AfD: Was ist sie? Was will sie? Worauf beruht der Zuspruch?
9. Juni 2016 | Markus Krüsemann
Die folgenden kurzen, einleitenden Skizzen zum "Phänomen AfD" und zum Wählerpotenzial dieser Partei bilden den Auftakt für eine kleine Artikel-Reihe, in der wir bis zur Sommerpause die AfD aus verschiedenen Perspektiven thematisieren. Wir wollen damit Denkanstöße geben und zur Auseinandersetzung aufrufen. Zugleich laden wir unsere Leserinnen und Leser ein, sich mit weiteren Artikeln zu beteiligen oder sich mit Kommentaren in die Diskussion einzubringen.
Wie lässt sich das Phänomen AfD nach dem vorläufigen Stand der Dinge charakterisieren, welche Ziele verfolgt die Partei, welche Gruppen spricht sie an, und wo liegen die strukturellen Gründe für ihren aktuellen Erfolg? Anhand von acht zunehmend komplexer werdenden Aussagen soll eine erste Antwort skizziert werden.
1. Die AfD ist ein eigenständiges und komplexes Phänomen
Man wird dem Phänomen der "Alternative für Deutschland" (im Folgenden kurz AfD) nicht gerecht, wenn man die Partei vorschnell und pauschalisierend in einen Topf mit neonazistischen, faschistischen und sonstigen rechtsextremen Parteien, Bewegungen, Gruppen, Vereine und Strömungen wirft. Aber auch die bloße Charakterisierung als rechtspopulistische Partei greift zu kurz und ist analytisch nicht ausreichend.
2. Die AfD ist eine Partei im System des Parlamentarismus
Bei der AfD handelt es sich nicht um eine ephemere Ein-Themen-Protestpartei aus dem rechtsextremen Spektrum, sondern um eine auf Dauer angelegte, inhaltlich (noch) mehrdeutige politische Vereinigung rechts der Mitte, die im parlamentarischen System Macht erringen will, die sich seinen Spielregeln unterwirft, um im Rahmen dieses Systems Deutschland grundlegend zu verändern.
3. Macht als vorläufiges politisches Ziel
Die CDU/CSU hat auf ihrem Weg in die Mitte Platz geschaffen für eine Partei rechts von ihr. Die Leerstelle will die nationalistisch-reaktionäre Alternative für Deutschland dauerhaft besetzen. In der momentan noch andauernden Aufbauphase ist es das vorrangige Ziel der AfD, zunächst einmal soviel politische Macht wie möglich zu erringen. Über demokratische Wahlen will die Partei in weitere Parlamente einziehen bzw. ihre Machtbasis dort weiter ausbauen. Inhalte und programmatische Ziele sind (noch) sekundär.
4. Erfolgsfaktor Medienpräsenz
Dem politischen Ziel gehorchend ist die weit überwiegende Mehrheit aller medial verbreiteten Äußerungen und Stellungnahmen von AfD-Politiker/innen von wahltaktischem Kalkül geprägt. Dabei agieren sie bewusst populistisch, indem sie ganz gezielt die Vorurteile, Ressentiments und Ängste großer Teile der Bevölkerung bedienen.
Zur Strategie gehört es dabei, in Kenntnis der Mechanismen medialer Berichterstattung angebliche oder als solche titulierte politische Tabus zu brechen (Was andere verschweigen, wir sagen es). Das sichert hohe Medienpräsenz und sorgt gleichzeitig dafür, dass politische Gegner unter Druck geraten, dazu Stellung zu beziehen, sich zu äußern, sich abzugrenzen. Das Thema ist aber bereits besetzt, die einfachen, griffigen Parolen der AfD bleiben in den Köpfen hängen, und von den als Reaktion oft hastig entworfenen alternativen Konzepten der Kritiker spricht bald niemand mehr.
5. Erfolgsfaktor Anti-Establishment
Der AfD kommt derzeit vor allem zu Gute, dass sie nicht zum politischen Establishment gehört. Dieses Image pflegt sie einerseits selbst sehr bewusst. Andererseits sorgen die etablierten Parteien durch ihre Reaktionen der Ablehnung dafür, dass es bekräftigt und verstärkt wird. Derzeit, und in der zumindest nahen Zukunft, umweht die Partei damit der Nimbus einer systemkritischen und nicht vom System korrumpierten Partei. Jede öffentliche Fundamentalkritik oder Abwertung durch Vertreter der etablierten Parteien sichert ihr neben Aufmerksamkeit vor allem auch die Zustimmung eine Großteils jener Menschen, die sich über die Jahre eine Haltung des Misstrauens, ja der Verachtung gegenüber den bisherigen politischen Klassen und wirtschaftlichen Eliten zugelegt haben.
