Hirndoping am Arbeitsplatz - Ergebnisse des DAK Gesundheitsreports 2015
3. September 2015 | Anil Atasayar
In diesem Artikel wird anhand des im März erschienenen Gesundheitsreports 2015 der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) dargestellt, inwiefern in den letzten Jahren die Verwendung verschreibungspflichtiger, leistungssteigernder oder stimmungsaufhellender Medikamente am Arbeitsplatz zugenommen hat und in welchen Teilen der Arbeitnehmerschaft diese Mittel vorranging benutzt werden.
In der genannten Studie wurde untersucht, wie viele Arbeitnehmer ohne medizinische Notwendigkeit zu verschreibungspflichtigen Medikamenten greifen. Der Fachbegriff hierfür lautet „pharmakologisches Neuro-Enhancement“. Gemeint ist damit die Einnahme von Medikamenten zum Beispiel zur Behandlung von Nervosität und Unruhe, Depressionen sowie Mittel gegen starke Tagesmüdigkeit. Die Bezugsquellen reichen dabei von der Weitergabe durch Freunde, Bekannte und Angehörige, der Verschreibung durch einen Arzt bis hin zu der Bestellung ohne Rezept im Internet. Ausgenommen von der DAK-Untersuchung sind Medikamente und Drogen, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen.
Es gibt zwar vorangegangene und größere Studien aus den USA, diese sind aber schwierig auf Deutschland anzuwenden. Befragungen an Universitäten und in der Allgemeinbevölkerung eignen sich naturgemäß ebenfalls nicht zur Untersuchung der Verbreitung von Hirndoping unter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Die einzige vollständig vergleichbare Befragung in Deutschland wurde von der DAK selbst im Jahr 2008 durchgeführt. Aufgrund der relativen Neuartigkeit des Themas könnte sich in diesem Zeitraum die Verwendung von Aufputschmitteln bereits stark verändert haben. Weiter wurde in der aktuellen Studie der Dunkelziffer durch angepasste Befragungstechniken besondere Aufmerksamkeit beigemessen. Überhaupt sind die Befragungen stark von den verwendeten Fragetechniken abhängig. Diese müssen den Befragten unmittelbar erfahrbare Anonymität garantieren, da diese ansonsten dazu tendieren, verfälschte oder sozial erwünschte Angaben zu machen.
Die DAK verwendet in ihrer aktuellen Studie vier „Analyselinien“:
- Verbreitung und Gebrauchsmuster von pharmakologischem Neuro-Enhancement
- Gründe für die Nicht-Verwendung entsprechender Substanzen
- Möglicher Zusammenhang zwischen Arbeitsbedingungen und pharmakologischem Neuro-Enhancement
- Mögliche Zunahme von Doping am Arbeitsplatz
Im Folgenden wird vornehmlich die dritte Analyselinie zum möglichen Zusammenhang zwischen Arbeitsbedingungen und pharmakologischem Neuro-Enhancement behandelt, um die Frage zu klären, ob unsichere bzw. prekäre Beschäftigungsverhältnisse Doping am Arbeitsplatz befördern.
Neben der Analyse von 2,6 Millionen Arzneimitteldatensätzen von erwerbstätigen Versicherungspflichtigen wurden zusätzlich 5.017 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Alter von 20-50 Jahren befragt. Dabei stellte die DAK fest, dass knapp drei Millionen Erwerbstätige (6,7 Prozent) schon mindestens einmal Hirndoping betrieben haben, in dem vergleichbaren DAK-Report von 2008 waren es noch 4,7 Prozent. Inklusive einer hohen Dunkelziffer haben über 12 Prozent, also circa fünf Millionen Erwerbstätige, schon einmal stimmungsaufhellende oder leistungssteigernde Medikamente zu sich genommen (oder sie nehmen es aktuell). Laut der Studie dopen sich knapp eine Million Arbeitnehmer (1,9 Prozent) regelmäßig. 4,2 Prozent dopen sich mindestens zweimal im Monat – eine Steigerung gegenüber 2,2 Prozent im Jahr 2008. Unter den restlichen Beschäftigten sind weitere 10 Prozent dem Hirndoping gegenüber prinzipiell aufgeschlossen. Zudem hat auch das Wissen um die Möglichkeiten des Hirndoping seit 2008 deutlich zugenommen (von 44,9 Prozent auf 69,3 Prozent).
