"PEGIDA" und der Neoliberalismus
17. Dezember 2014 | Patrick Schreiner
Albrecht Müller hat heute auf den Nachdenkseiten einen Artikel veröffentlicht, in dem er Überlegungen vorstellt zu den Ursachen jüngerer Ausgrenzungs- und Rechtstendenzen, wie sie etwa in den Dresdner "PEGIDA"-Protesten zum Ausdruck kommen. Zu Recht betont Müller, dass die Gründe für den zunehmenden Rassismus und das zunehmende ausgrenzende Denken vor allem in der neoliberalen Politik der letzten Jahrzehnte zu suchen und zu finden sind. Eine kleine Ergänzung scheint aber sinnvoll.
In seinem Artikel "PEGIDA – Ohne Korrektur der Politik wird dieser oder ein ähnlicher Protest vermutlich zum Dauerproblem" fasst Albrecht Müller die Problematik treffend zusammen. So schreibt er unter anderem:
Es gibt viele Menschen, denen es nicht gut geht, und viele, die Angst um die Zukunft haben. Ihre Ängste sind bisher von der Politik nicht ernst genommen worden. Die Politik war im Gegenteil so angelegt, die Unsicherheit zu vermehren.
Ich empfehle den Text zur Lektüre.
Müller bzw. der von ihm ausführlich zitierte Nachdenkseiten-Autor J.K. benennen als Bestandteile und Folgen neoliberaler Politik beispielsweise
- die zunehmende soziale Ungleichheit,
- der Verlust an sozialer Sicherheit,
- die berechtigten Ängste der Menschen vor Statusverlust,
- die zunehmende gesellschaftliche Verrohung, gründend in einer immer umfassenderen sozialen Polarisierung,
- die zunehmende Konkurrenz zwischen den Menschen (etwa am Arbeitsmarkt), die zu Hass und Abgrenzungen und "Treten nach unten" führt,
- der neoliberale politische Einheitsbrei aller Parteien außer der Linkspartei, die genau wegen ihrer anti-neoliberalen Abweichung aber dämonisiert wird, sowie
- die Arroganz der herrschenden Klasse gegenüber den sozialen Bedürfnissen und Wünschen der Menschen.
All dies sind keine moralischen Rechtfertigungen und keine Entschuldigungen für ausgrenzendes, rechtes oder rassistisches Denken. Müller stellt dies mehrfach klar. Allerdings bieten die genannten Punkte sehr wohl eine Erklärung, die zu politischen Konsequenzen führen sollte. Die Kernaussage des Artikels lässt sich wie folgt zusammenfassen: Eine Politik, die auf sozialen Zusammenhalt, auf mehr Gleichheit und soziale Sicherheit setzt, ist die beste Prävention gegen ausgrenzendes, rechtes und rassistisches Gedankengut. Eine Politik hingegen, die weiter auf neoliberale Rezepte setzt, die weiter soziale Unsicherheit und Konkurrenz schafft, wird genau dieses Gedankengut befördern. So weit, so richtig.
Folgende Ergänzung erscheint mir an dieser Stelle allerdings sinnvoll: Die "PEGIDA"-Proteste sind nicht nur Proteste gegen angebliche "Islamisierung", gegen Migration und gegen Flüchtlinge, sondern auch (und vielleicht vor allem) gegen "die Politik" und "die Medien". Jüngst war auf der Webseite einer größeren deutschen Zeitung in einem Artikel zu lesen, dass in Dresden nicht bei der Kritik an Immigration oder Flüchtlingen, sondern bei der Kritik an den etablierten Parteien und Medien der Applaus am größten gewesen sei. (Blöderweise habe ich vergessen, wo der Artikel erschien, und ihn auch später nicht wiedergefunden.)
Wenn dies stimmt, so sollte dieser Umstand nicht überraschen. Tatsächlich greift eine Form der Demokratiekritik Raum, die "die Politiker" oder "die Politik" per se als Übel ansieht. Und zwar keineswegs nur in diesem Land, sondern etwa auch in Italien (M5S), Österreich (Team Stronach), Großbritannien (UKIP) und wohl auch anderswo. Es ist der jüngst von der Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlichten "Mitte-Studie" zu verdanken, dass wir heute mehr über verschiedene Formen der Demokratiekritik in Deutschland wissen (ab S. 85). In Kürze mit eigenen Worten zusammengefasst und interpretiert:
- Eine erste Form der Demokratiekritik beruht auf den eben genannten, pauschalen, undifferenzierten Zweifeln an "der Politik" oder an "den Politikern". Umfragen zeigen: Wer so denkt, der neigt überdurchschnittlich stark zu rassistischem und ausgrenzendem Denken sowie zur Wahlenthaltung und zu gesellschaftlicher Passivität.
