Sophia Michaelis: "Fakten zur Flüchtlingssituation führen zu Erstaunen und Verwunderung"
17. März 2016 | Patrick Schreiner
Ein Interview mit Sophia Michaelis über die Haltung von Jugendlichen zur Flüchtlingsfrage und über veränderte Sichtweisen seit der Silvesternacht von Köln. Sophia Michaelis ist Sozialwissenschaftlerin, sie organisiert für die Friedrich-Ebert-Stiftung Niedersachsen unter anderem Seminare mit Jugendlichen zu Flucht und Asyl.
Was sind das für Seminare, die Sie durchführen, was ist Ihre Zielgruppe, und welche Aspekte des Themas Flucht und Asyl sprechen Sie dort an?
Sophia Michaelis: Die Friedrich-Ebert-Stiftung nimmt sich in ihren verschiedenen Arbeitseinheiten intensiv des Themas Flucht und Migration an, auch wir in Niedersachsen. Dabei war uns die Sensibilisierung und Aufklärung über die gegenwärtigen Flüchtlingssituation besonders wichtig – gerade weil Fehlinformationen und die daraus hervorgehende Skepsis oder sogar Angst zunehmend von rechtspopulistischen Gruppierungen und Parteien instrumentalisiert wird. Da wir aus den verschiedensten Gründen der Meinung sind, dass die politische Bildungsarbeit schon bei den jüngeren Generationen ansetzen sollte, haben wir uns entschieden, einen Jugendworkshop zu konzipieren, der genau das erreichen soll: Sensibilisieren und Aufklären über die aktuelle Flüchtlingssituation, über ihre Ursachen und ihr Ausmaß. Wir richten uns damit an Schüler_innen und Jugendliche ab 14 Jahren.
Der Workshop ist in drei Themenblöcke unterteilt. Der erste Themenblock befasst sich mit der globalen Flüchtlingssituation. Die Jugendlichen bekommen einen Überblick darüber, wie viele von den 60 Millionen Flüchtlingen sich auf welchen Kontinenten befinden und welche Länder momentan die meisten Flüchtlinge aufnehmen – es sind Länder im asiatischen und im afrikanischen Raum. Aufbauend auf diesem kurzen globalen Überblick lernen die Jugendlichen durch eine Art selbstkonzipierte Simulation Fluchtursachen und Fluchtwege kennen. Die Jugendlichen durchlaufen verschiedene Biografien. Dabei haben wir uns auf eine afghanische, eine eritreische, eine syrische und eine kosovarische beschränkt. Zusätzlich kommen wir auch auf andere Fluchtursachen zu sprechen, beispielsweise die Verfolgung aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung. Der letzte Themenblock bezieht sich auf die aktuelle Situation in Deutschland und gibt unter anderem einen Überblick darüber, wie viele Flüchtlinge derzeit in Deutschland leben, welche Personen dauerhaft bleiben dürfen und welche nicht, welche Kriterien für einen Asyl- oder Flüchtlingsstatus es gibt und welche Fluchtursachen in Deutschland nicht anerkannt werden. Danach gehen wir in eine Thesendiskussion über, in der die Jugendlichen gängige Vorurteile über geflüchtete Personen diskutieren.
Wie reagieren die jungen Menschen, wenn Sie sie in Workshops mit dem Thema Flucht konfrontieren?
Sophia Michaelis: Die Reaktionen unterscheiden sich von Themen-Block zu Themen-Block. Zudem unterscheiden sie sich natürlich auch immer von Seminargruppe zu Seminargruppe. Allgemein kann man aber sagen, dass die Jugendlichen anfangs eher abgeneigt sind, "schon wieder" über Flüchtlinge zu sprechen. Nicht wirklich verwunderlich, da ja auch sie tagtäglich mit diesem Thema konfrontiert werden. Da der Workshop aber spielerische und vielfältige Methoden beinhaltet, verfliegt die anfängliche Skepsis schnell. Zudem sorgen die Fakten, die wir vermitteln, für Verwunderung. Insbesondere, wenn wir gemeinsam mit den Jugendlichen die globale Flüchtlings-Verteilung ins Verhältnis zur globalen Reichtums-Verteilung setzen. Dass viele Staaten Afrikas und vor allem Asiens viel mehr Flüchtlinge aufnehmen als die europäischen Länder, und das bei einem deutlich geringeren Wohlstand, sorgt manchmal für einen kurzen Schockmoment. Schließlich vermitteln Medien und das persönliche Umfeld ja oft den Eindruck, dass die meisten Menschen nach Europa fliehen. Dieses Erstaunen und die Verwunderung ziehen sich durch den gesamten Workshop. Auch, dass man humanitäre oder wirtschaftliche Notlagen für einen durchaus plausiblen und nachvollziehbaren Fluchtgrund halten kann, scheint für viele Jugendliche neu und verwunderlich. Ebenso, dass Deutschland proportional ja gar nicht so viele Flüchtlinge aufnimmt und diese auch gar nicht alle bleiben dürfen oder aus eigenem Interesse heraus gar nicht bleiben wollen. Man kann sagen, dass die Jugendlichen nach dem Workshop sehr erstaunt darüber sind, dass sich ihre eigene Einschätzung zur Flüchtlingssituation so stark von tatsächlichen Zahlen und Sachverhalten unterscheidet.
