Alfred Spieler: „Es geht um gleichwertige Lebensverhältnisse in West- und Ostdeutschland“
8. Dezember 2016 | Patrick Schreiner
Alfred Spieler über die Rentenangleichung West-Ost. Er war bis Anfang September 2016 Referent für Sozialpolitik beim Volkssolidarität Bundesverband e.V.
Worin bestehen die Unterschiede in der Rentenversicherung zwischen Ost und West?
Alfred Spieler: Mit Herstellung der staatlichen Einheit von Ost- und Westdeutschland ergab sich 1990 auch die Aufgabe, zwei sehr unterschiedliche Sozialsysteme zusammenzuführen. Festlegungen dazu erfolgten bereits im Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der noch existierenden DDR. So sah der Vertrag die Schaffung annähernd gleichwertiger Lebensverhältnisse in Ost und West vor. Frühzeitig war jedoch klar, dass für eine Angleichung der Renten in einem System, das Leistungen vorrangig auf der Grundlage versicherungspflichtiger Entgelte gewährt, angesichts der erheblichen Unterschiede in den Lohneinkommen zumindest in einer Übergangsphase Sonderregelungen erforderlich sind.
Es war eine große sozialpolitische Herausforderung, dauerhafte Nachteile – bedingt durch die unterschiedlichen Rechts- und Einkommensverhältnisse – für Versicherte, Rentnerinnen und Rentner in den neuen Bundesländern zu vermeiden. Ziel war es, in Ost und West annähernd ähnliche Einkommenspositionen im Alter zu gewährleisten.
Und wie wollte man das umsetzen?
Alfred Spieler: Dazu bediente man sich verschiedener Instrumente und Verfahren, die für ostdeutsche Rentnerinnen und Rentner erworbene Ansprüche sichern sowie für die Versicherten mit Blick auf ihre künftigen Renten Nachteile wegen der niedrigeren Löhne ausgleichen sollten.
Im Einzelnen sind das bis heute die unterschiedlichen Rechengrößen: der aktuelle Rentenwert Ost (28,66 Euro seit dem 1. Juli 2016 für einen Entgeltpunkt Ost), die Beitragsbemessungsgrenze Ost (5.400 Euro im Monat im Jahre 2016) sowie die Bezugsgröße Ost (2.520 Euro im Monat im Jahre 2016). Letztere dient als Grundlage für die Beitragsberechnung sowohl in der Gesetzlichen Kranken- als auch in der Gesetzlichen Rentenversicherung.
Diese Werte liegen um Einiges niedriger als in den alten Bundesländern und Berlin (West). Dies führt unter anderem dazu, dass ein Rentner im Osten nach 45 Versicherungsjahren mit durchschnittlichem Verdienst eine um 80 Euro niedrigere Brutto-Rente bezieht als der vergleichbare Rentner in Westdeutschland.
Außerdem wurde für die Ermittlung der Rentenanwartschaften eine Umwertung der Entgelte Ost zur Ermittlung von Entgeltpunkten Ost eingeführt, die oft als „Hochwertung“ bezeichnet wird. So liegt der entsprechende Hochwertungsfaktor im Jahre 2016 bei 1,1479.
Da es bis heute nicht selbstverständlich ist, dass für gleiche Arbeit in Ost und West gleicher Lohn gezahlt wird, stellt die Hochwertung vor allem für Beschäftigte in den Bereichen, in denen die Lohnangleichung noch deutlich zurück bleibt, einen wichtigen Nachteilsausgleich dar. Der schützt sie vor einem sozialen Abstieg oder gar Armut im Alter. Nach über 25 Jahren deutscher Einheit wirft dieses Verfahren angesichts einer Ausdifferenzierung der Lohnstruktur allerdings auch Probleme auf. Verständlich, wenn die Facharbeiterin West bei gleichem Gehalt schwer nachvollziehen kann, dass ihre Kollegin im Osten einen Zuschlag erhält, die sie am Ende bei der Ermittlung des Rentenanspruchs um etwa 8 Prozent besser stellt.
Die durchschnittliche ausbezahlte Rente in Ostdeutschland ist höher als im Westen. Wie kommt es dazu?
Alfred Spieler: Das ist zutreffend für die so genannten Bestandsrentner. Bei den Rentenneuzugängen ist die Entwicklung hingegen etwas differenzierter. Im Jahre 2014 lag der durchschnittliche Rentenzahlbetrag von ostdeutschen Männern bei 952 Euro, bei westdeutschen Männern wurden im Durchschnitt 981 Euro gezahlt. Bei ostdeutschen Frauen lag der durchschnittliche Rentenzahlbetrag dagegen bei 841 Euro – gegenüber 562 Euro bei Frauen im Westen. Die Ursachen für diese Unterschiede sind sehr komplex. Höhere Renten im Osten hängen mit mehreren Faktoren zusammen.
Was sind die wichtigsten Faktoren?
Alfred Spieler: Da ist erstens die Rentenüberleitung. So wurden Ansprüche aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen, die in der DDR eine Art Betriebs- oder Zusatzrente ermöglichten, mit in die gesetzliche Rente eingerechnet – auch die von hoch qualifizierten Berufsgruppen wie zum Beispiel Ärzte, Rechtsanwälte, Architekten, die in der Bundesrepublik „alt“ gewöhnlich berufsständischen Versorgungswerken angehören und daher nicht in die Rentenstatistik einbezogen sind. Schon dadurch ergibt sich ein schiefes Bild.
Zweitens können die Versicherten in den neuen Bundesländern bis heute auf längere Versicherungszeiten verweisen. Ende 2014 erreichten ostdeutsche Männer im Durchschnitt 44,6 Jahre (westdeutsche Männer dagegen 40,4 Jahre). Frauen im Osten konnten durchschnittlich 39,7 Jahre nachweisen, westdeutsche Frauen erreichten dagegen nur 27,5 Jahre). Längere Versicherungszeiten führen natürlich auch zu höheren Renten.
Und weshalb ist eine Angleichung Ost/West überhaupt sinnvoll, wenn die Renten im Osten im Durchschnitt sowieso schon höher sind?
Alfred Spieler: Es geht darum, die mit dem Einigungsvertrag 1990 getroffenen Vereinbarungen zu erfüllen und dem Auftrag des Grundgesetzes gerecht zu werden, annähernd gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland zu verwirklichen. Und es bleibt die Aufgabe, für gleiche Lebensarbeitsleistung auch gleiche Rente zu ermöglichen. Dazu müssen unterschiedliche Rentensysteme in Ost und West in absehbarer Zeit überwunden werden.
Das Interview erschien zuerst in analyse&kritik Ausgabe 619 (2016). Es wurde im September 2016 geführt. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung. Dieser Text ist von der CC-Lizenz gemäß Impressum ausgeschlossen; das Zitieren und das Verlinken des Textes ist erlaubt, nicht aber das Vervielfältigen/Kopieren.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.