Da die AfD aber, wie alle anderen Parteien auch, den Mechanismen der Berliner Republik unterworfen ist, wird im Zuge der fortschreitenden Etablierung der Partei (mit zunehmender Relevanz von Politikfeld-Themen und -Zielen im politischen Diskurs) zwangsläufig eine Entzauberung eintreten. Im Unterschied zu früheren Protestparteien wird die AfD diesen Prozess überleben, da sie gute Chancen hat, einen relevanten Teil das aktuellen Wähler/innenpotenzials als Stammwählerschaft an sich zu binden.
6. Erfolgsfaktor neoliberale Verwüstung
"Aus den europäischen Gesellschaften des sozialen Aufstiegs und der sozialen Integration sind Gesellschaften der Prekarität, des Abstiegs und schließlich der Polarisierung geworden", urteilte jüngst Oliver Nachtwey. Recht hat er: Die neoliberale Politik der Umverteilung nach oben hat zu einer zunehmenden sozialen Ungleichheit geführt und große Teile der Erwerbstätigen soweit unter Druck gesetzt, dass sich bis hinein in die ehemals stabile Mittelschicht Abstiegsängste entwickelt haben. Die um sich greifende Verunsicherung in Hinblick auf eine materiell gesicherte Zukunft und die Prekarisierung von Lebensverhältnissen bis hin zu Verelendungstendenzen der Abgehängten treiben die Menschen aber nicht unmittelbar und schon gar nicht automatisch in die Arme der AfD.
Sicher, als mittelbar treibende Kraft bereitet die neoliberale Verwüstung, die auch eine Verwüstung des Denkens ist, für rechte und reaktionäre Kräfte den Boden, denn mit den Konsequenzen dieser Politik, der Abnahme sozialer Kohäsion, dem Brüchigwerden gesellschaftlicher Zusammenhalte, sinkt auf breiter Front das Vertrauen in das politische System. Die übergroße Mehrheit der Bevölkerung ist (zurecht) der Ansicht, dass es sozial und wirtschaftlich immer ungerechter zugeht und dass die Zukunftsperspektiven ungewisser geworden sind. Beides lastet sie der Politik und den etablierten Parteien an, von denen sie sich viele schon länger nicht mehr angesprochen und repräsentiert fühlen. Nur: Dort, wo konkrete Kritik nötig wäre, hat sich viel zu oft ein diffuser Unmut breit gemacht, den die AfD natürlich gerne aufgreift - und während sie die soziale Frage wohlweislich nicht stellt, sondern sie umdeutet zu eine nationalistischen (Bedrohung von außen), kann sie sich über fehlende Resonanz nicht beklagen.
Das allein reicht indes nicht, um zu erklären, warum Nichtwähler/innen, aber auch Wähler/innen aller Parteien sich in Scharen der AfD zuwenden. Zum Unmut muss sich noch ein Erregungszustand gesellen, ein Auslöser, der aus Haltung Handlung werden lässt. Im aktuellen Fall ist es der medial bildmächtig dokumentierte Zustrom von Flüchtlingen gewesen, der den latenten Rassismus, der Fremdenfeindlichkeit und Fremdenangst aktiviert hat.
7. Zielgruppen
Auch wenn sich die hohen Zustimmungswerte für die AfD in Umfragen aktuell sehr stark dem oben skizzierten Unmut und der Abwehrreaktion auf die Aufnahme von Flüchtlingen verdanken: Der für die Partei langfristig entscheidende Erolgsfaktor wird sein, ob sie auf Dauer nicht nur Nazis, Rassisten und Islamfeinde hinter sich versammeln kann, sondern all jenen Menschen eine langfristige politische Heimat anbieten kann, deren Denken, deren Weltanschauung von Ressentiments, Fremdenfeindlichkeit und Ablehnung von alllem, was anders ist, geprägt ist.
Derzeit ist die AfD allerdings noch das Sammelbecken für unterschiedlichste Wählergruppen: Protest- und Denkzettelwähler, von den übrigen Parteien enttäuschte Wechselwähler, Neonazis, EU-Kritiker, Konservative, sich vom krisenhaften gesellschaftlichen Wandel bedroht Fühlende (Modernisierungsskeptiker), real Marginalisierte und Abgehängte (Arbeitslose, Beschäftigte in prekären Lebenslagen) und - quer dazu - eben auch die ganz gemeine Gruppe der Rassisten, Fremdenfeinde und Islamhasser.