Gibt es immer wiederkehrende Vorurteile und Klischees, die die Jugendlichen äußern?
Sophia Michaelis: Auch hier ist es wieder schwer, eine allgemeine Antwort zu geben. Zumal wir den Workshop an verschiedenen Schulformen und mit verschiedenen Jahrgangstufen durchführen. In unserem letzten Themen-Block greifen wir ja Stammtisch-Parolen im Rahmen einer Thesendiskussion auf. Wir möchten, dass die Jugendlichen über Parolen wie etwa "Flüchtlinge sind kriminell", "Flüchtlinge haben mehr Geld als wir, (...) die haben ja auch alle ein Smartphone" bis hin zu "Wir brauchen Grenzkontrollen, weil wir keinen Platz mehr haben" diskutieren. Am Ende sollen sie sich gemeinschaftlich für eine Zustimmung oder Ablehnung entscheiden. Das Smartphone ist dabei fast immer ein Thema. Viele Jugendliche sehen das Smartphone von geflüchteten Menschen als Zeichen von Wohlstand und somit auch als Widerspruch zur Fluchtursache "Armut". Oft müssen wir erklären, dass diese Menschen auch aus globalisierten und durchaus kapitalistischen Ländern geflohen sind, nicht nur aus Regionen mit Lehmhütten ohne jegliche Elektrik. Ebenso führen wir oft Diskussionen über das Verhältnis zwischen obdachlosen Einheimischen und Flüchtlingen. Nicht selten vertreten Jugendliche die Meinung, dass zuerst den Bedürftigen bei "uns" geholfen werden müsse, bevor "wir" anderen helfen. Im gleichen Atemzug wird sich dann auch oft gegen "Wirtschaftsflüchtlinge" ausgesprochen. "Die brauchen doch gar keinen Schutz", heißt es dann. Insbesondere bei diesen Vorurteilen hört man wohl sehr stark die so genannten "Ängste" oder "Bedenken" der Eltern heraus.  Beispielsweise in Falschbehauptungen wie „Meine Mutter verdient selbst nur 450 Euro und die Flüchtlinge bekommen fast 2000 Euro“.
Umfragen zeigen immer wieder, dass das Ausmaß von Rassismus und Ressentiments keine Frage sozialer Herkunft ist.
Sophia Michaelis: Wir fragen die Jugendlichen absichtlich nicht nach ihrer sozialen Herkunft und auch nicht nach einem eventuellen Migrationshintergrund. Diese Faktoren spielen im Workshop, aber auch generell in unserer politischen Bildungsarbeit keinerlei Rolle. Wir stellen allerdings immer wieder Folgendes fest: Hinsichtlich der finanziellen Unterstützung von Flüchtlingen argumentieren manche Jugendliche mit der unfairen Bezahlung von Minijobs, mit dem Niedriglohnsektor oder mit zu geringen Sozialleistungen für die „Einheimischen“. Sie verweisen also auf soziale Probleme einer bestimmten, ärmeren Bevölkerungsgruppe. Da wir nie wissen, aus welchem sozialen Umfeld unsere Teilnehmenden stammen, können wir solche Aussagen keiner bestimmten sozialen Herkunft zuordnen. Allerdings müssen wir – trotz der vielen verschiedenen Teilnehmenden in den verschiedensten Konstellationen – meist dieselben gegen Flüchtlinge gerichteten Thesen ausführlicher diskutieren. Das legt die Vermutung nahe, dass solche Vorurteile über verschiedene soziale Schichten hinweg verbreitet sind. Mehr als eine Vermutung ist das aber nicht. Ich will zudem darauf hinweisen, dass die von uns vorgegebenen Stammtischparolen in manchen Gruppen auch kaum kontrovers diskutiert, sondern auf Anhieb gemeinschaftlich widerlegt werden.
