Christoph Scherrer: „Befürchtungen über negative Auswirkungen durch TTIP sind berechtigt“
4. November 2014 | Patrick Schreiner
Ein Interview mit Prof. Dr. Christoph Scherrer über das EU-US-Freihandelsabkommen und seine Auswirkungen auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Scherrer ist Direktor des International Center for Development and Decent Work an der Universität Kassel.
Befürworter/innen des geplanten EU-US-Freihandelsabkommens TTIP erwecken gerne den Eindruck, dass dessen Kritiker/innen in unverantwortlicher Weise Ängste schürten, während „Sachargumente“ in der Diskussion untergingen. Sie sind ein Kritiker des Abkommens. Was antworten sie auf solche Behauptungen?
Christoph Scherrer: Sicherlich wird manchmal übertrieben, doch grundsätzlich sind die Befürchtungen über mögliche negative Auswirkungen des Handelsabkommens berechtigt. Ein Beispiel: Die wissenschaftliche Evidenz ist überwältigend, dass Personen mit geringen Qualifikationen durch Freihandelsabkommen Gefahr laufen, im Laufe der Zeit schlechter bezahlt zu werden oder ganz ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Die Mainstream-Ökonomie liefert selbst dafür einen guten Grund. Durch die Zunahme des Handels mit Regionen, in denen das Qualifikationsniveau niedriger ist, wird das Angebot an Gütern, die mit geringer qualifizierten Beschäftigten hergestellt worden sind, zunehmen. Damit steigt insgesamt das Arbeitskräfteangebot gering Qualifizierter, so dass deren Löhne im reicheren Land zurückgehen werden. Zudem ist ein Freihandelsabkommen meist auch ein Investitionsabkommen, was grenzüberschreitende Investitionen erleichtert, und damit die Kapitalseite mobiler macht. Sprich, das Kapital kann glaubwürdiger mit Standortverlagerungen gegenüber den Lohnabhängigen drohen.
Das TTIP betrifft zudem die Konsumentinnen. Zwar kann angenommen werden, dass einige Produkte und Dienstleistungen aufgrund der gestiegenen Konkurrenz und günstigeren Produktionskosten in den USA billiger werden, doch dies wird auf Kosten des Verbraucherschutzes auf beiden Seiten des Atlantiks geschehen. In den Verhandlungen wollen europäische Firmen eine Lockerung der Finanzaufsicht in den USA durchsetzen, US-amerikanische Firmen hingegen wollen beispielsweise den Datenschutz aufgeweicht sehen. Bisher ist keine Forderung der jeweiligen Verhandlungsführung bekannt geworden, die auf höhere Standards abzielt. Eine Einigung in den Verhandlungen wird somit nur mit einer Absenkung von Standards möglich sein.
Welche negativen Folgen könnte TTIP für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben?
Christoph Scherrer: Wie bereits erwähnt, werden insbesondere Menschen mit am Arbeitsmarkt wenig nachgefragten Qualifikationen unter Druck geraten. Zudem sind Lohnabhängige natürlich auch Konsumentinnen und werden als solche vom Abkommen negativ betroffen. Es gibt aber auch Bereiche, bei denen anzunehmen ist, dass selbst gut ausgebildete Kräfte durch das TTIP schlechter gestellt werden. Dies gilt insbesondere für Dienstleistungen. US-amerikanische Unternehmen sind bestrebt, ihre Überlegenheit im Bereich des Internet auszunutzen, um die europäische Konkurrenz, die ihre Leistungen noch weniger über das Internet anbietet, auszubooten. Das derzeitige Verhalten von Amazon gegenüber Buchverlagen könnte zukunftsweisend sein. Nachdem nun Amazon fast eine Monopolposition errungen hat, versucht es, die Margen der Verlage deutlich zu kürzen. Ähnliches könnte auch in den Gesundheitsdienstleistungen erfolgen. So sind US-Firmen bereits in der Telemedizin führend. Wenn sie über das TTIP besser an Patientendaten herankommen, ist zu befürchten, dass sie den Pharmamarkt und die Patientenberatung überrollen werden. Doch auch das verarbeitende Gewerbe könnte unter der Internet-Dominanz US-amerikanischer Konzerne leiden, die zunehmend darüber bestimmen können, was den Kundinnen angeboten wird. Wer nicht dem Preisdiktat der Internetanbieter Folge leistet, wird es beim Absatz schwer haben.
