Die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ und ihre Schlüsselwörter
13. November 2014 | Raffael Scholz
Wer den Neoliberalismus verstehen will, sollte den strategischen Einsatz von Schlüsselwörtern durch neoliberale Akteurinnen und Akteure beachten. Dies gilt nicht zuletzt auch und gerade für die wohl wichtigste neoliberale Lobby-Organisation in Deutschland, die selbsternannte „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“. Sie deutet Begriffe wie „Reform“, „Eigenverantwortung“, „Leistung“ und sogar „sozial“ geschickt um und verankert diese so erfolgreich in der öffentlichen Debatte. Der gesellschaftspolitische Erfolg des Neoliberalismus ist von seiner Sprache nicht zu trennen.
Der Linguist Martin Wengeler hat sich die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) mit Blick auf sprachliche Aspekte näher angeschaut. Ihm zufolge ist allein schon die Benennung der Initiative interessant, weil sie versucht „an die gesellschaftlichen und diskursiven Innovationen der bundesrepublikanischen Geschichte durch die Neuen Sozialen Bewegungen seit den 1970er Jahren“ anzuschließen, „für die Bürgerinitiativen und eben ihr Verständnis als soziale Bewegungen zentral sind“ (vgl. Wengeler 2008, S. 99). Die INSM versuche offensichtlich, Aktionsmuster und -formen der kritischen Opposition der Post-68er-Zeit zu kopieren (vgl. ebd., S. 100). Bemerkenswerter sei aber noch, dass die Initiative es geschafft habe, Begriffe wie Soziale Marktwirtschaft, Reform, Wachstum, Subventionen, Nachhaltigkeit und (Wirtschafts-) Standort in den Diskurs einzubringen und dort zu halten. Es sei
kein Zufall, dass gerade diese Schlüsselwörter in den Texten der INSM immer wieder vorkommen und sowohl als Basis für eine Vielfalt von neuen Komposita dienen, als auch in typischen Kollokationen und Verwendungszusammenhängen gebraucht werden. Während die Verwendung von ‚Soziale Marktwirtschaft‘ im Namen der Initiative im Diskurszusammenhang nur als Versuch gewertet werden kann, den ‚Begriff‘ im eigenen, wirtschaftsliberalen Sinn, der nicht der dominante im Diskurs ist, zu besetzen, kann die Initiative bei den fünf anderen ‚Begriffen‘ schon zum Zeitpunkt ihrer Gründung auf einen in ihrem Sinne gut ‚bestellten‘ Diskurs aufbauen, den sie mit ihren Aktivitäten unterstützt, forciert und diese Dominanz stärkt (ebd.).
Durch die Verwendung dieser Begriffe, „die nach nichts aussehen, aber eine ganze Philosophie im Schlepptau führen“ (Bourdieu 1998, S. 65), versuche die INSM ihre spezifischen ordnungspolitischen Ideen zu verbergen. Denn die Bedeutung dieser Begriffe werde durch deren selbstverständliche Verwendung im Sinne der INSM immer schon mitvermittelt, „weil sie präsupponiert, mitgemeint werden können aufgrund ihrer erfolgreichen Verankerung im Diskurs“ (Wengeler 2008, S. 100). So gibt sich die Initiative wertfrei und überparteilich.
Seit den 1990er Jahren tauche der Begriff „soziale Marktwirtschaft“ wieder im öffentlichen Diskurs auf. Anfang der 2000er sei das Wort zu einem der wichtigsten Begriffe des Wahlkampfs geworden, was bestätigt habe, dass „diskursive [wirtschaftspolitische] Positionen vorerst ausschließlich innerhalb der ‚Sozialen Marktwirtschaft‘ verortet werden können, wenn sie ernst genommen werden wollen“ (Nonhoff 2001, S. 203, zitiert nach Wengeler 2008, S. 101f.). Im öffentlichen Diskurs wird um die Deutung dieses Wortes gekämpft – in diesen Kampf greift die Initiative allein schon durch ihren Namen ein (vgl. ebd.).
Folgt man der Selbstdarstellung der INSM auf ihrer Webseite, so wird die neoliberalistische Ausrichtung ihrer Begriffsdefinition schnell deutlich. „Beschäftigungshürden“, etwa „Bürokratie“ und „hohe Lohnzusatzkosten“ – kurzum: alles, was angeblich „die Schaffung neuer Arbeitsplätze verhindert“ – sollen abgebaut, Steuern und Abgaben reduziert werden (vgl. INSM 2014). Schaut man sich die realen ordnungspolitischen Veränderungen in Deutschland seit der Gründung der Lobbyorganisation an, so kann behauptet werden, dass die INSM überaus erfolgreich war – die „Soziale Marktwirtschaft“ bewegt sich in Richtung der Vorstellungen der Initiative.
