Arbeitsmarkt-Klischees: Gegen den Popanz der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft"
19. Januar 2017 | Patrick Schreiner, Markus Krüsemann
Im vergangenen Dezember hat die Arbeitgeber-Lobby-Organisation „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM) auf ihrer Webseite eine Zusammenstellung mit dem Titel „Zehn Klischees über den deutschen Arbeitsmarkt – und ihre Widerlegung“ veröffentlicht. Überzeugen können ihre Argumente nicht.
Am 9. Dezember 2016 hat die INSM auf ihrer Webseite „Zehn Klischees über den deutschen Arbeitsmarkt – und ihre Widerlegung“ veröffentlicht. Sie behauptet, darin Arbeitsmarkt-Klischees mit Zahlen und Fakten zu widerlegen. Diesem Anspruch wird sie nicht gerecht:
Klischee 1: Es gibt fast nur noch befristete Verträge – gerade für Berufseinsteiger
Die INSM baut hier einen Popanz auf, um ihn danach zu „widerlegen“. Tatsächlich nämlich behauptet niemand Ernstzunehmendes, dass es „fast nur noch befristete Verträge“ gebe.
Fakt ist allerdings schon, dass befristete Beschäftigung junge Menschen weit überdurchschnittlich betrifft: „Fast jeder fünfte abhängig Beschäftigte unter 35 Jahren hat nur einen befristeten Arbeitsvertrag, mehr als 60 Prozent aller befristet Beschäftigten in Deutschland sind jünger als 35“, schreibt die Hans-Böckler-Stiftung unter Berufung auf Zahlen des Statistischen Bundesamts.
Wenn die INSM ferner betont, dass der Anteil der befristeten Arbeitsverträge laut Statistischem Bundesamt in den letzten Jahren zurückgegangen sei und zuletzt so niedrig war wie im Jahr 2005, dann dürfte sie das Jahr 2005 gezielt ausgewählt haben. In der Tat sinkt der Anteil befristet Beschäftigter seit einigen Jahren. Allerdings waren die Werte vor 2005 (und je nach Geschlecht und Altersgruppe auch danach) teils deutlich niedriger als 2005 und als heute. Die INSM wählt also ein für sie günstiges Vergleichsjahr, um ihre These der abnehmenden Befristungen zu stützen. Sie verschweigt, dass es heute nach wie vor sehr viel höhere Befristungsanteile als in den frühen 1990er Jahren gibt. Und auch hier sind gerade junge Menschen stark betroffen.
Klischee 2: Es gibt zu viele Akademiker für den deutschen Arbeitsmarkt
Ab wann wird aus viel zu viel? Nach welchen Kriterien kann das überhaupt beurteilt werden? Sei’s drum. Auch wenn die INSM es versucht: Das Argument, es gebe zu viele Akademiker am Arbeitsmarkt, lässt sich schon rein logisch nicht mit dem Hinweis widerlegen, dass Akademiker besser verdienen und seltener arbeitslos sind als Nichtakademiker. So könnte es nämlich durchaus sein, dass die im statistischen Durchschnitt bessere Arbeitsmarktsituation von Menschen mit akademischer Ausbildung lediglich auf bestimmte Gruppen innerhalb dieser Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Arbeitsmarkt zurückzuführen ist. Ihnen stünden dann andere Gruppen beruflich und akademisch Gebildeter gegenüber, deren Beschäftigungssituation alles andere als befriedigend ist. Und wer sagt, dass zusätzliche AkademikerInnen zu den ersten Gruppen und nicht zu den zweiten gehören würden?