Den Beschäftigten droht durch das TTIP noch weiteres Ungemach, denn sowohl die EU als auch die USA wollen den Unternehmen ein Klagerecht gegenüber staatlichen Entscheidungen vor einem Sondergericht ermöglichen, die sogenannte Investor-Staat-Streitschlichtung. Ein solches außergerichtliches Streitschlichtungsverfahren ermöglicht ausländischen Investoren, gegen Staaten zu klagen, wenn ihre Profiterwartungen aufgrund einer geänderten Gesetzeslage oder Verwaltungsbestimmung beeinträchtigt werden. Gerade sozialrechtliche und arbeitsrechtliche Regelungen der deutschen Gesetzgebung könnten künftig als investitionsschädigend betrachtet werden. Beispielsweise könnten (erweiterte) Mitbestimmungsrechte der Belegschaft oder die Einführung bzw. Anhebung gesetzlicher Mindestlöhne als (nachträgliche) Beeinträchtigung und Verletzung der unternehmerischen Investitionsfreiheit gewertet werden. Durch solche Verfahren werden staatliche Regulierungsmöglichkeiten eingeschränkt, wenn die entsprechenden staatlichen Körperschaften keine hohen Entschädigungszahlungen riskieren wollen. Zwar sollen Regeln im legitimen öffentlichen Interesse von einem solchen Verfahren ausgenommen sein, doch die Bestimmungen darüber, was ein „legitimes“ öffentliches Interesse darstellt oder was als „indirekte“ Enteignung angesehen werden kann, sind unpräzise formuliert.
Sie sagten eben, dass Freihandelsabkommen die Kapitalseite mobiler und Arbeitnehmer/innen dadurch erpressbarer machen. Wie ließe sich dies verhindern?
Christoph Scherrer: Verhindern durch Ablehnung des Abkommens. Da allerdings bereits der Handel mit Gütern und Dienstleistungen in vieler Hinsicht liberalisiert ist, kann Verhindern nur weitere Auswüchse betreffen. Deshalb ist es wichtig, dass sich auch die Gewerkschaftsbewegung weiter globalisiert und grenzüberschreitend solidarisch ist, um ein Gegeneinanderausspielen durch die Kapitalseite unmöglich zu machen.
Ein wesentlicher Kritikpunkt ist, dass durch TTIP Privatisierung und Liberalisierung befördert würden. Wie und weshalb genau würde das Freihandelsabkommen in dieser Richtung wirken?
Christoph Scherrer: Die Liberalisierung des Dienstleistungsbereichs, sprich die Öffnung gegenüber ausländischer Konkurrenz, ist explizit Teil des angestrebten TTIP. Da sowohl in den USA als auch in den meisten Mitgliedsländern der Europäischen Union wichtige Dienstleistungen, wie Gesundheit und Bildung, staatlich erbracht werden, zielt eine Liberalisierung des Dienstleistungssektors immer auch auf eine Öffnung der bisher staatlich organisierten Dienstleistungen für private Konzerne ab. Denn solange diese staatlich erbracht werden, ist es für die private Dienstleister sehr schwierig, Fuß zu fassen. Selbst wenn es nicht zu direkten Privatisierungen kommen wird, werden sich die staatlichen Dienstleister gezwungen sehen, die Preise für ihr Angebot auf der Basis einer Vollkostenrechnung festzusetzen (eine so genannte Kommerzialisierung staatlicher Dienstleistungen). Ein bereits derzeit geltendes Beispiel sind die Weiterbildungsangebote der Universitäten, die aufgrund der europäischen Dienstleistungsrichtlinie nur unter Erstattung der vollen Kosten erlaubt sind.
Vor dem Hintergrund des in den letzten Jahren erheblich angewachsenen Umfangs atypischer und niedrig entlohnter Beschäftigung, anhaltender Austeritäts- und Kürzungspolitiken und abgenommener Tarifbindung kann erwartet werden, dass mögliche Kommerzialisierungen und Privatisierungen vor allem im Dienstleistungsbereich vorrangig zur Schaffung atypischer Niedriglohnbeschäftigung genutzt werden. Die Ausdehnung des Niedriglohnbereiches hat negative Folgen für das allgemeine Lohnniveau und die „Normalarbeitsverhältnisse“.
Die EU-Kommission und viele Befürworter/innen des Abkommens aber argumentieren, dass Privatisierungen gar nicht Gegenstand der Verhandlungen seien und später entsprechend auch nicht Bestandteil des Abkommens sein werden…
Christoph Scherrer: Das Wort Privatisierung wird in der Tat wohl kaum im Abkommen auftauchen. Sollen jedoch, wie vorgesehen, die vom Abkommen ausgenommenen staatlichen Dienstleistungen begrenzt werden auf rein hoheitsrechtliche Dienstleistungen (wie Polizei und Verwaltungen), dann werden zur Gleichstellung der privaten Konkurrenz die nicht geschützten Bereiche entweder ihre Dienstleistungen zu vollen Kosten anbieten müssen oder diese werden privatisiert.
Dieser Artikel erschien zuerst in WISO-Info 2 (2014).
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.