Auf der Suche nach Macht ermöglichenden Wählerstimmen wird die Partei zunächst weiterhin versuchen, möglichst viele der aufgeführten Gruppen zu bedienen. Dabei hat sie einen großen Vorteil: Die AfD kann nahezu exklusiv einen großen, als eigenständiges soziales Phänomen kaum mehr beachteten (Ausnahmen wie die 2014er "Mitte"-Studie der Uni Leipzig bestätigen die Regel) Wähler/innenkreis ansprechen und um sich sammeln: die autoritäre Persönlichkeit. Im Privaten sucht sie Sicherheit und Orientierung in autoritären Strukturen von Befehl und Gehorsam, Zucht und Ordnung. Im Politischen spiegelt sich dies in Vorstellungen eines starken Staates, der seine Handlungsfähigkeit durch autoritäre Interventionen beweist. Autoritär strukturierte Menschen suchen einfache Erklärungen für komplexe Zusammenhänge und einfache Lösung für komplexe Probleme. Die AfD liefert beides. Und sie belebt die Idee eines starken Staates.
8. Verblendungszusammenhänge spielen der AfD in die Karten
In ihrer mit Mechanismen des Populismus arbeitenden Wähleransprache kann die AfD von einer weitverbreiteten Unkenntnis über die Zusammenhänge und das Funktionieren von „Gesellschaft“ profitieren. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung hat allenfalls rudimentäre Vorstellung davon, dass in einer modernen, pluralen Gesellschaft die wesentlichen sozialen Zusammenhänge primär über verschiedene Formen von Vergesellschaftung hergestellt werden. Gesellschaft als umfassender, in sich relativ geschlossener Produktions- und Reproduktionszusammenhang bleibt den Menschen zwangsläufig rätselhaft und abstrakt.
In Bezug auf das gesellschaftliche Ganze und seinen Zusammenhalt denken sie daher in Kategorien der Vergemeinschaftung und behelfen sich mit Verallgemeinerungen von individuell erfahrenen sozialen Beziehungen. Bestätigung dafür bekommen sie tagtäglich aus den Medien und der Politik: „Uns“ geht es gut; „Die“ Deutschen sind…; „Wir“ müssen… heißt es immer dort, wo Differenzierungen eigentlich angebracht wären. Und so ist auch das Bild der schwäbischen Hausfrau als Synonym für eine Finanzpolitik der schwarzen Null all jenen eingängig, die die Ausgabenpolitik eines Staates mit jener eines Familienhaushaltes gleichsetzen.
Die AfD kann hier unmittelbar ansetzen. Sie bedient Vorstellungen von und Wünsche nach Gemeinschaft, und sie verspricht diese Vergemeinschaftung, indem sie die Identität des Volkskörpers anbietet. Dazu gehört die Abgrenzung zum Nicht-Identischen. Ein solches Freund-Feind-Schema aus "Wir" und "die Anderen" ist leicht verständlich. Ihm wird intuitiv mehr Sinn zugeschrieben als Abstraktion verlangenden Vorstellungen eines Ganzen aus völlig unterschiedlichen Teilen (soziale Gruppen), die über komplexe, nicht durchschaubare Mechanismen vergesellschaftet werden, dabei ihre oft völlig unterschiedlichen Lebensweisen aber behalten und (mehr oder weniger) unbehelligt nebeneinander koexistieren können.
Da die Bildung einer Volksgemeinschaft faktisch unmöglich ist, lässt sie sich, wie auch die ihr zugeschriebene Homogenität, nur als Illusion schaffen, und dies auch nur durch die ideologische Konstruktion einer Außenhülle: Was ein Volk sei, dass lässt sich nur negativ bestimmen, durch die, die nicht dazu gehören, die Anderen, die Fremden, die Feinde - und genau hier liegt die Wirkmächtigkeit der Idee. An dieser Stelle verknüpft sich das reaktionäre Volkskörpermodell außenpolitisch mit der Ideologie des Nationalismus (nicht unbedingt Chauvinismus), innenpolitisch mit der Ideologie des (kulturalistischen) Rassismus. Flüchtlinge, Muslime, Homosexuelle, Linke, ja selbst Alt-Achtundsechziger, sie alle werden von der AfD mit Verweis auf vermeintliche Homogenität zu Nicht-Identischen erklärt. Wie alle Ausländer auch gehören sie auf die Außenseite der Hülle.
Der nächste Beitrag unserer Reihe zur "Alternative für Deutschland" erscheint am 16. Juni und fragt nach einer sinnvollen linken Strategie gegen die rechte Formierung.
Markus Krüsemann ist Soziologe und Mitarbeiter am Göttinger Institut für Regionalforschung. Unter www.miese-jobs.de betreibt er ein Informationsportal zu atypischen und prekären Beschäftigungsformen.