21,4 oder 38,7 Prozent atypisch Beschäftigte – wie problematisch hätten Sie’s denn gern?
27. April 2015 | Markus Krüsemann
Anlässlich einer Anfrage der Linksfraktion im Bundestag zur Entwicklung des Normalarbeitsverhältnisses präsentierte die Bundesregierung in ihrer Antwort von letzter Woche altbekannte Zahlen: Seit 1993 ist die Zahl der atypisch Beschäftigten gestiegen, um im Jahr 2013 einen Anteil von 21,4 Prozent der Beschäftigten zu erreichen. Nach anderen Berechnungen hat der Anteil allerdings bei 38,7 Prozent gelegen. Die Erklärung für die Diskrepanz ist einfach, sie ist aber auch ein Politikum.
Die Print- und Online-Medien hatten in der letzten Woche in großer Bandbreite berichtet: „Der Anteil der Vollzeitbeschäftigten mit unbefristeten Arbeitsverträgen ist zwischen 1993 und 2013 deutlich gesunken“, hieß es etwa bei Sueddeutsche.de, dies ist „ein Rückgang um 7,2 Prozent, während der Anteil der atypisch Beschäftigten in der Zeit von 13,1 auf 21,4 Prozent anstieg.“ Damit, so Spiegel online, ist der „Anteil von Teilzeit, Befristungen, Zeitarbeit und geringfügigen Beschäftigungen (…) in den vergangenen 20 Jahren um 70 Prozent gestiegen.“
Der hier angesprochene Trend einer Erosion des Normalarbeitsverhältnisses (vollzeitnahe, unbefristete Beschäftigung ohne Leiharbeit) bei gleichzeitiger Zunahme atypischer Beschäftigungsformen wie Teilzeitarbeit, Minijobs, Befristungen und Leiharbeit ist natürlich schon länger bekannt und dokumentiert. Doch auch die genannten Zahlen sind nicht neu. Sie beruhen auf einer Auswertung von Daten des Mikrozensus 2013, die das Statistische Bundesamt bereits im November 2014 veröffentlicht hatte. Von den insgesamt 35,63 Millionen Kernerwerbstätigen gingen 2013 demnach 7,64 Millionen im Haupterwerb einer atypischen Beschäftigung nach, was dem oben erwähnten Anteil von 21,4 Prozent entspricht.
Eine andere Quelle, die seit Jahren über die Entwicklung atypischer Beschäftigung Auskunft gibt, ist die regionale Datenbank "Atypische Beschäftigung" des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Auf der Basis einer Auswertung von Statistiken der Bundesagentur für Arbeit (BA) (wie auch von Daten des Statist. Bundesamtes) werden hier die Anteile der in Teilzeit, Leiharbeit oder Minijobs Tätigen an allen abhängig Beschäftigten ausgewiesen.
Für 2013 hat das WSI 34,96 Millionen Beschäftigte gezählt, von denen 13,52 Millionen im Haupterwerb atypisch beschäftigt waren. Dies entspricht einem Anteil von 38,6 Prozent. Mittlerweile liegen bereits Daten zum Jahr 2014 vor (siehe miese-jobs.de: Bericht vom 13.04.2015). Danach ist die Quote der atypisch Beschäftigten sogar auf 39,0 Prozent angestiegen. Fast vier von zehn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern hätten damit kein Normalarbeitsverhältnis mehr gehabt.
Die Differenzen zwischen den beiden genannten Quellen sind beträchtlich. Auf der einen Seite stehen 2013 gut 7,64 Millionen atypisch Beschäftigte mit einem Beschäftigungsanteil von 21,4 Prozent. Auf der anderen Seite 13,52 Millionen bei einer Quote von 38,6 Prozent. Wie kommen solche Diskrepanzen zustande, und wer hat nun recht? Die Erklärung ist zunächst einfach: Sie liegt in unterschiedlichen Berechnungsmethoden. Sie ist aber auch ein Politikum, denn wer recht hat, das ist eine Frage der Interpretation und politischen Bewertung. Schauen wir aber zunächst darauf, wie die Zahlen des Mikrozensus zustande kommen.
So rechnet der Mikrozensus
Für die statistische Erhebung des Mikrozensus werden alljährlich etwa ein Prozent aller Haushalte zu ihrer wirtschaftlichen und sozialen Situation sowie zu ihrer Haupterwerbstätigkeit befragt. Erfasst werden dabei sowohl Angaben der abhängig Erwerbstätigen als auch der Selbstständigen und der mithelfenden Familienangehörigen. Nicht berücksichtigt werden hingegen Schüler/innen, Studierende, Auszubildende und Rentner/innen (siehe die Erläuterung des Statistischen Bundesamtes).