Eines der Schlüsselworte der INSM ist das der Reform. „Reformagenda, Reformindikator, Reformdividende, Reform-Prioritäten, Reformcluster, Reform-Kalendarium, Reform-Tief, Reformer des Jahres“ (Wengeler 2008, S. 102 f.) werden auf Grundlage des in den 1990er-Jahren im Diskurs etablierten Begriffsverständnisses benutzt. Für diesen Wandel des Reform-Begriffs war die bekannte „Ruckrede“ von Roman Herzog (vgl. Herzog 1997) ein wichtiger Bezugspunkt.
Der Rückzug des Staates und die stärkere Privatisierung und Deregulierung aller Lebensbereiche werden von Herzog als ‚liegen gebliebene Reform-Hausaufgaben‘ eingeführt. Durch die Kontextualisierung mit Schlagwörtern wie Eigenverantwortung, Leistung, Anstrengung und Wettbewerb wird Reform in einen neuen Bedeutungszusammenhang gerückt, der eine deutliche Abkehr vom Reformbegriff der 60er und 70er Jahre darstellt. […] Und genau in diesem Sinne hat die INSM für ihr Reformbarometer ein theoretisches Reformoptimum mit Reformindikatoren ausarbeiten lassen, das marktwirtschaftliche Reformen und Reformmodelle sowie das Reformkalendarium anderer Länder aufzeigt, mit denen die Reformer (des Jahres) anhand einer Reformagenda den eingeschlagenen Reformkurs mit den richtigen Reform-Prioritäten fortsetzen können, damit man im Konjunktur-Hoch nicht ins Reform-Tief ‚abgleitet‘ und zuletzt die Reformdividende in Form von mehr Wachstum und Beschäftigung und damit mehr Wohlstand für alle ‚ausgeschüttet‘ werden kann (Wengeler 2008, S. 103).
Die INSM trägt so ein Begriffsverständnis in die Öffentlichkeit, das dem des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, der FDP und des wirtschaftsliberalen Flügels der übrigen Parteien entspricht. Im nächsten Abschnitt wird der Erfolg dieser Strategie am Beispiel einer frühen Kampagne aufgezeigt.
„Sozial ist, …“
Im Oktober 2000 wurde der Initiative das erste Mal Aufmerksamkeit zuteil. Mit der Kampagne „Sozial ist, …“ trat die INSM auf Litfaß-Säulen und in Zeitungsanzeigen an die Öffentlichkeit. Dabei verwendete Slogans waren beispielsweise (zitiert nach Brand 2006):
- „Sozial ist, wer durch eigene Leistung zum Wohlstand für alle beiträgt“ (Hans Tietmeyer)
- „Sozial ist, wer sich nicht nur auf andere verlässt“ (Wolfgang Schäuble)
- „Sozial ist, wer durch Leistung Solidarität möglich macht“ (Siegmar Mosdorf)
- „Sozial ist, wer Bildungseliten fördert“ (Peter Glotz)
Die Kampagne ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie die INSM versucht, Begriffe – hier „sozial“ – umzudefinieren. Es gebe im Deutschen kaum ein Wort, das so positiv besetzt sei wie dieser Begriff, so die INSM in einer Stellungnahme zu der Kampagne. Er sei allerdings von seiner ursprünglichen Bedeutung weit entfernt, das müsse wieder gerade gerückt werden (vgl. Brand 2006, S. 147).
Statt gesellschaftlich vorteilhaftem Verhalten wurde staatlich organisierte Umverteilung zum Prinzip des Sozialen erhoben. Diese Entwicklung hat jedoch nicht nur die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme über die Grenzen des Erträglichen hinaus belastet. Auch Leistungsbereitschaft, Innovationsfähigkeit, Flexibilität und wirksame Unterstützung für die wirklich Schwachen der Gesellschaft sind zu kurz gekommen. Damit ist Vieles, was sozial genannt wird, in Wahrheit unsozial und unsolidarisch (zitiert nach Brand 2006, ebd.).
