Rentenpolitik in Deutschland: Volkswirtschaftlich unsinnig, sozialpolitisch verheerend
10. Mai 2012 | Patrick Schreiner
Jahrzehntelang baute die Alterssicherung in der Bundesrepublik auf dem Solidarprinzip auf: Diejenigen, die arbeiteten, finanzierten im so genannten „Umlageverfahren“ die Rente für diejenigen, die – im Regelfall altersbedingt – nicht mehr arbeiteten. Seit etwa fünfzehn Jahren ist dieses System drastischen Verschlechterungen unterworfen, die das Solidarprinzip grundsätzlich in Frage zu stellen drohen. Dieser Artikel wirft einen Blick auf diese Entwicklungen. Der Text ist dabei in drei Teile gegliedert. Der erste Teil untersucht zunächst die Diskussionen um vermeintlich negative Folgen der zunehmenden Alterung – Stichwort Demographie. Die kürzeren Teile zwei und drei untersuchen schließlich wesentliche politische Reaktionen auf diese Alterung: Es sind dies die Einführung einer auf dem so genannten „Kapitaldeckungsverfahren“ beruhenden Säule der Alterssicherung (Stichworte „Riester-Rente“, „Rürup-Rente“) sowie die Verlängerung der Lebensarbeitszeit (Stichwort „Rente mit 67“).
Demographie und Ideologie
In politischen wie auch in wissenschaftlichen Debatten um das Thema Alterssicherung wird immer wieder auf den demographischen Wandel verwiesen: Es stelle die Rentenversicherung und die öffentlichen Haushalte vor gravierende Probleme, wenn die Zahl der Versorgungsempfänger(innen) stetig wachse, während die Zahl der Erwerbstätigen sinke. So begründet auch die Bundesregierung in ihrem Statusbericht vom Herbst 2010 die Einführung der Rente mit 67 mit der zunehmenden Alterung, die das Statistische Bundesamt prognostiziert: „Das zahlenmäßige Verhältnis der über 64-Jährigen zu den 20- bis 64-Jährigen wird [2030] bei eins zu zwei Personen liegen. Heute beträgt es eins zu drei.“
Die Prognostizierbarkeit der Bevölkerungsentwicklung ist grundsätzlich in Frage zu stellen. Seit es Bevölkerungsprognosen gibt, nämlich seit etwa dem 16. Jahrhundert, sind diese regelmäßig und trotz stetig verbesserter Methoden gescheitert. Kritisch zu hinterfragen ist allerdings auch die Eindeutigkeit der Konsequenzen, die sich aus ihr ergeben. Dies soll im Folgenden geschehen.
Festzustellen ist zunächst, dass das Statistische Bundesamt tatsächlich einen drastischen Rückgang des Anteils der Erwerbsbevölkerung prognostiziert, wie Schaubild 1 zeigt: Im Jahr 1871 kamen auf eine Person über 64 Jahren noch 13,2 Menschen im erwerbsfähigen Alter (15-64 Jahre). Im Jahr 2010 sank dieser Wert auf 3,2. Im Jahr 2060 sollen auf jeden Menschen über 64 Jahren gerade noch 1,6 Menschen im erwerbsfähigen Alter kommen.
Schaubild 1: Verhältnis der 15-64-Jährigen zu Über-64-jährigen (Quelle: Statistisches Bundesamt, ab 2010 12. Bevölkerungsvorausberechnung, mittlere Variante, eigene Darstellung und Berechnung)
Undifferenziert betrachtet, wirkt dieser Rückgang an Erwerbsfähigen gegenüber der wachsenden Zahl an älteren Menschen bedrohlich. Gerade deshalb empfiehlt es sich, genauer hinzusehen. Tatsächlich nämlich liegt der drastischste Rückgang der Erwerbsbevölkerung längst hinter uns. Er fand im Zeitraum zwischen 1925 und 1970 statt. 1925 kamen auf einen älteren Menschen noch 11,9 Menschen im erwerbsfähigen Alter, 1970 nur noch 4,6 (in Schaubild 1 grün markiert). Der Wert sank damit um beinahe zwei Drittel. Dies ist ein deutlich größerer Rückgang als jener, der in den kommenden Jahren zu erwarten ist. Deutlich wird dies an der blauen Linie in Schaubild 1, die den jeweiligen Rückgang anzeigt. Er lag im Zeitraum 1925 bis 1970 stets deutlich über einem Prozent, 1934 sogar bei 2,4 Prozent – in den kommenden Jahrzehnten wird er klar unter einem Prozent bleiben.