- Eine andere Form der Demokratiekritik unterstellt, dass in der Demokratie wirtschaftliche Akteure – Konzerne, Wirtschaftsverbände – unbotmäßig viel Macht haben, die Interessen der breiten Massen hingegen zu kurz kommen. Umfragen zeigen: Wer so denkt, neigt weniger als der gesellschaftliche Durchschnitt zu Rassismus und Ausgrenzung und engagiert sich stärker in Parteien, bei Wahlen und in der Gesellschaft.
Offensichtlich gibt es also zwei Ventile, um Unzufriedenheit mit gesellschaftlichen und politischen Zuständen rauszulassen: Entweder als pauschale Ablehnung von Politik und Politiker/inne/n, dann häufig gepaart mit erstens der Ablehnung von Islam, Migration und Flüchtlingen sowie zweitens mit politischer Resignation. Oder als Ablehnung von Konzernen und Managern, dann häufig gepaart mit erstens stärkerem politisch-demokratischem Engagement sowie zweitens einer größeren Aufgeschlossenheit gegenüber Migrant/inn/en und Flüchtlingen.
Entscheidend scheint also zu sein, welchen Gegner die Menschen vor Augen haben, wenn sie das eigene Leben, die eigene soziale Unsicherheit, das eigene Elend und die eigenen Ängste zu verstehen versuchen.
Das zeigt: Der Kampf gegen Rassismus und Ausgrenzung verlangt nicht nur eine sozialere, eine nicht-neoliberale Politik. Er verlangt vielmehr auch eine ausdrückliche politische Polarisierung gegenüber denen, die von neoliberaler Politik, von zunehmender Ungleichheit und von schlechten Löhnen profitieren. Eine Polarisierung also gegen Vermögende, Konzerne und ihre politischen Marionetten; mit einem Wort: gegen das Kapital. Nur mit einem solchen Antagonismus kann es gelingen, die Verantwortlichen für soziale Unsicherheit, für Armut und Statusangst, für Sozialabbau und Entsolidarisierung auch zu benennen und zu bekämpfen. Und nur auf diese Weise kann den "PEGIDA"-Anhänger/inne/n klargemacht werden, dass nicht Islam, Migration und Flüchtlinge schuld sind.
Salopp formuliert: Den Menschen politische Alternativen anzubieten, bedeutet nicht nur, ihnen eine andere Politik, sondern auch, ihnen einen anderen (den tatsächlichen) Gegner anzubieten.
Wenn hingegen das gesamte politische Spektrum von Mitte-Links bis Mitte-Rechts darauf beharrt, dass (a) neoliberale Politik alternativlos sei und (b) den Anhänger/inne/n von "PEGIDA" und Co. alleine mit moralisierendem Verbal-Antirassismus begegnet werden müsse bzw. dürfe, dann wird sich an der Misere nichts ändern. Dann werden Unzufriedenheit, Statusangst und soziale Unsicherheit der Menschen weiterhin in pauschale Ablehnung von "der Politik", Politiker/inne/n, Islam, Migrant/inn/en und Flüchtlingen münden.
Es sind vor diesem Hintergrund in erster Linie SPD und Grüne aufgerufen, sich – anders als bisher – entsprechend zu positionieren. Sie müssen nicht nur politische, sondern auch grundlegende weltanschauliche Alternativen bieten. Dazu müssen sie wiederum einen programmatischen Antagonismus entwickeln. Von CDU/CSU wird dies leider kaum zu erwarten sein; sie dürften eher versuchen, selbst am rechten Rand zu fischen. Erste Annäherungsversuche an "PEGIDA" gibt es ihrerseits ja längst, wie auch Annäherungsversuche an die AfD.
Abschließend sei angemerkt, dass ein interessanter Artikel mit dem Titel "Die Schuld der politischen Mitte" auch im Blog der Wochenzeitung "Freitag" erschienen ist. Er hat eine ähnliche Stoßrichtung wie der Albrecht Müllers, bringt aber noch ein paar zusätzliche Beispiele. So verweist er etwa auf den deutschen Exportwahn als ein Element des neuen Nationalismus in der deutschen Politik:
Wer ständig stolz auf die Wirtschaftsleistungen des Wirtschaftsstandorts Deutschland verweist und die prekäre Situation in anderen EU-Ländern, die zumindest teilweise aus dem niedriglohngestützen Exportüberschuss der BRD resultiert, nicht damit in Zusammenhang bringt und erklärt, schadet dem europäischen Gedanken – und kreiert ein Bild der „Umzingelung“ der angeblich so fleißigen, armen Deutschen.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.