Die Bildung der jeweiligen Befragten spielt dabei keine gewichtige Rolle. Akademikerinnen und Akademiker tendieren nur geringfügig, nämlich um 0,3 Prozent, mehr zum Gebrauch entsprechender Medikamente (3,4 Prozent gegenüber 3,1 Prozent bei Nicht-Akademikern). Das Tätigkeitsniveau spielt dagegen eine größere Rolle. Die Studie zeigt folgenden Zusammenhang auf: Je einfacher das Tätigkeitsniveau, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, zumindest irgendwann einmal Hirndoping zu betreiben. Ungelernte Beschäftigte mit einfacher Tätigkeit haben zu 8,5 Prozent schon einmal verschreibungspflichtige Medikamente zu sich genommen, (hoch-)qualifizierte Arbeiter mit höherer oder gehobener Tätigkeit weisen hingegen nur einen Nutzeranteil von 5,1 Prozent aus. Beschäftigte mit einem befristeten Arbeitsvertrag verwenden zu einem höheren Anteil Medikamente als unbefristet Beschäftigte (7,5 Prozent gegenüber 6,4 Prozent).
Bei der Arbeitsplatz- und Beschäftigungssicherheit zeigt sich, dass Erwerbstätige, die sich ihres Arbeitsplatzes sicher sind, seltener Aufputschmittel verwenden als Erwerbstätige, die es für wahrscheinlich halten, dass sie ihren Arbeitsplatz verlieren. Die Unterschiede bezeichnet die DAK als erheblich. Gleiches gilt für die Chancen auf dem Arbeitsmarkt: Erwerbstätige, die es für sehr wahrscheinlich oder eher wahrscheinlich halten, dass sie im Falle der Arbeitslosigkeit eine neue Stelle finden, nutzen leistungssteigernde oder stimmungsaufhellende Medikamente eindeutig seltener als Beschäftigte, die nicht zuversichtlich sind. Entgegen der landläufigen Meinung, dass Manager öfter Aufputschmittel nutzen als ihre Angestellten, ist der Nutzeranteil unter Führungskräften weit weniger verbreitet.
Die oben genannten Befunde stützen die These, dass prekäre Beschäftigungsverhältnisse Hirndoping am Arbeitsplatz befördern. Fehlende Beschäftigungssicherheit und Arbeitsplatzsicherheit erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Hirndoping betreiben. Bestimmte Merkmale der Arbeit, zum Beispiel sehr hohe Leistungsanforderungen, geringe Fehlertoleranz und die Anforderung, Gefühle im Griff haben zu müssen, gehen mit einer höheren Neigung einher, Medikamente zur Leistungssteigerung oder Stimmungsaufhellung einzusetzen.
Zu diesem Schluss kommt auch Professor Marc Ziegenbein, Doktor der Medizin und Facharzt für Sozialpsychiatrie, Psychiatrie und Psychotherapie, in einem Interview mit der Hannoverschen Tageszeitung „Neue Presse“ vom 18.03.2015: „Bei drohendem Arbeitsplatzverlust entsteht ein besonders hoher Druck. Oder man hat das Gefühl, ich schaffe es gerade noch, meine Familie über die Runden zu bringen, von mir hängt so extrem viel ab – das erzeugt natürlich zusätzlichen Stress.“ Für Ziegenbein ist das ein gesellschaftliches Problem: „Auf der anderen Seite müssen wir uns kritisch fragen, zu was für Krankheitsschauplätzen die von uns selbst definierte Leistungsgesellschaft führt.“
Literatur:
- DAK-Gesundheit: DAK Gesundheitsreport 2015.
- Hägermann, Inken: „Immer mehr definieren sich über Leistung“. Interview mit Marc Ziegenbein. In: Neue Presse Hannover vom 18.03.2015.
Der Artikel erschien zuerst in WISO-Info 2 (2015).
Anil Atasayar studiert Politikwissenschaften an der Universität Hannover.