Trotz des deutlichen Rückgangs an Erwerbsfähigen gegenüber der wachsenden Zahl an älteren Menschen kam es im Zeitraum zwischen 1925 und 1970 nicht zum Zusammenbruch der Alterssicherung. Ganz im Gegenteil wurde 1957 die Rentenversicherung überhaupt erst auf eine solidarische Umlagefinanzierung umgestellt. Mitten in der Phase der drastischsten Alterung der Bevölkerung in der deutschen Geschichte hat sich die Finanzierung der Renten durch Beiträge der Erwerbstätigen damit als tragfähiges Modell erwiesen.
Die starke Alterung der Bevölkerung in jener Zeit konnte man dank hoher Wachstumsraten ausgleichen. Das reale jährliche Durchschnittswachstum lag zwischen 1951 und 1959 bei 8,2 Prozent, in den 1960er Jahren bei 4,8 Prozent. Ein Teil dieses zusätzlichen Wohlstands konnte – ohne Wohlstandsverlust der Erwerbstätigen – an die zusätzliche Zahl älterer Menschen weitergegeben werden. Diese Feststellung zeigt, dass das solidarische Umlageverfahren auch in alternden Gesellschaften funktioniert. Schließlich ist realistischerweise anzunehmen, dass die Volkswirtschaften in westlichen Industriestaaten auch in Zukunft produktiver werden und Wachstum generieren. Damit wird es auch zukünftig möglich sein, mit weniger Erwerbstätigen ein Auskommen für eine immer älter werdende Bevölkerung zu erwirtschaften.
Dies zeigen Zahlen, basierend auf den Werten des Schaubilds 1: 2010 müsste eine erwerbsfähige Person das 1,31-fache des eigenen Einkommens erwirtschaften, damit die Gesellschaft alle ihre Mitglieder über 15 Jahren versorgen kann (4,2 Menschen bei 3,2 Erwerbsfähigen). Dieser Wert dürfte bis 2030, also im Zeitraum mit der größten in Zukunft zu erwartenden Alterung, auf 1,5 ansteigen. Das entspricht 14,5 Prozent in 20 Jahren. Mit einem Wirtschaftswachstum von nur 0,68 Prozent pro Jahr kann dieser drohende Wohlstandsverlust ausgeglichen werden. Zum Vergleich: Selbst in dem extrem wachstumsschwachen Jahrzehnt ab dem Jahr 2000, die Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007 eingerechnet, betrug das jährliche Durchschnittswachstum 0,9 Prozent, in den gleichfalls schwachen 1990er Jahren sogar 2,3 Prozent.
Die zunehmende Alterung stellt die solidarische, umlagefinanzierte Alterssicherung vor diesem Hintergrund keineswegs vor gravierende Probleme. Sehr viel grundsätzlicher wäre allerdings zu hinterfragen, ob die in Schaubild 1 und in politischen Debatten regelmäßig verwendete Berechnungsweise überhaupt sinnvoll ist. Gefragt wird hier nämlich nach der Anzahl der Erwerbstätigen je Rentnerin oder Rentner. Tatsächlich allerdings ist die Zahl der zu Versorgenden sehr viel größer: Sie umfasst gerade auch Kinder und Jugendliche. Diese sind nicht erwerbstätig, ihr Lebensunterhalt wird vielmehr von Dritten bestritten – primär von ihren Eltern, aber in Teilen durchaus auch von der Gesellschaft insgesamt.
Schaubild 1 muss also erweitert werden: Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht ist nicht die Zahl der älteren Menschen, sondern die Zahl aller durch Erwerbstätige zu versorgenden Menschen entscheidend. Es ist schließlich gleich, ob junge oder alte Menschen versorgt werden müssen – eine Umlage der Einkommen, weg von Erwerbstätigen und hin zu den zu versorgenden Menschen, findet in jedem Fall statt. Es sollte folglich nicht nach der Anzahl Erwerbstätiger je Person über 64 Jahren gefragt werden, sondern nach der Anzahl Erwerbstätiger je zu versorgender Person. Als „zu versorgende Person“ wiederum wären nicht nur die Über-64-Jährigen zu berücksichtigen, sondern auch Kinder und Jugendliche. Da Menschen heute zudem kaum mehr mit 15 Jahren, sondern eher mit 20 Jahren oder noch später ins Berufsleben eintreten, sollten als zu versorgende Kinder und Jugendliche alle Menschen im Alter zwischen 0 und 19 Lebensjahren angesehen werden. Schaubild 2 berücksichtigt diese Änderungen.
