Konkurrenzvorteile durch Hirndoping?
16. Februar 2016 | Patrick Schreiner
Mit etwas Verzögerung gegenüber der Entwicklung im angelsächsischen Sprachraum kommt seit einigen Jahren auch in Deutschland und Europa eine Debatte um das so genannte "Hirndoping" in Gang. Diskutiert werden insbesondere die Fragen, in welchem Umfang Menschen heute ohne medizinische Notwendigkeit leistungs- und stimmungssteigernde Mittel zu sich nehmen und wie dies moralisch und politisch zu beurteilen ist. Sehr viel wichtiger ist aber die Frage, weshalb Menschen dies tun.
Der wissenschaftliche Fachbegriff hierfür lautet "Neuro-Enhancement". Dieser (je nach Sichtweise) Gebrauch bzw. Missbrauch leistungs- und stimmungssteigernder Mittel scheint weiter verbreitet zu sein, als man gemeinhin annehmen mag. Und obwohl es keine verlässlichen Untersuchungen zu dieser Frage gibt, kann man mit guten Gründen annehmen, dass ihre Verbreitung im Zeitverlauf auch in Europa zunimmt.
Eine Studie der Deutschen Angestellten-Krankenkasse ergab schon 2009, dass 18,5 Prozent der Befragten eine oder mehrere Personen kennen, die schon einmal "Medikamente zur Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit oder Stimmung" eingenommen haben. Unter den weiblichen Befragten betrug dieser Wert sogar 22,2 Prozent. Etwa 4,7 Prozent der Befragten haben angegeben, dass sie selbst schon einmal entsprechende Mittel ohne medizinische Notwendigkeit eingenommen haben, unter weiblichen Befragten waren es sogar 5,9 Prozent. Bei den Männern, die leistungs- oder stimmungssteigernde Mittel ohne medizinische Notwendigkeit eingenommen haben, taten dies die meisten (39,2 Prozent), um Angst, Nervosität und Unruhe zu bekämpfen; bei den Frauen waren depressive Verstimmungen der wichtigste Grund (50,1 Prozent).
Eine DAK-Studie zur Verbreitung von Hirndoping unter Erwerbstätigen aus dem Jahr 2015 ergab, dass 6,7 Prozent der Befragten nach eigener Aussage schon mindestens einmal stimmungs- oder leistungssteigernde Mittel eingenommen hatten. Bei heiklen Themen wie diesem neigen die Befragten allerdings – trotz zugesicherter Anonymität – dazu, falsche und sozial erwünschte Antworten zu geben. Eine ausgefeiltere Fragemethodik ergab, dass der tatsächliche Wert mit etwa 12,1 Prozent wohl deutlich höher liegt. Auch in dieser Befragung zeigte sich, dass Frauen Hirndoping etwas häufiger betreiben als Männer.
Angestellte nehmen häufiger als Arbeiter oder Selbständige leistungs- oder stimmungssteigernde Mittel ein – und diese wiederum häufiger als Beamte. Und anders, als man möglicherweise intuitiv vermuten würde, nimmt die Neigung zu Hirndoping mit zunehmendem Bildungsgrad nicht zu, sondern ab: Hochqualifizierte greifen seltener zu entsprechenden Stoffen als An- und Ungelernte. Ein wesentlicher Grund dafür dürfte die Arbeitsplatzsicherheit sein. Je sicherer ein Arbeitsplatz ist, desto seltener setzen Erwerbstätige stimmungs- und leistungssteigernde Mittel ein.
Die recht weite (und wohl zunehmende) Verbreitung mag überraschen, wenn man sich vor Augen führt, dass nach heutigem Forschungsstand allenfalls bei sehr wenigen Substanzen eine Wirksamkeit belegbar ist und zu langfristigen Nebenwirkungen und Schäden keine Erkenntnisse vorliegen. Schon weniger überraschend ist dieser Umstand aber, wenn man die wachsende Bedeutung von "Leistung" und Konkurrenz in Betracht zieht. Heutige Gesellschaften sind neoliberale Konkurrenz- und Leistungsgesellschaften – was nicht nur das Erwerbsleben, sondern auch den Alltag der Menschen bis ins Kleinste prägt. Intention der Konsumentinnen und Konsumenten von Hirndoping-Mitteln ist es, die eigene Leistung zu steigern und damit Konkurrenzvorteile gegenüber anderen zu erlangen (bzw. Konkurrenznachteile auszugleichen), etwa durch eine bessere Konzentrationsfähigkeit, weniger Müdigkeit, mehr Kreativität, eine bessere Stimmung oder ein besseres Gedächtnis.
