KAPOVAZ, Arbeit auf Abruf – ein ganz mieses Teilzeitmodell
29. Oktober 2015 | Markus Krüsemann
Eine Teilzeitbeschäftigung kann für Beschäftigte eine Alternative sein, Erwerbstätigkeit und private Lebensgestaltung besser zu vereinbaren – zumindest dann, wenn sie ein existenzsicherndes Auskommen ermöglicht und nicht unfreiwillig ausgeübt werden muss. Die Arbeitsflexibilität, die Teilzeit generell ermöglicht, wird allerdings nur selten nach den Bedürfnissen der Beschäftigten ausgerichtet, sondern folgt überwiegend den betrieblichen Anforderungen. Mit dem Modell der Arbeit auf Abruf wird die Flexibilisierung zulasten der ArbeitnehmerInnen auf die Spitze getrieben.
Bei der Arbeit auf Abruf, in der Sprache der Personaler auch kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit (KAPOVAZ) genannt, erbringen die Beschäftigten einen Großteil ihrer Arbeitsleistung je nach betrieblichem Arbeitsanfall. Sie arbeiten also nach Bedarf, über dessen Vorliegen allein der Arbeitgeber entscheidet. Sowohl Lage als auch Umfang der von den Beschäftigten zu erbringenden wöchentlichen Arbeitsleistung kann der Arbeitgeber kurzfristig (laut Gesetz mindestens vier Tage im Voraus) und nach Gutdünken festlegen. Der Zeitraum zwischen den einzelnen Arbeitseinsätzen gilt als sogenannte Rufbereitschaft und wird (anders als Bereitschaftsdienst) nicht bezahlt. Im Extremfall befinden sich KAPOVAZ-Beschäftigte also in ständiger Arbeitsbereitschaft.
Über den Anteil der Beschäftigten, die Arbeit auf Abruf leisten, liegen abweichende Angaben vor. Ein WSI-Report vom November 2014 geht davon aus, dass mittlerweile acht Prozent der Betriebe in Deutschland Arbeit auf Abruf nutzen. Von dem Modell wären dann etwa 5,4 Prozent aller abhängig Beschäftigten betroffen. Andere, auf Arbeitgeberbefragungen beruhende Quellen nennen auch höherer Anteilswerte. Abrufarbeit ist insbesondere im verarbeitenden Gewerbe, im Bereich Wasserversorgung, im Handel, Gast- und Baugewerbe sowie im Verkehrsbereich verbreitet.
Die Vorteile dieser Beschäftigungsform liegen allein bei den Betrieben und Unternehmen. Sie können ihre interne Flexibilität nahezu kostenlos steigern, Leerzeiten minimieren und dabei noch Arbeitskosten reduzieren. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist das Modell jedoch mit großer Unsicherheit verbunden.
Die Beschäftigten haben meist einen Teilzeitvertrag mit einer sehr geringen Zahl an fest vereinbarten Arbeitsstunden. Je nach Arbeitsanfall arbeiten sie dann mal mehr, mal weniger Stunden pro Woche zusätzlich. Vom Einkommen aus den garantierten geringen Mindeststunden allein können sie nicht leben. Auch wissen sie nie, wie viel Geld sie am Ende des Monats tatsächlich verdienen werden. Nicht nur die finanzielle, auch die private Lebensplanung ist stark beeinträchtigt. Eine vorausschauende Planung von Aktivitäten ist kaum möglich, da nicht vorhersehbare Arbeitseinsätze alle Planung über den Haufen werfen können. Auch die ganz normale Freizeitgestaltung muss der steten Rufbereitschaft angepasst werden.
Ab und an Regale auffüllen oder Briefe sortieren...
Um welch absurde und für die Betroffenen würdelosen Jobkonstruktionen es sich bei der Arbeit auf Abruf handeln kann, das zeigt schlaglichtartig ein im Sommer in der Landeszeitung für die Lüneburger Heide erschienener Bericht über die Arbeit einer Regalauffüllerin.