Schaubild 2: Verhältnis der 20-64-Jährigen zu Unter-20-Jährigen plus Über-64-jährigen (Quelle: Statistisches Bundesamt, ab 2010 12. Bevölkerungsvorausberechnung, mittlere Variante, eigene Darstellung und Berechnung)
Schaubild 2 zeigt, dass – nach Prognosen des Statistischen Bundesamts – in den kommenden Jahren die Zahl der Erwerbstätigen je zu versorgender Person in der Tat sinken dürfte. Sie sinkt allerdings nur in sehr geringem Umfang, nämlich von 1,56 (in 2010) auf 1,02 (in 2060). Damit erreicht sie einen Wert, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts schon einmal gegeben war: 1890 betrug er 1,01. Ein gravierender demographischer Wandel ist dies nicht. Der Unterschied zwischen 1890 und 2060 ist lediglich, dass in Zukunft die zu versorgenden Personen hauptsächlich Ältere sein werden, während es Ende des 19. Jahrhunderts vorwiegend Kinder und Jugendliche waren. Hier mag sich ein Vermittlungsproblem stellen, denn Ausgaben für den eigenen Nachwuchs werden die meisten Menschen lieber tätigen als Ausgaben für ein anonymes Rentensystem. Ein volkswirtschaftliches Problem ist der demographische Wandel vor diesem Hintergrund aber nicht.
Kapitaldeckung statt solidarischer Umlage
In der Alterssicherung lassen sich im Wesentlichen zwei Systeme unterscheiden: Das Umlageverfahren und das Kapitaldeckungsverfahren. Ersteres beruht auf dem Solidarprinzip, hier finanzieren Erwerbstätige Monat für Monat durch eigene Abgaben die Renten derjenigen, die nicht mehr berufstätig sind. Durch diese Zahlungen erwerben sie zugleich selbst Ansprüche auf eigene Renteneinkünfte, die später von den dann Erwerbstätigen finanziert werden müssen.
Das Kapitaldeckungsverfahren beruht demgegenüber auf einer regelmäßigen Kapitalanlage der Erwerbstätigen, bisweilen durch Zuschüsse seitens des Staates oder des Arbeitgebers ergänzt. Hier legt jede/r Erwerbstätige ausschließlich für sich selbst Geld zurück und verbraucht dieses im Alter selbst. In Deutschland wurde in den letzten Jahren mit der „Riester-Rente“, der „Rürup-Rente“ oder auch mit Betriebsrenten das Kapitaldeckungsprinzip in der Hoffnung gestärkt, damit die Auswirkungen des demographischen Wandels abzufedern.
Tatsächlich erscheint aus Sicht der Sparenden das Kapitaldeckungsverfahren als intelligent: Man legt Geld zurück, bekommt sogar Zinsen und kann am Lebensabend das eigene Geld verbrauchen. Da keine Umlage von Erwerbstätigen zu Nicht-Mehr-Erwerbstätigen stattzufinden scheint, scheint man sich zugleich der demographischen Probleme bequem entledigt zu haben.
Allerdings beruht eine solche Einschätzung auf einem grundlegenden Irrtum (Logeay/Meinhardt et al. 2009). Er wird deutlich, wenn man eine gesamtwirtschaftliche Perspektive einnimmt: Es ist ein Irrtum, zu glauben, man könne schon heute den Konsum von morgen zur Seite legen. Tatsächlich nämlich kann die Rentenzahlung eines bestimmten Jahres immer nur aus dem Volkseinkommen des gleichen Jahres aufgebracht werden. Nur was produziert wird, kann auch konsumiert werden. Damit aber entbindet die Rücklage von Kapital gerade nicht von der Notwendigkeit, in alternden Gesellschaften einen immer größeren Teil des Volkseinkommens zur Finanzierung von immer mehr Altersrenten verwenden zu müssen. Umlagen von Erwerbstätigen zu Nicht-Mehr-Erwerbstätigen werden in alternden Gesellschaften in jedem Fall notwendig sein.
