Wahlenthaltung in neoliberalen Gesellschaften: Wenn Individualisierung und Armut zusammenkommen
9. September 2015 | Patrick Schreiner
Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung lieferte jüngst neue Hinweise für einen Zusammenhang, der seit einigen Jahren regelmäßig diskutiert wird: Arme gehen seltener wählen als Reiche. Für eine Demokratie, in der idealerweise und prinzipiell die Interessen aller Menschen vertreten werden sollen, ist dies ein Problem. Und es verstärkt sich noch, wenn Gesellschaften individualistischer werden – wie die neoliberalen seit Jahrzehnten.
Wirklich überraschend ist der Befund der Bertelsmann-Studie nicht: Armut erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass jemand nicht wählen geht; soziale Ungleichheit ist damit ein Problem für Demokratien. Und individualistische Haltungen der Menschen haben den gleichen Effekt.
Zum einen determinieren die soziale Lage und Ungleichheit die Wahlbeteiligung. Je sozial prekärer die eigene Lage und das persönliche Umfeld geprägt sind, umso geringer ist die Wahlbeteiligung. Soziale Ungleichheit schadet deshalb der Wahlbeteiligung und der Demokratie. Darüber hinaus determinieren aber auch die Einstellungen, Werte und Verhaltensnormen das Wahlverhalten: Je stärker die Werthaltungen sich an Traditionen, Pflichtbegriffen und Status orientieren, umso höher ist die Wahlbeteiligung. Und je stärker ein Milieu sich der Individualisierung, Selbstverwirklichung und experimentellen Neuorientierung verschreibt, desto geringer ist die Wahlbeteiligung. Der Erklärungsstrang der Werte und Einstellungen wirkt dabei schichtübergreifend.
In neoliberalen Gesellschaften fallen soziale Ungleichheit und Individualismus zusammen. Die Konsequenzen, die sich aus diesem doppelten Wirkmechanismus ergeben, sind verheerend. Individualismus als Haltung ist zunehmend in allen sozialen Milieus und Klassen vorzufinden, eben auch bei Angehörigen der unteren Klassen. Das Auf-Sich-Geworfen-Sein, das Es-Selbst-Schaffen-Wollen, das Jeder-Ist-Sich-Selbst-Der-Nächste wird seit Jahrzehnten in sozialpolitischen Debatten gepredigt, es schlägt einem mit jedem Hartz-IV-Formular entgegen, wird in Talkshows ebenso breitgetreten wie in Lebenshilfe-Ratgebern und Castingshows gefeiert, in Fitness-Studios praktiziert und in Bildungseinrichtungen vermittelt.
Die Anthropologin Diana Reiners hat vor einigen Jahren in einer gelungenen Studie zu Haltungen und Einstellungen junger Migrantinnen und Migranten dargelegt, dass und wie dieser Individualismus gerade auch von denen verinnerlicht wird, die in besonderem Maße unter sozialer und rassistischer Ausgrenzung zu leiden haben:
Die Diskurse einer Individualisierung, die die Verantwortlichkeit für den Erfolg oder Misserfolg und die soziale Ungleichverteilung von Chancen den Individuen zuschreiben und damit verhindern, dass individuell erscheinende Schicksale als Ausdruck kollektiver sozialer Bindungen und Machtungleichheitsverhältnisse verstanden werden können, führen gerade bei jenen Jugendlichen, die die geringsten Chancen haben, zur Wahrnehmung der sozialen Welt als Kampf nach dem Prinzip des survival of the fittest.
Gerade die jungen Menschen mit den "geringsten Chancen" lernen die Welt also als "Kampf nach dem Prinzip survival oft the fittest" kennen. Und wer die soziale Welt als solchen kennenlernt, der wird Schwierigkeiten haben, sein Eigeninteresse an demokratischem Streit und kollektiver Interessenvertretung zu erkennen. Der wird Machtverhältnisse nicht hinterfragen. Und das gilt gewiss nicht nur für Jugendliche mit Migrationshintergrund.
Die für neoliberale Gesellschaften typische, zunehmende soziale Ungleichheit ist damit für Demokratien ein doppeltes Problem: Sie führt zu ungleicher Wahlbeteiligung und bestärkt Ideologien, die den gleichen Effekt haben. Was die Machtverhältnisse schleichend immer weiter zu Ungunsten der unteren Klassen verschiebt.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.