Überausbeutung von Migrant_innen: Empörung reicht nicht
6. März 2015 | Sebastian Friedrich, Jens Zimmermann
Die Überausbeutung von Migrant_innen ist Kennzeichen eines rassistisch segmentierten Arbeitsmarkts. - Seit Jahren wird von beharrlich-nationalkonservativer bis flexibel-neoliberaler Seite darüber diskutiert, wie viele Migrant_innen denn nach Deutschland kämen, um auf der faulen Haut zu liegen. Das Fatale an der Diskussion: Auch manche Linke tappen in die Diskursfalle und lassen sich auf die herrschenden Koordinaten der Debatte ein, etwa wenn sie darauf verweisen, dass Migrant_innen unter dem Strich durchaus etwas »nützen«. Anstatt ebenfalls Kosten-Nutzen-Rechnungen ins Feld zu führen, sollten derartige Bilanzen besser in den Mülleimer geworfen werden. Ein Anker für einen Perspektivwechsel ist die Thematisierung von Arbeitsbedingungen überausgebeuteter Arbeitsmigrant_innen und Wanderarbeiter_innen in Deutschland.
Ein Fall aus Berlin, der vor Wochen für Aufsehen sorgte, ist hierfür exemplarisch: Der Bau des Einkaufszentrums »Mall of Berlin« wurde auch durch über Subunternehmen angestellte Arbeitskräfte aus Rumänien realisiert, die fünf Euro Stundenlohn erhalten sollten. Als selbst dieser spärliche Lohn nicht komplett bezahlt wurde, trat mit Unterstützung der FAU Berlin eine Gruppe der Arbeiter in den Streik. Der Arbeitskampf sorgte bundesweit für Aufsehen. Viele ähnliche Fälle mieser Arbeits- und Lebensbedingungen von Arbeitsmigrant_innen und Wanderarbeiter_innen sind in den vergangenen Jahren öffentlich geworden, nicht nur in der Bauwirtschaft, sondern auch im Care-Sektor, in der Fleischindustrie, in der Logistikbranche sowie in der Werftindustrie. Die Fälle sind sich sehr ähnlich. Die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeitsmigrant_innen sind sehr prekär, da sie kaum Arbeitsschutz genießen und durch ausbleibende Lohnzahlungen werden die Reproduktionskosten meist unter das Existenzminimum gedrückt. Die durch kämpferische Streiks, solidarische Aktionen und engagierte Journalist_innen öffentlich gemachten Skandale sind allerdings keine bedauerlichen Einzelfälle. Vielmehr sind sie Ausdruck der spezifischen Ausbeutung von Migrant_innen im rassistisch segmentieren Arbeitsmarkt.
Weniger Lohn, mehr Prekarität
Migrant_innen, die rechtlich als »Ausländer« geführt werden, die im Jahr 2000 eine Vollzeitbeschäftigung in Deutschland aufgenommen haben, verdienten laut einer Studie der Bundesagentur für Arbeit (BA) deutlich weniger als ihre deutschen Kollegen. Das durchschnittliche Lohnniveau von als »Ausländer« geführten Migrant_innen lag im Jahr 2008 bei einem Anteil von 72 Prozent des durchschnittlichen Lohnniveaus von »Deutschen«. (1) Offizielle Zahlen der BA zeigen auch: Migrant_innen verdienen häufiger als deutsche Arbeiter_innen so wenig, dass sie mit Arbeitslosengeld II (Hartz IV) aufstocken müssen. Insgesamt waren im Juni 2013 von den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten 29,6 Prozent erwerbstätig. Der Anteil der erwerbstätigen ALG-II-Bezieher_innen an der Gesamtzahl der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten lag zur gleichen Zeit bei Staatsbürger_innen aus Bulgarien, Rumänien, Griechenland, Portugal, Italien und Spanien bei deutlich über 35 Prozent. (2) Schließlich belegt eine weitere Analyse der BA aus dem Juni 2014, dass die Arbeitslosenquote von »Ausländern« mit 13,8 Prozent deutlich höher liegt als die von deutschen Staatsbürger_innen, bei denen die Quote 5,8 Prozent beträgt. (3) Anhand der Zahlen der BA kann festgehalten werden, dass Migrant_innen im Durchschnitt einem deutlich höheren Risiko der Arbeitslosigkeit ausgesetzt sind und deutlich niedriger entlohnt werden als deutsche Arbeitskräfte.
