Mindestlohn: Zweifel an der Qualität der Prognosen seiner Kritiker waren wohl berechtigt
3. November 2016 | Patrick Schreiner
Dass die Prognosen der Mindestlohnkritikerinnen und –kritiker („Arbeitslosigkeit! Konjunkturabschwung!“) keineswegs zutrafen, ist mittlerweile ein alter Hut. Aktuelle Zahlen der OECD werfen einmal mehr die Frage nach der Qualität damaliger Berechnungen auf.
Um die Höhe eines Mindestlohns im internationalen Vergleich beurteilen zu können, ist es üblich, den so genannten „Kaitz-Index“ zu ermitteln: Er gibt die Höhe des Mindestlohns in Prozent des Durchschnittseinkommens bzw. des mittleren Einkommens in einem Land wieder. Die OECD legt regelmäßig entsprechende Zahlen vor.
Wer an die arbeitsmarktpolitische Schädlichkeit des Mindestlohns glaubte, versuchte vor dessen Einführung in Deutschland nachzuweisen, dass ein Stundenlohn von 8,50 Euro im internationalen Vergleich hoch wäre. Im Jahr 2013 kam es daher zu einigen Auseinandersetzungen um die Frage, wie der diesbezügliche Kaitz-Index zu berechnen sei und welche Höhe dieser habe. Selbst im Wirtschafts-Sachverständigenrat der Bundesregierung bzw. in dessen Jahresgutachten 2013/2014 hatte sich dieser Streit niedergeschlagen.
Ich selbst veröffentlichte am 14. November 2013 einen Artikel auf den Nachdenkseiten, in dem ich starke Zweifel an einer Ausarbeitung dreier Mindestlohn-Kritiker äußerte. Deren Ergebnisse waren umso gewichtiger, als zahlreiche andere Personen diese Zahlen (offenbar ungeprüft) übernommen hatten. Hagen Lesch vom Institut der Deutschen Wirtschaft sowie seine Kollegen Moritz Heumer und Christoph Schröder schrieben damals:
Ein Mindestlohn von 8,50 Euro je Stunde entspräche (unter sonst gleichen Bedingungen) bei Vollzeitbeschäftigten [...] 58 Prozent des mittleren Lohns (Medianlohns).
Das Institut für Weltwirtschaft (ifw) an der Uni Kiel hat in seinem Konjunkturbericht „Deutsche Konjunktur im Sommer 2013“ diese 58 Prozent aus Heumer/Lesch/Schröder 2013 übernommen (S. 33). Und auch in einem mindestlohnkritischen Artikel in der viel gelesenen Zeitschrift „Wirtschaftsdienst“, Ausgabe 8/2013, tauchten die Zahlen wieder auf. Verfasst wurde der Text von Dominik Groll und Stefan Kooths, beide damals tätig am ifw.
Die ifo-Forscher Andreas Knabe, Ronnie Schöb und Marcel Thum wiederum hatten eigene Zahlen berechnet. In einer Studie zum Mindestlohn behaupteten sie 2014, dass der Mindestlohn in Deutschland 5,70 Euro betragen müsste, wenn er – wie in den USA – 38 Prozent des mittleren Stundenlohns betragen solle. Aus dieser Angabe lässt sich mittels Dreisatz zumindest indirekt ableiten, von welcher Höhe des Kaitz-Index sie bei einem Mindestlohn von 8,50 Euro ausgegangen sein müssen: 56,7 Prozent, also nur unwesentlich weniger als zuvor Heumer/Lesch/Schröder.
Mittlerweile liegen die Kaitz-Index-Berechnungen der OECD auch für Deutschland vor. Laut E-Mail-Auskunft bildet dabei das so genannte SOEP die Datengrundlage – wie auch in den erwähnten Arbeiten von Heumer/Lesch/Schröder, Groll/Kooths und Knabe/Schöb/Thum. Das Ergebnis der OECD aber weicht von den Zahlen der Mindestlohnkritiker deutlich nach unten ab: Ihr zufolge lag der Mindestlohn in Deutschland 2015 bei 47,8 Prozent des mittleren Stundenlohns. Also eher im unteren Mittelfeld mit Luft nach oben.
Die nachfolgende Abbildung zeigt alle OECD-Zahlen für 2015, ergänzt um die Werte, die Heumer/Lesch/Schröder, Groll/Kooths und Knabe/Schöb/Thum damals angegeben bzw. stillschweigend mitgedacht hatten:
Ein Schelm, wer Böses dabei denkt: Frühere Zweifel an den Zahlen von Heumer/Lesch/Schröder, Groll/Kooths und Knabe/Schöb/Thum waren also offenbar berechtigt.
P.S. Wer meint, diese Kritik mit dem Argument entkräften zu können, dass die OECD ja mittlere Stundenlöhne des Jahres 2015 nehme, die Mindestlohnkritiker aber ältere Werte genommen hätten bzw. hätten nehmen müssen, liegt rechnerisch richtig und dennoch daneben: Schon 2013 war klar, dass es vor 2015 keinen Mindestlohn geben würde. Man hätte also schon damals die geschätzten Lohnerhöhungen der nächsten 2-3 Jahre in die Berechnung einbeziehen müssen, was den Kaitz-Index gesenkt hätte. Darauf wies damals schon unter anderem Peter Bofinger in seinem Sondervotum zum Sachverständigen-Gutachten hin.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.