Doch weg vom Konjunktiv. Tatsächlich gibt es gute Gründe, zu bezweifeln, dass mehr Bildung per se ein gutes arbeitsmarktpolitisches Rezept ist. Denn eine solche Sichtweise blendet notorisch aus, dass es in einer kapitalistischen Gesellschaft immer Gewinnerinnen und Gewinner auf der einen Seite gibt – und Verliererinnen und Verlierer auf der anderen. In den Worten Christoph Butterwegges: „Was zum individuellen Aufstieg taugen mag, versagt als gesellschaftliches Patentrezept.“ Es ist eben gerade nicht so, dass ab einem bestimmten Bildungsniveau von X der/die Einzelne einen bestimmten Standard an Einkommen oder Arbeitsplatzsicherheit genießt. Alleine “mehr Bildung” zu schaffen, würde lediglich die Zahl gut ausgebildeter Menschen in prekären Lebenssituationen erhöhen. Der entscheidende Grund hierfür ist, dass sich Verteilung nicht nach absoluten Kriterien richtet, sondern nach relativen. Bildung hat auf gesamtgesellschaftlicher Ebene immer (auch) einen positionalen Wert – der Wert von Bildung ist immer davon abhängig, wie viele andere Individuen mehr Bildung haben und wieviele weniger. Einkommen und soziale Sicherheit sind stets so verteilt, dass – stark schematisiert und überzeichnet – die oberen Y Individuen profitieren und für die unteren Z Individuen nur Prekarität und Ausgrenzung bleibt. The Winner takes it all. Ein höheres durchschnittliches Bildungsniveau der Individuen führt vor diesem Hintergrund unter sonst gleichen Bedingungen eben nicht zu einer gleichmäßigeren Verteilung des Reichtums.
Klischee 3: Zeitarbeit vernichtet Arbeitsplätze
Da hat die INSM vielleicht in die falsche Schublade gegriffen? Bisher war es bei ihr doch immer der Mindestlohn, der Arbeitsplätze vernichtet (eine Behauptung, die wir in der Liste der zehn Klischees schmerzhaft vermissen...). Und wie können Arbeitsplätze Arbeitsplätze vernichten? Oder sind Leiharbeitsjobs gar keine Arbeitsplätze? Wer behauptet denn so was. Einmal mehr Popanz, den die INSM hier aufbaut.
Schlechte Jobs sind Leiharbeitsjobs gewiss, schlechte Bezahlung und hohes Entlassungsrisiko inklusive. Denn mit einem haben sie recht, die selbst ernannten Klischee-Buster der INSM: Leiharbeitsverhältnisse sind mit durchschnittlich drei Monaten viel zu kurz. Was sie nicht sagen, ist, wie es den so Beschäftigten anschließend ergeht. Der Grund für ihr Schweigen: Bei den Zugängen in Arbeitslosigkeit steht die Arbeitnehmerüberlassung seit Jahren an erster Stelle. Zwischen Mai 2015 und April 2016 sind 355.000 LeiharbeitnehmerInnen arbeitslos geworden, gut die Hälfte nach nur drei Monaten oder noch kürzerer Einsatzzeit. Damit gingen 15 Prozent der Zugänge in Arbeitslosigkeit auf die Arbeitnehmerüberlassung zurück, eine Branche, die weniger als drei Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten stellt. Das ist „Hire and Fire“ in Reinkultur.
Ein großer Unterschied ist allerdings, ob man wie die INSM der Leiharbeit daraus eine Brückenfunktion in den Arbeitsmarkt andichtet, oder ob man lieber den Erkenntnissen von diesbezüglichen Studien des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) vertraut. Ihnen zufolge ist Leiharbeit generell kein Sprungbrett in reguläre Beschäftigung. Selbst Arbeitslose können mit einem Leiharbeitsintermezzo ihre Chancen, anschließend eine andere Beschäftigung zu finden, nur minimal erhöhen.
Dass Leiharbeit Arbeitsplätze vernichtet, ist Unsinn (sagt ja auch niemand Ernstzunehmendes), dass Leiharbeit, wie die INSM behauptet, Arbeitsplätze schafft, ist aber auch nicht die Wahrheit. Im zweiten Halbjahr 2015 standen 691.000 neu abgeschlossenen Leiharbeitsverhältnissen 717.000 beendete Leiharbeitsverhältnisse gegenüber, das nennt man Drehtüreffekt. Richtig dagegen ist die Aussage, dass Leiharbeit zunehmend reguläre Beschäftigung verdrängt. Und das ist kein Klischee.
Klischee 4: Ältere haben schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt
Interessant die INSM-Formulierung des Klischees: nicht von „schlechteren“, sondern von „schlechten“ Chancen ist da die Rede. Ab wie viel Prozent Arbeitslosigkeit aber kann man von „schlechten Chancen auf dem Arbeitsmarkt“ sprechen? Darüber ließe sich trefflich streiten. Also einmal mehr Popanz.