In neoliberalen Gesellschaften haben Menschen schlicht zu funktionieren – geistig, emotional, körperlich, ästhetisch. Erfolg, Anerkennung und ökonomische Teilhabe sind daran geknüpft, gegenüber anderen geistig die Nase vorn zu haben, körperlich fitter zu sein und besser auszusehen. So zeigt die zweite DAK-Studie, dass Hirndoping vor allem bei jenen Erwerbstätigen verbreitet ist, die ihre Gefühle im Griff haben müssen, die an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit arbeiten oder deren Arbeit keine Fehlertoleranz kennt. Ein Ergebnis, das nicht überraschen kann.
Der Weg zum (vermeintlichen) persönlichen Glück ist zunehmend daran gebunden, fitter, besser, kontrollierter, schneller, schöner, konzentrierter, vernetzter, fleißiger als andere zu sein. Schon die banalste populäre Alltagskultur vermittelt diese Anforderungen – von Ratgeberliteratur über Castingshows bis hin zu Sozialen Netzwerken im Internet. Wer in diesem Konkurrenzkampf zurückbleibt, droht in Zeiten von Niedriglöhnen und Sozialabbau, von wachsender Ungleichheit und Klassenhass immer tiefer zu fallen. Der Druck auf die Einzelnen nimmt umso mehr zu, je mehr Solidarität und Gemeinschaftlichkeit wegbrechen.
Insofern ist es zumindest verkürzt, die Frage nach dem gesellschaftlichen Umgang mit Hirndoping auf ein simples Pro oder Contra, Ja oder Nein einzuengen. 2009 hat eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit einem Manifest "Das optimierte Gehirn" für Aufsehen gesorgt. Sie plädieren darin für die Entscheidungsfreiheit jedes und jeder Einzelnen im Umgang mit Hirndoping:
Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist das Recht eines jeden entscheidungsfähigen Menschen, über sein persönliches Wohlergehen, seinen Körper und seine Psyche selbst zu bestimmen. Diese Perspektive ist weder willkürlich noch verhandelbar: Sie ist durch das Grundgesetz vorgegeben und entspricht ethisch wie politisch der gesellschaftlichen Grundüberzeugung in einem liberalen Rechtsstaat. Begründungsbedürftig ist demzufolge nicht die Freiheit, NEPs zu nehmen – begründungsbedürftig sind vielmehr Einschränkungen dieser Freiheit!
Dies ist eine typisch liberale Antwort auf eine falsche Frage. Typisch liberal, weil sie die sozialen Kontexte individuellen Handelns ausblendet. Im Kapitalismus gehen Menschen eben nicht freiwillig Arbeitsverträge ein, sondern nur, weil sie andernfalls ihre soziale oder bisweilen gar biologische Existenz aufs Spiel setzen. Sie akzeptieren schlechte, das Hirndoping befördernde Arbeitsbedingungen, weil sie im Extremfall ins Nichts zu fallen drohen. Und dies im marktradikalen, neoliberalen Kapitalismus nochmal in besonderem Umfang. Hier von Freiwilligkeit zu sprechen, ist bestenfalls naiv.
Die Frage ist also nicht, ob Hirndoping verboten werden soll oder nicht, ob es moralisch zu verurteilen ist oder nicht. Die Frage ist, wie Lebens- und Arbeitsbedingungen geschaffen werden, in denen alle Menschen ohne persönliche Nachteile Hirndoping ablehnen können. Nicht Verbote und Verurteilungen sind dazu die Schlüssel, auch nicht in erster Linie Regeln und Regulierungen, sondern einzig Solidarität, Sozialstaat und soziale Sicherheit.
Der Artikel erschien zuerst auf dem Blog Freiheitsliebe.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.