Zum Zusammenhang von Nationalstaat, sozialem Vertrauen und notwendiger Umverteilung
17. Februar 2016 | Patrick Schreiner
Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hat am vergangenen Wochenende ein Interview mit dem britischen Ökonomen Paul Collier zur deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik veröffentlicht: Hier einige Anmerkungen zu dessen Skepsis gegenüber Einwanderung und gesellschaftlicher Vielfalt.
Wie so oft, wird man Collier an vielen Stellen widersprechen und an manchen zustimmen wollen. Im Folgenden soll nur ein Punkt herausgegriffen werden.
Auf die Frage, welche berechtigten Gründe für Skepsis angesichts der Merkelschen Flüchtlingspolitik er sehe, sagt Collier unter anderem:
[…] Und dann gibt es die Gruppe der weniger Wohlhabenden, die handfeste existentielle Ängste umtreiben.
So weit, so richtig. Auf die anschließende Frage, welche Ängste das seien, führt Collier weiter aus:
Es gibt klare Anzeichen dafür, dass die Solidarität in Gesellschaften mit hohem Einwandereranteil rapide abnimmt. Mein Kollege David Rueda hat das erst kürzlich wieder für europäische Länder festgestellt. Die Reichen betrachten die Armen dann als eine Gruppe, mit der sie nichts gemeinsam haben und der sie nicht mehr durch Umverteilung helfen wollen. So wie sich die Deutschen den Griechen nicht nahe genug fühlen, um ihre Schulden zu übernehmen. Das Wunder des Nationalstaats ist, dass er eine gemeinsame Identität schafft, die Solidarität ermöglicht. Zu viel Einwanderung gefährdet dieses Arrangement.
Also: Die "weniger Wohlhabenden" haben Angst, dass die Reichen - sobald die Gesellschaft durch Einwanderung weniger homogen wird - ihre Lust verlieren, den Armen etwas abzugeben.
In einem früheren FAZ-Interview sagte Collier zum gleichen Thema Ähnliches:
Ich will damit nicht sagen, dass die Folgen grundsätzlich negativ sind. Einwanderung macht eine Gesellschaft vielfältiger. Einwanderer sind innovativ und bringen neue Perspektiven. Aber Vielfalt reduziert auch das Vertrauen der Leute untereinander, sie kooperieren nicht mehr so bereitwillig und sind weniger großzügig zueinander. Vergleichen Sie sehr homogene Länder wie Deutschland und Japan mit Ländern wie Nigeria – in Nigeria ist es viel schwieriger, Geschäftsbeziehungen zu regeln und öffentliche Güter bereitzustellen. Und wenn Sie ein typisches europäisches Land mit Amerika vergleichen, dann ist Amerika natürlich vielfältiger, aber als Gesellschaft auch sehr viel weniger großzügig.
An diesen Stellen würde man sich wünschen, der Ökonom Collier nähme sozialwissenschaftliche Überlegungen umfassender zur Kenntnis, als sich nur auf die Forschungsergebnisse eines einzigen Kollegen zu beziehen. Denn:
- Ein Nationalstaat "schafft" nicht nur einfach eine gemeinsame Identität, sondern er "schafft" sogar Gemeinsamkeiten. Sprache, Geschichte, Kultur, Bevölkerung und ja, auch Identität, sind historische und soziale Konstrukte, sie sind gemacht. Es besteht daher kein Grund, anzunehmen, dass Gesellschaften mit hohen Einwanderungszahlen – bei allen Schwierigkeiten, die es geben mag – solche Gemeinsamkeiten nicht herzustellen vermögen.
- Vor diesem Hintergrund ist es fragwürdig, so zu tun, als ob es absolut "gleiche" und "ungleiche" Menschen gebe. Menschen sind vielmehr immer ungleich, manche mehr, manche weniger. Worauf genau aber solche Unterscheidungen beruhen, welche Merkmale für (Un-) Gleichheit als relevant erachtet werden, welches Ausmaß der Merkmalsausprägung als ausreichend gilt, um "Gleichheit" oder "Ungleichheit" zu behaupten, ist weder objektiv noch unveränderlich. Wenn dem aber so ist, dann sind "Migrant/inn/en" und "Einheimische" keine geschlossenen, monolithischen, eindeutig abgrenzbaren Blöcke.
- Dennoch gibt es Länder, in denen es in der Tat nicht gelingt, so etwas wie nationalstaatliche Gemeinsamkeiten im ausreichenden Umfang herzustellen. Einige nennt Collier. Die Frage, die sich hier stellt, ist aber: Sind die Reichen dieser Länder zum Teilen weniger bereit, weil die Bevölkerungen weniger homogen sind – oder ist es umgekehrt, sind vielleicht die Bevölkerungen weniger homogen, weil es eine größere Ungleichheit im Land und eine größere Machtfülle der Reichen und Eliten gibt? Einiges spricht dafür, dass das Zweite der ausschlaggebendere Faktor ist.