Gegenwärtig funktioniert die Ausbeutung und der Einsatz von Arbeitsmigrant_innen und Wanderarbeiter_innen vor allem dank Werkverträgen. Ein weiteres Instrument ist die Leih- und Zeitarbeit, von der wiederum vor allem Migrant_innen betroffen sind. Sandra Siebenhüter hat in einer Studie den Zusammenhang von Migration und Leiharbeit untersucht. Zunächst lasse sich ein Zusammenhang von Leiharbeit und Wirtschaftskonjunktur feststellen. Nicht umsonst gelte Leiharbeit als Konjunkturindikator. So würden bei Konjunktureinbrüchen vor allem Leiharbeiter_innen entlassen. In den Krisenjahren 2008/2009 waren migrantische Arbeitskräfte stärker als Deutsche von Konjunktureinbrüchen am Leiharbeitsmarkt betroffen, denn sie sind weitaus häufiger als Hilfskräfte beschäftigt und werden damit als erste bei Auftragsschwankungen entlassen. (4)
Das Beispiel Fleischindustrie
All dies bedeutet: Arbeitsmigrant_innen und Wanderarbeiter_innen werden unter spezifischen Bedingungen ausgebeutet. Leiharbeit, Werkverträge und prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse sind dabei zwar keine alleinigen Merkmale von Arbeitsmigration, sondern kapitalistische Alltagsrealität, aber sie funktionieren im Fall von Arbeitsmigration als rassistische Praxis, in dem Arbeitsmigrant_innen eine juristische Sonderstellung auferlegt wird und diese politisch-symbolisch legitimiert wird. Die antirassistische Zeitschrift Hinterland brachte es vor einigen Jahren auf den Punkt: Der Zusammenhang von Migration und Arbeit ist insofern ein rassistischer, »als bei der Vergabe von Papieren, beim Zugang zu Ressourcen und beim Verfügen über kulturelles Kapital die ganze Kette rassistischer Zuschreibung, Deklassierung und Unterwerfung zum Tragen kommt«. (5) Doch die Bedingungen aus Perspektive der Arbeiter_innen ist nur die eine Seite der Ausbeutung im Rahmen des kapitalistischen Akkumulationsprozesses. Zu Fragen ist auch nach der anderen Seite des Klassenverhältnisses: Wer in welcher Weise davon profitiert, zeigt das Beispiel der Fleischindustrie eindrücklich.
Die deutsche Schlacht- und Fleischindustrie bezieht ihre Dominanz auf dem europäischen Markt vor allem aus den im Vergleich zu anderen Standorten extrem geringen Produktionskosten. Deutschland gilt in der Branche als ausgesprochenes »Billiglohnland«. Trotz des zuletzt schwachen Binnenabsatzes konnte in der Fleischindustrie 2012 ein Rekordumsatz von 37 Milliarden Euro eingefahren werden, was sich zu einem Teil durch die Dominanz auf dem europäischen und die Neuerschließung des chinesischen Marktes erklären lässt. Darüber hinaus sind aber auch Veränderungen in der Produktion für diese Profitentwicklung maßgeblich verantwortlich: Die Ausbeutung der Arbeitskraft ist schlicht profitabler geworden: Zwischen 2008 und 2012 stieg der Umsatz pro geleisteter Arbeitsstunde von 221 auf 267 Euro an. Auf der anderen Seite sank die Lohnquote im gleichen Zeitraum von 6,6 Prozent auf 5,8 Prozent. (6) Neben der veränderten Zusammensetzung der Belegschaft sind es aber auch die schnelleren Produktionsrhythmen (jede Stunde werden 750 Tiere getötet) und längeren Arbeitszeiten (bis zu 12-Stunden-Schichten), die forcierte Ausbeutung ermöglichen.
Ein Großteil der in der Fleischindustrie angestellten Arbeiter_innen wird mittlerweile über Leiharbeit und Werkverträge angestellt - nach Schätzungen der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) in manchen Betrieben bis zu 90 Prozent. Ein Großteil der Arbeiter_innen wird dabei aus mittel- und osteuropäischen Ländern entsendet. Diese Arbeitsmigrant_innen müssen zum Teil auf dem Werksgelände wohnen und ihr Schlachtwerkzeug selbst bezahlen. Miete und Werkzeug werden direkt vom Lohn abgezogen. Die beachtliche Produktivitäts- und Profitsteigerung innerhalb der Fleischindustrie wurde offensichtlich maßgeblich durch die intensive Ausbeutung von Arbeitsmigrant_innen möglich gemacht.