Die dort beschriebene Arbeitnehmerin hat einen Minijob im Umfang von 16 Stunden pro Monat. Eigentlich füllt sie zweimal die Woche Regale in einem Drogeriemarkt auf. Eigentlich, denn es handelt sich um einen Job auf Abruf, und sie weiß nie genau, wie viele Stunden sie arbeiten wird. Da sie selbst bei voller Stundenzahl nicht von der Arbeit leben kann, bezieht sie als Aufstockerin zusätzliche Arbeitslosengeld II-Leistungen vom Jobcenter.
Auch die Deutsche Post setzt in großem Stil auf Abrufkräfte. Laut Schätzungen der Gewerkschaft ver.di gab es im August 2015 bei der Post etwa 10.000 Abrufstellen in Vollzeit. Die Abrufkräfte arbeiten als Aushilfen in den Briefzentren, sortieren Briefe, stempeln Umschläge und erhalten nur tageweise einen Arbeitsvertrag. Es handelt sich also um regelrechte Tagelöhner, die nicht einmal einen Teilzeitvertrag mit ein paar fest vereinbarten Arbeitsstunden haben. So führt sie ihr erster Weg nach Dienstantritt jedes Mal in das Büro des Vorgesetzten, wo sie ihren neuen Arbeitsvertrag unterzeichnen. Ob sie am nächsten Tag wieder einen Job erhalten, das wissen sie nicht. Wenn die Post sie nicht braucht, werden sie nicht angerufen und können arbeitslos zuhause bleiben. Kündigungen braucht es nicht.
Beispiele wie diese gibt es viele. Sie zeigen, dass Arbeit auf Abruf eine besonders extreme Form der atypischen und prekären Beschäftigung ist. Das unternehmerische Risiko wird voll auf die Beschäftigten abgewälzt. Im Gegenzug erhalten sie dafür eine schwankende Entlohnung, kaum Einkommenssicherheit und einen nicht planbaren Alltag. Leben auf Abruf.
Im Vereinigten Königreich setzt man auf „zero hour contracts“
Arbeitgeber im Vereinigten Königreich haben zwischen echten Tagelöhnern und Teilzeitbeschäftigten mit kleinem Stundenkontingent eine profitable Nische entdeckt, die Null-Stunden-Verträge. Einer Schätzung des »Office for National Statistics« zufolge hatten im Dezember 2014 etwa 700.000 Personen zero hour contracts unterzeichnet. Viele von ihnen arbeiten gleich für mehrere Arbeitgeber, denn die Gesamtzahl solcher Jobs ohne feste Stundenzahl und ohne festes Gehalt belief sich auf rund 1,8 Millionen. Da vertraglich nicht einmal eine Mindestbeschäftigungszeit festgelegt wird, ist der Arbeitgeber nicht verpflichtet, Arbeit anzubieten, gearbeitet wird nur dann, wenn Arbeit anfällt. Und natürlich wird auch nur für die Arbeit gezahlt, die auch geleistet worden ist. Wenn gar keine Arbeit anfällt, gehen die Beschäftigten auch beim Lohn leer aus. Garantiertes Mindesteinkommen? Fehlanzeige.
Englands moderne TagelöhnerInnen sind die Opfer einer Strategie der totalen Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Eine Alltags-, geschweige denn Lebensplanung ist nicht möglich. Sie wissen nie, was sie am Monatsende verdient haben werden und sind immer wieder auf die Unterstützung der staatlichen Wohlfahrt angewiesen, um ihren Lohn aufzustocken.
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Zum Weiterlesen:
- "Job-Absage per SMS - Eine Regalaufstockerin berichtet". Landeszeitung.de vom 22.07.2015
- „Die Deutsche Post will Tagelöhner einsparen“. RP Online vom 12.09.2015
- „Deutsche Post: Ein Heer von Tagelöhnern“. Zeit online vom 20.10.2015
- "Britische Minijobs: Am Nullpunkt des Arbeitsmarkts". FAZ.net vom 20.04.2015
- Absenger, N./ Ahlers, E. u.a. (2014): Arbeitszeiten in Deutschland, Kap. 5, S. 36-41. WSI Report, Nr. 19, Düsseldorf.
Markus Krüsemann ist Soziologe und Mitarbeiter am Göttinger Institut für Regionalforschung. Unter www.miese-jobs.de betreibt er ein Informationsportal zu atypischen und prekären Beschäftigungsformen.