Im Umlageverfahren beruhen diese auf tendenziell steigenden Rentenbeitragssätzen oder auf höheren Steuern zur Finanzierung der Rentenkassen. Im Kapitaldeckungsverfahren müssen Zinsen und Gewinne von Erwerbstätigen erwirtschaftet werden, damit sie den Nicht-Mehr-Erwerbstätigen zu Gute kommen können. Der volkswirtschaftliche Anteil der Lohneinkommen wird hier zu Gunsten der Gewinneinkommen zurückgehen; die zunehmenden Rentenansprüche (etwa in Rentenfonds an den Finanzmärkten präsent) werden durch steigende Gewinneinkommen befriedigt (sofern sie sich im Laufe eines Arbeitslebens nicht durch Finanzkrisen in Luft auflösen).
Nur wenn das zurückgelegte Kapital real investiert würde und hierdurch die Gesamtproduktion einer Volkswirtschaft zusätzlich wüchse, könnte die Steigerung der Gewinneinkommen ohne Wohlstandsverlust für die Erwerbstätigen vonstatten gehen. Einmal mehr erweist sich zusätzliches Wachstum damit als entscheidende Größe zur Sicherung des Wohlstands in alternden Gesellschaften. Genau dieses Wachstum aber ist bei Stärkung der Kapitaldeckung zu Lasten des Umlageverfahrens nicht zu erwarten: Zahlreiche Studien zeigen, dass Volkswirtschaften, die mehr sparen als andere, kein systematisch höheres Wachstum erreichen. Ganz im Gegenteil kann zunehmende Kapitaldeckung in der Altersvorsorge sogar schädlich sein für die Binnennachfrage und damit auch für Investitionen und Wachstum.
Die Rente mit 67
Die Rentenpolitik in Deutschland beruht aber nicht nur auf volkswirtschaftlich unsinnigen Behauptungen, sondern sie ist auch sozialpolitisch verheerend. Dies zeigt sich an der so genannten „Rente mit 67“. Sie wurde 2007 beschlossen und sieht vor, dass ab 2031 die Regelaltersgrenze bei 67 Jahren liegt – derzeit beträgt diese noch 65 Jahre, ab 2012 soll sie schrittweise angehoben werden. Nur wer dieses Alter beim Renteneintritt erreicht, hat Anspruch auf volle Rentenzahlungen. Mit dieser politischen Maßnahme scheint man zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Die Menschen bleiben länger im Erwerbsleben, ergo steigt die Zahl der Erwerbstätigen. Zugleich verkürzt sich die Lebenszeit, in der Menschen Rente beziehen, ergo sinkt die Zahl der Rentnerinnen und Rentner.
Die Zeche für diese Maßnahme tragen letztlich die Beschäftigten. Ihnen werden zwei Jahre des Rentenbezugs genommen – völlig unnötig, wie der erste Teil dieses Kapitels gezeigt hat. Denjenigen Beschäftigten, die aus gesundheitlichen Gründen oder aufgrund von Arbeitslosigkeit nicht bis 67 arbeiten können, bringt die Rente mit 67 überdies Rentenkürzungen. Hiervon betroffen sind viele: Schon heute nimmt die Zahl der Erwerbstätigen jenseits des 55. Lebensjahrs in Deutschland deutlich ab, wie selbst die Bundesregierung einräumen muss. Auch dies trägt zur Altersarmut in Deutschland bei.
Schaubild 3: Erwerbstätigenquote nach Altersgruppen in Prozent, 2009 (Quelle: Deutsche Bundesregierung, eigene Berechnung und Darstellung)
Schaubild 3 zeigt, dass die Erwerbstätigenquote der 20- bis Unter-55-Jährigen 78,5 Prozent beträgt, dann aber deutlich sinkt. Bei den 60-Jährigen beläuft sie sich gerade noch auf 51,8 Prozent, um bei den 64-Jährigen schließlich auf 22,2 Prozent zu sinken. Schon heute ist ein Renteneintrittsalter von 65 Jahren für die meisten Erwerbstätigen nicht erreichbar.
Zumindest kurz angemerkt soll sein, dass dieser Rückgang der Erwerbstätigkeit im zunehmenden Alter vor allem sozialversicherungspflichtig Beschäftigte trifft: Während bei den 20- bis Unter-55-Jährigen noch 73,1 Prozent der Erwerbstätigen sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, sind es bei den 55- bis Unter-60-Jährigen noch 68,5 Prozent. Bei den 60- bis Unter-65-Jährigen sinkt dieser Wert auf 59,2 Prozent.
