AfD: Konkurrenz und Ressentiments im neoliberalen Kapitalismus
23. Juni 2016 | Patrick Schreiner
Die wirtschafts- und sozialpolitischen Programmatiken der meisten rechten Parteien sind zwiegespalten: Einerseits zeigen sie sich neoliberal, andererseits weisen sie sozialprotektionistische Bestandteile auf. Einerseits unterstĂĽtzen sie die Konkurrenzlogik des neoliberalen Kapitalismus, andererseits wenden sie sich unter nationalistischen und rassistischen Vorzeichen gegen dessen negative Auswirkungen.
Das tun sie gleichwohl in unterschiedlichem Ausmaß: Während die Republikaner ihre größten Erfolge in den 1990er Jahren mit recht striktem neoliberalem Programm erreichten, versucht sich die NPD seit vielen Jahren mit wechselndem Erfolg als pseudo-antikapitalistische Kraft. Die AfD scheint sich aktuell dranzumachen, ihre sozialprotektionistischen Programmanteile zu Lasten der – im Moment noch immer dominierenden – neoliberalen zu stärken: Den Mindestlohn findet sie längst gut, von einer Privatisierung der Arbeitslosenversicherung will sie nichts mehr wissen, und nicht nur Parteivize Alexander Gauland fordert nachdrücklich ein sozialeres Profil.
Die Rolle, die Konkurrenz in der Ideologie der Rechten einnimmt, ist angesichts dieses Changierens zwischen Neoliberalismus und Sozialprotektionismus uneinheitlich und widersprüchlich. Das verdient eine genauere Betrachtung, gibt es doch im Kern durchaus Übereinstimmungen zwischen Neoliberalismus einerseits und nationalistischer sowie rassistischer Ideologie andererseits: Beide teilen die Überzeugung, dass Ungleichheit (und faktisch Ungleichwertigkeit) von Menschen gut und natürlich sei. Der Neoliberalismus preist sie als Ergebnis gerechter Marktprozesse, Konkurrenz sorgt aus dieser Perspektive für Effizienz und Motivation. Nationalismus und Rassismus preisen Ungleichheit als natürliche Folge „ethnisch“-biologischer und/oder kultureller Sozialisierung. Beide Vorstellungen beruhen auf der Idee beständiger Ausleseprozesse, die legitime und gerechte soziale Positionen, Rollen sowie Zugehörigkeiten zuweisen, soziale Gruppen nach außen abgrenzen und damit letztlich soziale Ordnung schaffen.
Wie die neoliberale und die nationalistische bzw. rassistische Vorstellung von Ungleichheit zusammenfallen können, mag ein Zitat der US-amerikanischen Rechtslibertären Ayn Rand veranschaulichen. Rand, bis heute von vielen US-Neoliberalen als Philosophin verehrt wie keine zweite Schriftstellerin, sagte 1974 in einer Rede vor Studenten der West-Point-Militärakademie:
Mit guten Gründen glaube ich selbst den mitleidlosesten Hollywood-Darstellungen von Indianern und von dem, was sie dem weißen Mann angetan haben. Sie hatten kein Recht auf ein Land nur deshalb, weil sie hier geboren waren und sich wie Wilde verhielten. Der weiße Mann hat dieses Land nicht erobert… Da die Indianer keinen Begriff von Eigentum oder Eigentumsrechten hatten (sie hatten keine sesshaften Gesellschaften, sondern vorwiegend nomadische Stammes-"Kulturen"), hatten sie auch kein Recht auf das Land; und es gab keinen Grund für irgendjemanden, ihnen Rechte zu geben, die sie nicht erdacht hatten und die sie nicht gebrauchten […] Jeder Europäer, der ein Element von Zivilisation mit sich brachte, hatte das Recht, diesen Kontinent einzunehmen; und es ist großartig, dass es manche von ihnen taten.