- Für diese Annahme spricht insbesondere, dass Integration und Teilhabe aller Menschen in einem Land eine gewisse soziale und politische Gleichheit voraussetzt. Und zwar völlig unabhängig davon, ob Menschen eingewandert sind oder nicht. In Ländern mit größerer sozialer Ungleichheit und mit größerer Machtfülle der Reichen und Eliten wird es daher schwerer sein, so etwas wie Gemeinsamkeit oder Zusammengehörigkeit herzustellen. Das zeigen politisch und sozial zerrissene, hochgradig ungleiche Länder mit "ethnisch" recht homogener Bevölkerung, etwa in Lateinamerika. Collier geht auf diese Gegenbeispiele zu seinen Thesen (bewusst?) nicht ein.
- Gemeinsamkeit oder Zusammengehörigkeit herzustellen, gelingt in westlichen Gesellschaften immer weniger, führt man sich vor Augen, dass bestimmte soziale Klassen hochgradig "ethnisiert" sind. Oder mit anderen Worten: Die Arbeiterklasse in vielen westlichen Ländern, auch in Deutschland, ist in weiten Teilen migrantisch. Der Hintergrund dafür ist, dass Migration und Rassismus für die Struktur kapitalistischer Arbeitsmärkte eine Funktion haben: Sie weisen den Menschen soziale Rollen und Plätze in der sozialen Hierarchie zu und sorgen dafür, dass den Arbeitgebern für alle Anforderungen (Qualifikation, Flexibilität, Kosten…) passende abhängig Beschäftigte zur Verfügung stehen. Das Problem ist also nicht, dass es Migrant/inn/en gibt, sondern dass es eine ausgebeutete Arbeiterklasse (und Massenarbeitslosigkeit) gibt.
- In Gesellschaften, die zunehmend ungleicher werden, verschärft sich dieses Missverhältnis. Es wird schwerer, sozial aufzusteigen. Gerade die migrantische Herkunft erweist sich dabei als Klotz am Bein. Das ist aber kein Grund, Flüchtlinge abzuweisen oder Migration zu bekämpfen – sondern ein Grund, gegen soziale Ungleichheit und Rassismus vorzugehen.
- Entsprechend absurd ist es zu glauben, mehr Homogenität befeuere den Altruismus der Reichen – ergo deren Bereitschaft, den Armen vom eigenen Reichtum etwas abzugeben. In kapitalistischen Gesellschaften musste Umverteilung von Einkommen, Vermögen und Kapital von oben nach unten immer schon erkämpft werden. Die Reichen werden von sich aus keinen Verzicht üben. Hier auf Freiwilligkeit und guten Willen zu hoffen, ist naiv.
- Und genauso ist es mit dem Vertrauen, das sich nach Collier in homogenen Gesellschaften leichter herstelle als in heterogenen: Ja, es gibt genug Gründe für mangelndes Vertrauen – Gründe für die Angst vor Gewalt, wenn man bestimmte Straßen und Viertel betritt, für die Angst vor Diebstahl, wenn man während eines Gangs zur Toilette den eigenen Laptop im Regionalzug zurücklässt, für die Angst vor sexueller Belästigung, wenn man bestimmte Diskotheken besucht. Doch soll man soziale Phänomene auch als das interpretieren, was sie sind, nämlich soziale Phänomene und nicht "ethnische". Denn erstens sind solche Ängste nicht deshalb berechtigt, weil es Migrant/inn/en gibt, sondern weil es eine große Zahl Menschen gibt, die von Verelendung, Arbeitslosigkeit, Ausbeutung und Ausgrenzung betroffen sind - mit direkt und indirekt daraus resultierender Kriminalität und Gewalt. Und zweitens sind nicht alle Täter/innen Migrant/inn/en und nicht alle Opfer "Einheimische".
- Nicht mehr "ethnische" Homogenität, sondern mehr "soziale" Homogenität muss daher das Ziel sein. Dabei helfen aber nicht Phantasien von geschlossenen Grenzen, sondern konkrete Maßnahmen zur Integration Geflüchteter, zum Kampf gegen rechts und zur Umverteilung von oben nach unten. Und die, das sei hier wiederholt, kann es nicht im Konsens geben, sondern nur im Konflikt. Wir leben in einer Klassengesellschaft.
- Insofern benennt Collier zwar den richtigen Ausgangspunkt einer vernünftigen Politik: Die "handfesten existenziellen Ängste" der "weniger Wohlhabenden". Seine Lösungsvorschläge aber bedienen die Interessen der Reichen und Mächtigen.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.