Schaubild 4 zeigt abschließend beispielhaft, welche Berufsgruppen von gesundheitsbedingtem vorzeitigem Rentenzugang – und damit von Rentenkürzungen – schon heute besonders betroffen sind. Wenig überraschend sind dies insbesondere jene Berufsgruppen, die harte körperliche Arbeit verrichten: 2009 mussten beispielsweise 61,3 Prozent der Bergleute aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig in Rente gehen, bei Möbelpacker(inne)n sind es 42,2 Prozent, bei Schweißer(inne)n 30,8 Prozent. Sie liegen damit weit oberhalb des Durchschnitts von 19,9 Prozent – wie übrigens auch Erzieher(innen), bei denen immerhin 27,3 Prozent betroffen waren. Unternehmensberater(innen), Ärztinnen, Ärzte, Minister(innen) oder Abgeordnete hingegen können der Rente mit 67 beruhigt entgegensehen.
Schaubild 4: Rentenzugänge vor Rentenbeginn wegen verminderter Erwerbsfähigkeit in Prozent aller Rentenzugänge (außer Rentenzugänge wegen Todes), 2009 (Quelle: Deutsche Rentenversicherung, eigene Berechnung und Darstellung. Statistik umfasst weibliche und männliche Beschäftigte)
Die Rente mit 67 erweist sich damit nicht nur für sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Allgemeinen, sondern insbesondere für körperlich hart arbeitende Menschen als Rentenkürzungsprogramm. Nur ein Bruchteil von ihnen arbeitet heute bis 65 Jahre. Umso illusorischer ist die Hoffnung, sie könnten zukünftig bis 67 arbeiten. Gelingt ihnen dies aber nicht, so haben sie Abschläge bei der Höhe ihrer Rentenbezüge hinzunehmen.
Zusammenfassung
Die Rentenpolitik in Deutschland beruht seit mindestens zehn Jahren auf volkswirtschaftlich unsinnigen Annahmen, und sie hat sozialpolitisch, aber auch wirtschaftspolitisch verheerende Ergebnisse. Volkswirtschaftlich unsinnig ist sie, weil der demographische Wandel das bestehende solidarische Rentensystem keinesfalls vor unlösbare Probleme stellt. Die Stärkung des Kapitaldeckungsprinzips entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als Scheinlösung eines Scheinproblems, denn an der Tatsache notwendiger Umlagen von Erwerbstätigen zu Nicht-Mehr-Erwerbstätigen ändert es nichts. Anders als das solidarische Umlageverfahren kann das Kapitaldeckungsverfahren allerdings sozialen Ausgleich nicht sicherstellen. Sozialpolitisch verheerend ist schließlich auch die zweite vermeintliche Lösung des demographischen Scheinproblems: die Rente mit 67. Sie geht auf Kosten der Beschäftigten – nicht nur, aber insbesondere auf Kosten jener Kolleginnen und Kollegen, denen es nicht gelingt, bis ins hohe Alter von 67 Jahren zu arbeiten.
Literatur
- Brussig, Martin/ Knuth, Matthias (2011): Am Vorabend der Rente mit 67 – Erkenntnisstand und Erkenntnislücken zur Entwicklung der Erwerbschancen Älterer. In: WSI Mitteilungen 3 (2011). S. 99-106.
- Christen, Christian (2010): Abgewirtschaft. Kapitalgedeckte Alterssicherung und Finanzmarktkrisen. <http://www.gegenblende.de/++co++88992020-209c-11df-6645-001ec9b03e44> (28.10.2010).
- Deutsche Bundesregierung (2010): Aufbruch in die altersgerechte Arbeitswelt. Bericht der Bundesregierung gemäß § 154 Abs. 4 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch zur Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre. Berlin.
- Etzemüller, Thomas (2007): Ein ewigwährender Untergang. Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert. Bielefeld.
- Gasche, Martin (2011): Ist die Rente mit 67 ein Rentenkürzungsprogramm? Auf die Sichtweise kommt es an! In: Wirtschaftsdienst 91,1 (2011). S. 53-60.
- Logeay, Camille/ Meinhardt, Volker et al. (2009): Gesamtwirtschaftliche Folgen des kapitalgedeckten Rentensystems. Zwischen Illusion und Wirklichkeit. IMK-Report 43 (2009).
- Priewe, Jan/ Rietzler, Katja (2010): Deutschlands nachlassende Investitionsdynamik 1991-2010. Ansatzpunkte für ein neues Wachstumsmodell. Bonn.
Dieser Text erschien zuerst in: WISO-Info 3 (2011) (Link)
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.