Claudia Weinkopf: "Wenn ein Mindestlohn gilt, dann muss er auch kontrolliert werden"
1. Juli 2015 | Patrick Schreiner
Ein Interview mit Claudia Weinkopf über die ersten Erfahrungen mit dem Mindestlohn in Deutschland. Claudia Weinkopf ist Diplom-Volkswirtin. Seit 2007 ist sie Stellvertretende Geschäftsführende Direktorin des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen.
Über Sinn oder Unsinn des Mindestlohns wird heftig gestritten. Wie ist ihre Einschätzung einige Monate nach seiner Einführung in Deutschland?
Claudia Weinkopf: Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland war überfällig. Man hat aus meiner Sicht viel zu lange zugelassen, dass seit etwa Mitte der 1990er Jahre immer mehr Beschäftigte in Deutschland für niedrige Stundenlöhne arbeiten mussten. Im Jahr 2012 arbeitete fast ein Viertel der abhängig Beschäftigten für weniger als 9,30 Euro pro Stunde und Stundenlöhne von weniger als 6 Euro waren keine Seltenheit. Möglich wurde dies unter anderem durch den deutlich gesunkenen Anteil von Betrieben und Beschäftigten mit tariflich geregelten Löhnen und auch durch die erheblichen Lohnunterschiede zwischen einzelnen Branchen, die die Verlagerung von Tätigkeiten in Bereiche mit niedrigeren Tariflöhnen oder auch gänzlich tariflose Zonen begünstigt haben. Dadurch wurden Geschäftsmodelle ermöglicht, die auf Lohndumping basieren, was auch andere Unternehmen unter Druck gesetzt hat, nach immer neuen Möglichkeiten zu suchen, die Lohnkosten zu drücken.
Die Klagen aus Politik und Wirtschaft über den Mindestlohn als „Bürokratiemonster“ halte ich für völlig überzogen. Wenn ein Mindestlohn gilt, dann muss er auch kontrollierbar sein. Dafür ist die Dauer der geleisteten Arbeitszeit eine unverzichtbare Größe. Die Erfahrungen mit Mindestlöhnen im In- und Ausland belegen, dass Unternehmen ihren Frieden mit dem Mindestlohn schließen, wenn sie sich darauf verlassen können, dass sich auch die Konkurrenz daran hält.
Ist der mit dem Mindestlohn einhergehende Aufwand für Arbeitgeber in Deutschland höher als in anderen Staaten, die einen Mindestlohn haben?
Claudia Weinkopf: Nein, denn die Nachweispflicht in Deutschland bezieht sich ja nur auf bestimmte Branchen, die im Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz genannt werden, und darüber hinaus für alle Beschäftigten mit Minijobs (außer in Privathaushalten). In Frankreich müssen demgegenüber für alle Beschäftigten, die keine regelmäßigen festen Arbeitszeiten haben, Stundennachweise geführt werden.
Prognosen aus dem letzten Jahr zufolge sollte die konjunkturelle Entwicklung nach unten gehen, die Schuld daran wurde auch der Einführung des Mindestlohns gegeben. Nun geht es mit der Konjunktur entgegen solcher Prognosen nach oben…
Claudia Weinkopf: Vor allem von Seiten mancher Wirtschaftsforschungsinstitute und vom Sachverständigenrat hat es tatsächlich seit Jahren teils apokalyptische Warnungen vor mehr oder weniger großen Beschäftigungsverlusten gegeben. Dies hat auch mit dazu beigetragen, dass es so lange gedauert hat, bis der Mindestlohn in Deutschland eingeführt worden ist. Die positive Entwicklung am Arbeitsmarkt deutet darauf hin, dass die Wirtschaft den Mindestlohn gut verkraften kann. Es ist sicher nicht ausgeschlossen, dass einzelne Unternehmen Beschäftigten kündigen müssen, weil sich ihre Geschäftsmodelle, die auf schlechter Bezahlung basieren, nicht mehr fortführen lassen. Aber das heißt noch lange nicht, dass auf gesamtwirtschaftlicher Ebene die Beschäftigung sinkt. Aufträge und Beschäftigte können auch von anderen Unternehmen übernommen werden.