Die so definierte Grundgesamtheit nennt das Stat. Bundesamt „Kernerwerbstätige“: alle erwerbstätigen Personen im Alter von 15 bis 64 Jahren, soweit sie nicht in Bildung oder Ausbildung sind. Als atypisch beschäftigt gelten im Mikrozensus alle Erwerbstätigen, wenn sie im Haupterwerb einer geringfügigen Beschäftigung (Minijob) nachgehen oder nur befristet oder in Leiharbeit beschäftigt sind oder einen Teilzeitjob von weniger als 21 Stunden haben.
Wie die obige tabellarische Gegenüberstellung zeigt, erklärt sich der mit 21,4 Prozent vergleichsweise geringe Anteil atypisch Beschäftigter zunächst durch eine sehr umfassend definierte Grundgesamtheit. Würde man die wohl kaum von atypischer Beschäftigung betroffenen Selbstständigen und Familienhelfer/innen außen vor lassen und sich auf die Gruppe der abhängig Erwerbstätigen beschränken, so würde sich der Anteil der atypisch Beschäftigten der 24 Prozent-Marke nähern. Natürlich wirkt sich auch dämpfend aus, dass schon Teilzeitarbeit von mehr als 20 Wochenstunden als Normalarbeitsverhältnis gewertet wird.
So rechnet das WSI
Die regionale Datenbank „atypische Beschäftigung“ hat einen anderen Berechnungsansatz. Zwar werden auch hier nur Personen im Hauptbeschäftigungsverhältnis gezählt. Erfasst werden aber alle sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und Minijobber/innen, während Selbstständige und mithelfende Familienangehörige nicht berücksichtigt werden. Als atypisch beschäftigt gelten zudem nur die im Haupterwerb geringfügig Beschäftigten (Minijobs), Beschäftigte in Leiharbeit und Teilzeitbeschäftigte – die aber schon dann, sobald ihre regelmäßige Wochenarbeitszeit kürzer ist als bei einer vergleichbaren Vollzeitkraft.
Der deutlich höhere Anteil von 38,7 Prozent atypischer Beschäftigung beruht ganz überwiegend auf einer viel großzügigeren Definition von Teilzeitbeschäftigung und darauf, dass bei den Minijobs auch Rentner/innen sowie Personen in Bildung und Ausbildung mitgezählt wurden.
Was stimmt? – Vergleichbarkeit unterschiedlicher Angaben kaum möglich
Hinter der dargestellten Diskrepanz zweier Quoten verbirgt sich auch ein generelles Problem, denn atypische Beschäftigungsverhältnisse werden statistisch leider nicht eindeutig erfasst. Da es zu fast jeder Form dieser Beschäftigungsverhältnisse unterschiedliche Datenquellen gibt, weisen die verfügbaren Quellen unterschiedliche Werte aus.
Die Ursachen für abweichende Angaben beginnen wie gezeigt bereits bei der Erfassung der Grundgesamtheit. Mal werden nur Kernerwerbstätige berücksichtigt, mal werden Schüler/innen, Studierende oder auch Rentner/innen mit einbezogen, die Selbstständigen aber außen vorgelassen.
Hinzu kommt, dass die verschiedenen Beschäftigungsformen unterschiedlich definiert werden. Im vorliegenden Fall betrifft dies insbesondere die Definition von Teilzeitbeschäftigung. Des Weiteren werden nicht immer dieselben Beschäftigungsformen gleichermaßen bei der Erfassung atypischer Beschäftigung berücksichtigt. Manche Quellen beschränken sich auf Teilzeit, Leiharbeit und Minijobs, andere ziehen Angaben zur befristeten Beschäftigung, manche auch zu Solo-Selbstständigkeit und Werkvertragsarbeit hinzu.
Und nicht zuletzt stellt sich das Problem, wie man den Gesamtumfang atypischer Beschäftigungsverhältnisse messen will. Einzelne Beschäftigungsformen sind nicht überschneidungsfrei, sodass sie sich nicht immer trennscharf voneinander abgrenzen lassen (z.B. Befristung und Teilzeit vs. befristete Teilzeitarbeit).
Bei dem hier vorgenommene Vergleich sind im Übrigen alle vier Auswahlkriterien für die teils deutlich abweichenden Zahlenangaben verantwortlich: unterschiedliche Grundgesamtheit, abweichende Definitionen einzelner Beschäftigungsformen, variierender Einbezug der einzelnen atypischen Beschäftigungsformen sowie die nicht immer trennscharfe Abgrenzung von Beschäftigungsformen. Wie sehr dadurch die Angaben abweichen können, das veranschaulicht abschließend die folgende Gegenüberstellung.
Regulär und atypisch Beschäftigte 2013 im Quellenvergleich
Unschwer zu erkennen ist noch einmal die deutliche Diskrepanz bei der Zahl der atypisch Beschäftigten. Während trotz unterschiedlicher Datenquellen die Angaben zur Gesamtzahl der Erwerbstätigen und auch zur Zahl der in Vollzeit beschäftigten Arbeitnehmer/innen nur wenig voneinander abweichen, weist das Statistische Bundesamt nur fast halb so viele atypisch Beschäftigte aus wie die WSI-Datenbank. Dafür sind v.a. zwei Gründe verantwortlich: erstens gelten im Mikrozensus alle Beschäftigten mit mehr als 20 Wochenstunden bereits als Normalarbeitende und zweitens (Stichwort Kernerwerbstätige) werden dort mit Schüler/innen, Studierenden, Auszubildenden und Rentner/innen gerade jene Gruppen nicht berücksichtigt, die sehr oft einer atypischen Beschäftigung nachgehen.