In welchem Ausmaß widersprechen Teilnehmerinnen und Teilnehmer den Vorurteilen über Flüchtlinge? Welche Rolle nehmen sie im Seminar ein?
Sophia Michaelis: Im Allgemeinen wird einem Großteil der provokativ formulierten Thesen widersprochen. Als Paradebeispiel will ich den Einwand gegen die These nennen, dass Flüchtlinge alle kriminell seien. Hier verweisen viele Jugendliche auf die Angriffe gegen Flüchtlingsunterkünfte oder auf die gezielte Gewalt gegen Flüchtlinge. Auch der bekannten Parole, dass das Boot voll sei, widersprechen die meisten Jugendlichen. Erfreulicherweise meist mit Verweis auf die Flüchtlingszahlen asiatischer Aufnahmeländer wie dem Libanon, der Türkei, Jordanien oder Pakistan.
Ich will aber auch Folgendes betonen: Man darf die Jugendlichen mit einer anderen Haltung nicht ausschließen oder ihnen das Gefühl vermitteln, dass ihre Meinung falsch oder nicht akzeptiert sei. Zunächst einmal ist es ja mutig und ehrlich, wenn sie ihre Wahrnehmung und Haltung äußern, obwohl ihre Mitschüler_innen eine andere Meinung vertreten und wir als ihnen fremde Personen etwas anderes zu vermitteln versuchen. Zudem ist auch gerade die Äußerung von Skepsis und Sorgen, mit denen die Jugendlichen durch ihr Umfeld konfrontiert werden, besonders wichtig. Nicht ohne Grund haben wir ja jene Thesen in den Workshop eingebaut, die gegenwärtig so häufig vorgebracht werden. Daher ist es absolut vorhersehbar, dass viele Jugendliche mit den Vorurteilen vertraut sind und einigen auch zustimmen. Umso wichtiger ist es, dass sie diese offen mit uns diskutieren. Denn nur auf dieser Grundlage können wir dann über Fakten sprechen, die sie durch ihr soziales Umfeld vielleicht nicht erfahren. Dazu gehört auch, die aktuelle Situation kritisch hinterfragen zu dürfen. Wir hatten einmal den Kommentar eines Jugendlichen, dass es ja schon komisch sei, dass auf einmal so viele Flüchtlinge "zu uns" kommen. Das wirke so, als sei es geplant. Natürlich war es leicht und auch wichtig, für diese plötzlich hohen Fluchtzahlen Gründe und Erklärungen zu nennen. Aber es ist eben auch hervorzuheben, dass der Jugendliche hier ein kritisches Bewusstsein gezeigt hat. Er hat die an ihn herangetragenen Informationen nicht einfach nur abgesegnet. Genau das versuchen wir ja ebenfalls zu erreichen, nur eben basierend auf einer breiteren Informationsgrundlage.
Was hat sich durch die politischen und öffentlichen Diskussionen rund um die massenhaften sexuellen Übergriffe am Silvesterabend in Köln verändert?
Sophia Michaelis: Nach den Vorfällen in Köln haben wir auch die Parolen über das angeblich verwerfliche Verhalten muslimischer Männer und die angeblich unüberwindbaren kulturellen Unterschiede mit in das Seminar aufgenommen. Ich finde es wichtig, mit den Jugendlichen über dieses Thema zu sprechen. Man darf nicht verschweigen, dass diese Vorfälle schrecklich und verwerflich waren. Wichtig ist es aber auch, den Jugendlichen zu erklären, dass nie pauschalisiert werden kann und darf. Insbesondere nicht bei einer so komplexen und durchaus vielschichtigen Thematik. Die Vorfälle in Köln und anderen Städten sollten nicht dazu dienen, ein weiteres Vorurteil gegen Flüchtlinge zu bestärken. Schließlich hat Sexismus auch in unserem Land schon immer ein Problem dargestellt, und er ist weiterhin ein sichtbares Problem. Seit Köln habe ich das Gefühl, dass sich insbesondere die Mädchen stärker in die Diskussion über vermeintliche Vorurteile und Stammtischparolen einbringen und unseren differenzierenden Überlegungen kritischer gegenüberstehen. Zudem gerät seither der Islam in ein negativeres Licht. Einige Jugendliche weisen auf der anderen Seite aber durchaus auch von sich aus kritisch darauf hin, dass die Vorfälle in Köln genutzt werden, um die negative Stimmung im Land noch zu befeuern und um rechte Parolen zu bestärken. Solche Einwände zeigen zum Glück, dass auch die zunehmenden rechten und fremdenfeindlichen Tendenzen als akute Gefahr gesehen werden.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.