In Rands Augen verleihen Sesshaftigkeit und „Zivilisation“, ein „Begriff von Eigentum“ und ein Bewusstsein für individuelle Rechte dem „weißen Mann“ an der Frontier eine moralische Überlegenheit, ja sogar das Recht, die dort lebenden UreinwohnerInnen im Konkurrenzkampf zu unterwerfen, zu vertreiben und auszurotten. Mehr noch: Die europäischen SiedlerInnen werden durch diese Überlegenheit dank kapitalistischer Tugenden überhaupt erst zur Nation. Angebliche Überlegenheit, soziale Zugehörigkeit und „nationale“ Geschlossenheit nach außen gründen unmittelbar auf dem erfolgreich verinnerlichten Prinzip individueller Konkurrenz, das Grundbestandteil eben jener kapitalistischen „Zivilisation“ ist und das auf eben jenem „Begriff von Eigentum“ beruht.
Diese Idee nationaler, kultureller bzw. „ethnischer“ Überlegenheit durch kapitalistische Tugendhaftigkeit ist ein neoliberaler Dauerbrenner – nicht zuletzt zur Rechtfertigung von Ungleichheit. Sie steht Pate, wenn Deutschland beansprucht, für Griechenland wirtschaftspolitisches Vorbild und Stichwortgeber zu sein. Sie steht Pate, wenn Internationaler Währungsfonds und Weltbank in Entwicklungsländern ihre „Strukturanpassungsprogramme“ durchpeitschen. Sie steht Pate, wenn keineswegs nur AfD & Co. vor einer „Zuwanderung in die Sozialsysteme“ warnen. Und sie steht Pate, wenn selbst eine „links-sozialdemokratische“ Sozial- und Arbeitsministerin neu eingewanderte EU-AusländerInnen auf Jahre vom Bezug von Arbeitslosengeld II ausschließen möchte.
Das Verhältnis zwischen einerseits Konkurrenz auf der Grundlage individueller (Eigentums-) Rechte und andererseits daraus resultierender „nationaler“ Zugehörigkeit und Geschlossenheit erweist sich gleichwohl als widersprüchlich. Problematisch wird es nämlich dann, wenn soziale Verwerfungen in einer Gesellschaft deren Geschlossenheit und innere Ordnung untergraben. Etwa wenn individuelle Anstrengungen, die vom Markt entgegen neoliberaler Glaubenssätze systematisch gerade nicht belohnt werden, in großem Umfang nicht zu „angemessenem“ individuellem Erfolg, Wohlstand und Anerkennung führen. Oder wenn immer mehr Menschen um immer weniger Wohlstand konkurrieren, wenn also aus hoffnungsfrohen Aufstiegsversprechen bedrohliche Abstiegsperspektiven werden. Oder wenn der Eindruck entsteht, gesamtgesellschaftlich erreichter Wohlstand steht auf der Kippe. Soziale Ungleichheit, Verbitterung, Konkurrenzdruck und Unsicherheit können Ausmaße annehmen, die als unerträglich empfunden werden. Gerade im neoliberalen Kapitalismus scheint dies zunehmend der Fall.
Nun braucht aber das „Nationale“, sei es kulturell oder „ethnisch“ begründet, zur Stabilisierung und Rechtfertigung seiner selbst ein gewisses Mindestmaß sozialen Zusammenhalts. Doch der ist aus den genannten Gründen in kapitalistischen Gesellschaften stets unsicher. Diese andere Seite des Kapitalismus veranschaulicht nicht zuletzt die Geschichte der Westernfilme, auf die sich Ayn Rand in obigem Zitat ja selbst bezieht. Der klassische Western von der Stummfilmzeit bis in die 1950er Jahre zeichnet die Durchsetzung der kapitalistischen „Zivilisation“ an der Frontier als hehren Aufbruch in eine neue Zeit; als historische Bewegung mit übergeordnetem Ziel, an dem prinzipiell alle (meint: alle Weißen) mit gutem Willen und ehrlicher Anstrengung teilhaben können. Individuelles Scheitern ist entweder selbstverdient oder Opfer im Sinne der höheren (christlichen und zugleich kapitalistischen) Sache. Sozialer Zusammenhalt durch Wohlstand für alle ist hier glaubhaftes Versprechen.