Dass in den ersten Monaten nach Einführung des Mindestlohns die Zahl der Minijobs rückläufig gewesen ist, ist aus meiner Sicht kein Problem. Wenn der Mindestlohn dazu beiträgt, die vermeintliche Attraktivität von Minijobs zu verringern, halte ich dies vielmehr für eine aus vielerlei Gründen begrüßenswerte Entwicklung. Aus Befragungen ist ja bekannt, dass viele geringfügig Beschäftigte sich längere Arbeitszeiten wünschen, der Übergang in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aber unter den bisherigen Bedingungen eher selten gelungen ist.
Lässt sich schon einschätzen, ob der Mindestlohn tatsächlich den Beitrag im Kampf gegen Niedriglöhne leistet, den er leisten soll?
Claudia Weinkopf: Dies hängt aus meiner Sicht entscheidend davon ab, ob die Einhaltung des Mindestlohns in Deutschland wirksam kontrolliert und in der Praxis auch durchgesetzt wird. Die zahlreichen Anrufe bei den Hotlines des DGB und des Bundesarbeitsministeriums wie auch Presseberichte über teils recht abenteuerliche Versuche von Arbeitgebern, den Mindestlohn auf die eine oder andere Art zu unterlaufen, sprechen aus meiner Sicht dafür, dass noch viele offene Punkte zu klären sind. Die Bundesregierung und auch die Sozialpartner auf der Branchenebene müssen – bildlich gesprochen – „am Ball bleiben“ und deutlich signalisieren, dass es ihnen wirklich ernst mit der Durchsetzung des Mindestlohns ist. Ein wichtiger Punkt ist hierbei ein möglichst rascher Ausbau der Kapazitäten der Finanzkontrolle Schwarzarbeit, die ja für Kontrollen und auch Sanktionen bei Verstößen gegen den Mindestlohn zuständig ist. Wünschenswert wäre auch, dass Beschäftigte bei der Geltendmachung von vorenthaltenen (Mindest-) Lohnansprüchen nicht auf den individuellen Klageweg verwiesen würden, sondern dabei – wie in einigen europäischen Nachbarländern üblich – bei Bedarf gezielte Unterstützung durch Kontrollinstanzen erhalten.
Nicht zuletzt möchte ich daran erinnern, dass die Mindestlohneinführung in Deutschland eingebettet ist in ein Maßnahmenbündel zur Stärkung der Tarifautonomie. Das ist wichtig und richtig, denn die internationale Mindestlohnforschung hat auch gezeigt, dass die Kombination von gesetzlichen Mindestlöhnen und einer hohen Tarifbindung am wirksamsten zur Eindämmung des Niedriglohnsektors beiträgt. Der Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde soll ja eine Lohnuntergrenze sein, die spätestens ab Anfang 2017 nicht mehr unterschritten werden darf, aber nicht der neue Normallohn für viele Beschäftigte. Insofern bedarf es weiterer Anstrengungen, die Tarifbindung in Deutschland wieder (deutlich) zu erhöhen.
Sie sprechen von „gezielter Unterstützung durch Kontrollinstanzen“ – schließt dies ein Verbandsklagerecht für Gewerkschaften ein?
Claudia Weinkopf: Ja, ein solches Verbandsklagerecht der Gewerkschaften gibt es zum Beispiel in Frankreich und den Niederlanden. In Großbritannien können die so genannten „Compliance Offi cers“ Beschäftigte bei gerichtlichen Auseinandersetzungen über vorenthaltene Mindestlohnansprüche unterstützen.
Der Artikel erschien zuerst in WISO-Info 2 (2015).
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.