Die Kampagne schlug ein, durchdrang die Öffentlichkeit förmlich, wie die späteren Bezugnahmen der Politik auf den Slogan beweisen. Die CSU kürte das Motto zu ihrem Wahlkampfslogan im Jahr 2002 (vgl. Hinz 2002). Ein sogenanntes „Reformpapier“ der CDU war später so überschrieben (vgl. Spiegel Online 2004). CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla sagte im Mai 2008, „Sozial ist, was Arbeit schafft” sei „zentrales Leitbild der CDU“ (vgl. Pofalla 2008). Franz Josef Jung zitierte dies in seiner Antrittsrede als Arbeitsminister (vgl. Spiegel Online 2009). Der Slogan schaffte es in der Form „Denn was Arbeit schafft, ist auch sozial“ in das Programm der FDP zur Wahl des EU-Parlaments 2009 (vgl. FDP 2009, S. 31). Und 2011 sagte Sigmar Gabriel auf einer Demonstration vor dem Kanzleramt: „Sozial ist, was ‚gute Arbeit’ schafft“ (vgl. Faßmann 2011). Damit war der Slogan, wenn auch leicht verändert, auch in der SPD angekommen. Die Arbeit der INSM ist diesbezüglich als voller Erfolg zu bewerten.
Ganz neu war „Sozial ist, …“ übrigens nicht. Bereits 1932, auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, war eine ähnliche Kampagne in Tageszeitungen geschaltet worden. Der Slogan „Sozial ist, wer Arbeit schafft“ stammt aus der Feder von Alfred Hugenberg (1865–1951), dem damaligen Parteivorsitzenden der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) (vgl. Hinz 2002). Adolf Hitler berief ihn später als Wirtschafts-, Landwirtschafts- und Ernährungsminister in sein erstes Kabinett.
Literaturangaben
- Bourdieu, Pierre (1998): Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion. Konstanz.
- Brand, Tilman (2006): Ideologie auf leisen Sohlen. Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). In: Zeitschrift Marxistische Erneuerung (H. 65), S. 143–157.
- Faßmann, Alix (2011): „Sozial ist, was gute Arbeit schafft“. http://www.spd.de/aktuelles/9204/20110223_demo_kanzleramt_leiharbeiter.html, zuletzt geprüft am 26.04.2014.
- FDP (2009): Ein Europa der Freiheit für die Welt des 21. Jahrhunderts. Programm der Freien Demokratischen Partei zur Wahl des Europäischen Parlaments 2009. http://www.lambsdorffdirekt.de/de/files/content/pdf/eu-programm.pdf, zuletzt geprüft am 26.04.2014.
- Herzog, Roman (1997): Aufbruch ins 21. Jahrhundert. Berlin, 26.04.1997. http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1997/04/19970426_Rede.html, zuletzt geprüft am 26.04.2014.
- Hinz, Oliver (2002): Slogan aus Nazizeit. http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2002/08/16/a0023, zuletzt geprüft am 26.04.2014.
- INSM (2014): Alles über die INSM. http://www.insm.de/insm/ueber-die-insm/FAQ.html, zuletzt geprüft am 26.04.2013.
- Pofalla, Ronald (2008): Arbeit bekämpft Armut. http://www.presseportal.de/pm/6518/1193953/pofalla-arbeit-bekaempft-armut, zuletzt geprüft am 26.04.2014.
- Spiegel Online (2004): Reformpapier der Union: "Sozial ist, was Arbeit schafft". http://www.spiegel.de/politik/deutschland/reformpapier-der-union-sozial-ist-was-arbeit-schafft-a-289563.html, zuletzt geprüft am 26.04.2014.
- Spiegel Online (2009): Jungs Antrittsrede im Parlament: "Sozial ist, was Arbeit schafft". http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/jungs-antrittsrede-im-parlament-sozial-ist-was-arbeit-schafft-a-660712.html, zuletzt geprüft am 26.04.2014.
- Wengeler, Martin (2008): Das Merkelmeter mit seinem theoretischen Reformoptimum. In: Steffen Pappert (Hg.): Verschlüsseln, Verbergen, Verdecken in öffentlicher und institutioneller Kommunikation. Berlin. S. 85–110.
Bei diesem Artikel handelt es sich um einen überarbeiteten Ausschnitt aus der Diplomarbeit des Autors mit dem Titel „Neoliberalismuskritik mit Pierre Bourdieu. Von der Mont Pelerin Society zur Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“.
Raffael Scholz ist Soziologie-Student und arbeitet in der Frankfurter Drogenhilfe.