Arbeitsmigrant_innen werden in der Fleischindustrie eingesetzt, um erstens massiv die Lohn- und damit Produktionskosten zu senken, zweitens Lohndruck auf die sozialversicherungspflichtig angestellte Rumpfbelegschaft auszuüben, drittens die Arbeitskraft strategisch und politisch durch eine Vielzahl prekärer Arbeitsverhältnisse zu fragmentieren und viertens soziale Verhältnisse zu produzieren, die durch rassistische Diskurse kapitalistische Ausbeutung legitimieren. Alle vier genannten Dimensionen bilden die Grundlage des exportbasierten Akkumulationsmodells der hiesigen Fleischindustrie.
Die angesprochenen Mechanismen, die eine intensivere Ausbeutung der Arbeitskraft möglich machen, sind beileibe kein Exklusivmerkmal von Arbeitsmigrant_innen. Leiharbeit, Werkverträge und Scheinselbstständigkeit dienen als institutionelle Grundlage für die »flexible Reserve«, mit der nach Bedarf der Unternehmen verfahren werden kann. Von dieser allgemeinen Tendenz des gegenwärtigen Kapitalismus sind Arbeitsmigrant_innen durch einen rassistisch segmentierten Arbeitsmarkt besonders betroffen. Die Spezifika der Ausbeutung von Arbeitsmigant_innen und Wanderarbeiter_innen lässt sich mit dem Begriff der Überausbeutung begreifen. Diese lässt sich von der grundlegenden Ausbeutung unterscheiden, die analytisch die Aneignung der Mehrarbeit durch das Kapital bezeichnet, die Bedingungen für Profit.
Analyse der Ãœberausbeutung
Überausbeutung wird möglich durch rechtliche Konstruktionen (Staatsbürgerschaft, Leiharbeit, Werkverträge), rassistische Diskurse und Klassenkampf von oben. Arbeitsmigrant_innen ist laut dem Jenaer Soziologen Klaus Dörre ein »auf relativer Entrechtung und Entwurzelung basierender Sonderstatus« zu eigen, der »bewirken soll, dass kostengünstige Arbeitskraft vorhanden ist, welche sich für die unattraktiven Segmente des Arbeitsmarktes mit ihren wenig qualifizierten, stark belastenden und gering entlohnten Arbeiten mobilisieren lässt«. (7)
Überausbeutung macht es möglich, dass über Leiharbeit Arbeitsmigrant_innen juristisch-legal zu extrem niedrigen Löhnen angestellt werden können. Dies erlaubt eine intensivere Ausbeutung der Arbeitskraft durch Verringerung der Produktionskosten. Entweder, indem ein im Verhältnis zum gesellschaftlichen Durchschnitt geringerer Lohn gezahlt wird oder indem die Arbeitszeit im Verhältnis zum gesellschaftlichen Durchschnitt verlängert wird. Überausbeutung ist insofern eine ökonomische Kategorie, Teil kapitalistischer Aneignung von Mehrarbeit. Überausbeutung, wie wir sie beschrieben haben, funktioniert nur, wenn es Diskurse sowie juristische, politische und ökonomische Praktiken gibt, die »migrantische Arbeitskraft« formieren und ihre Ausbeutung »unter dem Schnitt« legitimieren. Rassismus als soziale Praxis findet sich in kapitalistischen Klassenverhältnissen daher nicht allein auf der Ebene diskursiver Zuschreibungen, sondern sedimentiert sich in spezifischen Formen kapitalistischer Ausbeutung. Diese aktuellen Prozesse und Zustände unterliegen Aktualisierungen und Modifizierungen, die rasant stattfinden.
Eine Linke sollte diese Prozesse auch begrifflich benennen, um nicht bei moralischer Empörung stehen bleiben zu müssen. Wir appellieren deshalb, die Auseinandersetzungen im Feld Europa, Migration und Arbeit nicht durch die herrschenden Prämissen des Armutseinwanderungsdiskurses diktieren zu lassen, sondern den Zusammenhang von Migration und Kapitalismus prominenter auf die linke Agenda zu setzen. Anknüpfungspunkte für praktische Solidarität gibt es genügend, denn nicht nur die Streikenden bei der »Mall of Berlin« dürften sich über Streikunterstützung und andere Formen des Supports freuen.
Der Artikel erschien zuerst in Analyse&Kritik Nr. 601.
Sebastian Friedrich ist Journalist und Publizist aus Hamburg. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Sozialstaatsdiskurse, Neue Rechte, AfD, Kritische Soziale Arbeit, Diskursanalyse sowie Klassenanalyse. Als @formelfriedrich twittert er regelmäßig. Seine Homepage: sebastian-friedrich.net.
Jens Zimmermann ist Mitarbeiter des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS) und beschäftigt sich u.a. mit der Verschränkung von Rassismus und Klassenherrschaft.