Und wer hat recht? – nicht nur eine Frage der politischen Bewertung
Der vom Statistischen Bundesamt errechnete Anteil markiert sozusagen die rechnerisch mögliche Untergrenze, die durch eine vorab gewählte Grundgesamtheit noch seriös erreicht werden kann. Hier wird quasi von der Nachfrageseite (die Erwerbstätigen) her die Zahlenbasis so moduliert, dass eine eher geringe Quote atypisch Beschäftigter herauskommt. Mag die Reduktion auf Kernerwerbstätige dabei noch sinnvoll sein, der Einbezug der 3,8 Mio. selbstständig Erwerbstätigen in die Grundgesamtheit kann dann schon als eine irreführende Verringerung des Anteils atypischer Beschäftigungsformen aufgefasst werden.
Das Vorgehen des Statistischen Bundesamtes ist vielleicht tendenziös, aber nicht falsch. Ebenso richtig ist es aber auch, sich wie das WSI quasi von der Angebotsseite zu nähern, also für die Grundgesamtheit die Gesamtzahl der tatsächlich von Arbeitgebern angebotenen atypischen Beschäftigungsverhältnisse zu ermitteln. Weil so die ganze Bandbreite der Erwerbstätigkeit abgebildet wird, fließen in viel höherem Maße auch jene Bevölkerungsgruppen in die Berechnungen mit ein, die schon immer einen hohen Anteil von Erwerbsformen jenseits des Normalarbeitsverhältnisses aufgewiesen haben.
Natürlich werden all jene, denen die Deregulierung des Arbeitsmarktes, die Flexibilisierung der Arbeit und die Verbilligung der Ware Arbeitskraft noch nicht weit genug geht, sich an den Zahlen des Statistischen Bundesamtes orientieren (und diese, wo es geht, noch kleinreden). Wer jedoch einen gesamtgesellschaftlichen Blick auf die Qualität von Arbeit an sich wirft, der kann an den Zahlen des WSI das ganze Ausmaß der Ausweitung unsicherer und vergleichsweise schlechter bis niedrig entlohnter Jobs ablesen, durch die ein von existentieller Not freies Leben für atypisch Beschäftigte in weite Ferne rückt.
Die Frage nach den „richtigen Zahlen“ ist aber nicht nur eine Frage der Interpretation und der politischen Bewertung. Sie ist vielmehr eine Frage der politischen, aber auch der gesellschaftlichen Übereinkunft darüber, wie viel atypische Beschäftigung eigentlich ermöglicht werden soll, für welche Beschäftigtengruppen solche Stellen vielleicht sogar Sinn machen und - vor allem - wie auch eine vom Normalarbeitsverhältnis abweichende Beschäftigung nicht nur eine im individuellen Lebenszusammenhang wünschenswerte, sondern auch existenzsichernde Alternative bieten kann. Antworten darauf geben keine Tabellen, sondern die politische Praxis.
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Quellen:
Die Entwicklung des Normalarbeitsverhältnisses in den einzelnen Bundesländern. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Jutta Krellmann, Klaus Ernst, Susanna Karawanskij, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE, BT-Drucksache 18/4638 (April 2015).
http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/18/046/1804638.pdf
Süddeutsche.de vom 21.05.2015
http://www.sueddeutsche.de/karriere/atypische-beschaeftigungsformen-anteil-regulaerer-jobs-nimmt-ab-1.2444856
Spiegel online vom 21.05.2015
http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/teilzeit-befristungen-minijobs-atypische-jobs-nehmen-zu-a-1029642.html
Pressemitteilung Nr. 418 des Statist. Bundesamtes vom 26.11.2014 http://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2014/11/PD14_418_132.html;jsessionid=F39355A8BCA74F007422AA675B4E31F3.cae3
Weiterlesen:
WSI-Datenbank „Atypische Beschäftigung“
http://www.boeckler.de/apps/atypischebeschaeftigung/index.php
Lakies, T. (2013): Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses oder: Wie prekär ist der Arbeitsmarkt? In Gegenblende, Nr. 22, Juli/August 2013.
http://www.gegenblende.de/++co++36f0d0a0-efbb-11e2-a2a2-52540066f352
Bosbach, G./ Korff, J. J. (2012): Lügen mit Zahlen. Wie wir mit Statistiken manipuliert werden, München.
http://www.luegen-mit-zahlen.de/
Markus Krüsemann ist Soziologe und Mitarbeiter am Göttinger Institut für Regionalforschung. Unter www.miese-jobs.de betreibt er ein Informationsportal zu atypischen und prekären Beschäftigungsformen.