenüber 2010 deutlich angestiegen ist:
Schaubild 1: Suizide je 100.000 Einwohnern in Griechenland, 2002-2011, Quelle: Friedrich-Ebert-Stiftung, Eurostat, eigene Berechnung und Darstellung.
Da Daten für 2012 und 2013 (noch) nicht vorliegen, sollte der Anstieg des Jahres 2011 sicherlich vorsichtig interpretiert werden: Zwar liegt die Vermutung nahe, dass es einen Zusammenhang mit Krise und Krisenpolitik gibt, es ist aber nicht auszuschließen, dass hier noch andere Gründe eine Rolle spielten.
Die Friedrich-Ebert-Stiftung (sie nennt absolute, nicht relative Zahlen) relativiert den Anstieg des Jahres 2011 mit dem Verweis auf den gleichfalls enormen Anstieg des Jahres 2005. Damit blendet sie allerdings aus, dass der Anstieg 2011 mit 27,2 Prozent deutlich höher war als jener des Jahres 2005 mit 12,9 Prozent. Prozentual stieg die Zahl der Suizide je 100.000 Einwohnern mit weitem Abstand in keinem Jahr so stark an wie 2011. Zudem wurde 2011 auch in absoluten Zahlen ein neuer Höchstwert erreicht (477 Suizide gesamt bzw. 4,3 Suizide je 100.000 Einwohnern). Da zudem 2011 die europäische Krisenpolitik erstmals massiv griff, kann die beschwichtigende Argumentation der Friedrich-Ebert-Stiftung an dieser Stelle nicht überzeugen.
Die Vermutung eines Zusammenhangs mit Krise bzw. Krisenpolitik dürfte sich bei der Zahl der HIV-Neuinfektionen noch stärker aufdrängen:
Schaubild 2: HIV-Neuinfektionen je 100.000 Einwohnern in Griechenland, 2008-2012, Quelle: Friedrich-Ebert-Stiftung, Eurostat, eigene Berechnung und Darstellung.
Bei den HIV-Neuinfektionen nennt die Veröffentlichung der Friedrich-Ebert-Stiftung, anders als für Suizide, auch Daten für das Jahr 2012. Es wird deutlich, dass die Zahl der Neuinfektionen je 100.000 Einwohnern 2011 und 2012 – also in den Jahren, in denen die Krisenpolitik voll zum Tragen kam – jeweils gegenüber dem Vorjahr deutlich angestiegen sind.
Aufschlussreich sind auch die Übertragungswege, die einzelnen Balken stehen jeweils für die Jahre 2008 bis 2012:
Schaubild 3: Übertragungswege bei HIV-Neuinfektionen je 100.000 Einwohnern in Griechenland, 2008-2012, Quelle: Friedrich-Ebert-Stiftung, Eurostat, eigene Berechnung und Darstellung. Nicht im Schaubild enthalten sind Übertragungen bei der Geburt, die sich auf geringe 0-4 Fälle pro Jahr für ganz Griechenland belaufen.
Die Zahl der HIV-Neuinfektionen mittels (homo- oder heterosexuellen) Geschlechtsverkehrs ist im Zeitverlauf leicht rückläufig. Hingegen stiegen HIV-Neuinfektionen, deren Ursache unbekannt ist, sowie insbesondere HIV-Neuinfektionen bei/durch Drogenkonsum deutlich an. Ein Grund dafür: Der Heroinkonsum in Griechenland hat stark zugenommen, wie Zeit Online berichtete. So drängt sich die Vermutung auf, dass die Zunahme der HIV-Neuinfektionen eine Folge der immer schlechteren sozialen Lage des Landes im Allgemeinen ist – wohl aber auch der immer schlechteren Gesundheitsversorgung. Zu Recht schreibt die Friedrich-Ebert-Stiftung von einem „rolling back of public health services“.
All das spricht dafür, dass die Krisenpolitik von EU-Kommission, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank mittelbar zu Elend, Krankheit und Tod in Griechenland beiträgt. Neu ist diese Erkenntnis nicht: Schon im Februar berichtete Spiegel Online von einer Studie, die den Anstieg von Totgeburten, HIV-Neuinfektionen, Tuberkulosefällen, Depressionen und Suiziden in Griechenland nachwies. Und jüngst belegte eine Studie der Universität Oxford und der London School of Hygiene & Tropical Medicine weltweit durch die Krise gestiegene Suizid-Zahlen.
Es ist gut, diese Umstände immer wieder ins Gedächtnis zu rufen.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.