Es ist kein Zufall, dass der kritische und desillusionierte Spätwestern ab den 1960er Jahren in zwei entscheidenden Punkten mit diesem klassischen Western bricht: Der „Indianer“ wird vom brutalen Wilden zur tragischen, aber stolzen historischen Figur; die Eroberung des Westens wird von einer zivilisatorischen Siedlermission zur brutalkapitalistischen Unterwerfung eines Landes durch verkommene Glücksritter mit der Hilfe von Waffen, Alkohol und Eisenbahn. Beides hängt zusammen: Sozialer Zusammenhalt im klassischen Western entpuppt sich im Spätwestern als Illusion, und der äußere Feind „Indianer“ wird als Opfer und Sündenbock dekonstruiert.
Und heute? Wer mit Blick auf den globalen Kapitalismus die nationale Einigkeit beschwört, individuelle „Leistung“ einfordert, Ansprüche und Besitzstände der Massen in Frage stellt und innergesellschaftliche Konkurrenz durch Deregulierung und Flexibilisierung anheizt, der muss irgendwann liefern. Abstrakte Argumente wie „Globalisierung“ und Standortkonkurrenz oder die angebliche prinzipielle Überlegenheit des Marktes werden nicht unbegrenzt zur Rechtfertigung von immer mehr sozialer Ungleichheit, Verbitterung, Konkurrenzdruck und Unsicherheit dienen (können). Und genau hierin liegen Sinn und Zweck des Sozialprotektionismus in der rechten Programmatik: Dieser stellt kapitalistische Konkurrenz nicht in Frage, sondern bestärkt sie, indem er vor deren schlimmsten Auswirkungen schützen soll. Dieser Schutz aber wird in zweierlei Hinsicht beschränkt: Erstens auf die Angehörigen der eigenen „Nation“, was „ethnisch“ verstanden werden kann, aber nicht muss. Zweitens auf diejenigen, die sich Schutz vermeintlich verdient haben – also die „Anständigen“, „Guten“ und „Fleißigen“. (Wobei jede dieser beiden Gruppen die jeweils andere einschränken, aber durchaus auch ausweiten kann.)
Ressentiments – etwa gegenüber Flüchtlingen, Roma, AusländerInnen, Schwulen, Muslimen oder Arbeitslosen – sind vor diesem Hintergrund nicht einfach nur Ausweis mangelnder Bildung oder fehlenden ethischen Bewusstseins. Sie sind vielmehr die konsequente Fortsetzung innergesellschaftlicher und/oder zwischenstaatlicher Konkurrenz – und zwar noch im Sozialprotektionismus als dessen Negation: Die genannten Gruppen sind „die anderen“, mit denen die „Anständigen“ und „Fleißigen“ konkurrieren müssen und/oder die unberechtigterweise an den eigenen „nationalen“ Konkurrenz-Erfolgen teilhaben wollen und/oder die diese Konkurrenz-Erfolge gefährden. Sie sind Ayn Rands „Indianer“.
An dieser Stelle mit moralisierenden, letztlich unpolitischen Appellen eine antirassistische und nicht-diskriminierende Haltung einzufordern, greift erkennbar zu kurz. Sicher: Die Grenze des Sagbaren hat sich in Deutschland und vielen anderen Ländern in den letzten Monaten und Jahren gefährlich weit verschoben. Es ist deshalb richtig, gegen Hass und Hetze vorzugehen, und das über möglichst alle demokratischen Gruppierungen, Szenen und Klassen hinweg. Das alleine wird aber nicht ausreichen. Notwendig ist es vielmehr, die neoliberale Verfasstheit von Gesellschaft und Wirtschaft selbst anzugreifen: Denn Hass, Hetze und Ressentiment haben in der zwischenmenschlichen und zwischenstaatlichen Konkurrenz einen Treiber, den es auszuschalten gilt. Nur so kann eine menschenverachtende und ausgrenzende Partei wie die AfD an der Wurzel gepackt werden.
Dieser Artikel erschien leicht ĂĽberarbeitet und unter anderem Titel zuerst in ak - analyse & kritik Ausgabe 616.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.