Tatsache ist: Nach wie vor haben ältere Menschen schlechtere Chancen am Arbeitsmarkt, vergleicht man sie mit Menschen jüngeren und mittleren Alters. Ihre Beschäftigungsquote ist niedriger, ihre Arbeitslosenquote höher. So waren 2014 insgesamt 55,9 Prozent der Menschen zwischen 15 und 64 beschäftigt, aber nur 49,4 Prozent der 60-Jährigen und sogar nur 17,4 Prozent der 64-Jährigen. Und während die offizielle Arbeitslosenquote im gleichen Jahr bei allen zivilen Erwerbspersonen 6,7 Prozent betrug, betrug sie bei den Über-55-Jährigen 7,9 Prozent.
Weil sie an diesen Fakten nicht vorbei kann, formuliert die INSM erstens das Klischee derart verschwurbelt. Zweitens lockt sie aus dem gleichen Grund die Menschen aus Glatteis: Sie betont, dass sich die Arbeitsmarktlage Älterer verbessert habe. Das ist dann zwar nicht falsch, kann aber angesichts der sich allgemein verbessernden Situation am Arbeitsmarkt nicht wirklich überraschen und ist bei diesem Thema gar nicht der springende Punkt.
Übrigens: In Deutschland können nach wie vor Arbeitslosengeld-II-EmpfängerInnen ab 63 Jahren gezwungen werden, in Rente zu gehen, auch wenn die Bundesregierung das Gegenteil behauptet. Warum wohl gibt es diese Möglichkeit, wenn die Chancen Älterer am Arbeitsmarkt doch angeblich so gut sind?
Klischee 5: Der Fachkräftemangel ist eine Erfindung der Medien
Dem Wirtschaftswissenschaftler Karl Brenke vom DIW ist vollumfänglich zuzustimmen:
Wenn der Fachkräftemangel wirklich so groß wäre, dann wären die Unternehmen nicht so wählerisch, dann müssten sie auch unerfahrene Leute mit Kusshand nehmen und höhere Löhne zahlen.
Besonders deutlich wird dies am Gesundheits- und Pflegebereich, auf den die INSM selbst verweist. Angeblich fehlen dort 30.000 Fachkräfte. Gleichzeitig gibt es jedoch nur wenige Branchen, in denen die Arbeitsbedingungen so schlecht sind – und auch bei der Entlohnung ist noch viel Spielraum nach oben.
Klischee 6: Die Mittelschicht stirbt aus
Wenn aus Schrumpfen Aussterben wird, handelt es sich nicht einfach nur um eine Bild-Schlagzeile. Nein, die Aussage ist bewusst drastisch formuliert, um bei den Lesenden gleich vorweg eine spontane Reserviertheit hervorzurufen. Die wird wohl benötigt, denn wenn die INSM behauptet, die Mittelschicht in Deutschland schrumpfe nicht, so widerlegt dies schon die eigene Grafik. Dort ist zu erkennen: Die Mittelschicht (gemessen an einem Einkommen zwischen 67 und 200 Prozent des Medianeinkommens nach dem US-Berechnungskonzept) ist seit 1991 von 66 auf 61 Prozent der Bevölkerung geschrumpft. Quelle: Wirtschaftsforschungsinstitut DIW. Wenn die INSM nun schreibt, der Anteil der Mittelschicht sei in diesem Zeitraum von 25 Jahren „kaum gesunken“, dann ist dies beschönigend und schlicht falsch.
Und dabei hat sie sogar noch eine für sie günstige Datengrundlage gewählt. Sie verschweigt, dass das DIW auch Zahlen vorgelegt hat, die einer anderen Berechnungsweise folgen und die aus Sicht der INSM noch etwas ungünstiger ausfallen: So ging die Mittelschicht (gemessen an einem Einkommen zwischen 70 und 150 Prozent des Medianeinkommens nach in Deutschland üblichem Einkommenskonzept) sogar von 63 auf 56 Prozent zurück. Und mehr noch: Diesen Zahlen zufolge ist der Rückgang auch in den letzten Jahren nicht gestoppt worden, wie die INSM unter Bezugnahme auf die oben genannten Zahlen behauptet.
Klischee 7: Die Rente mit 63 beseitigt Gerechtigkeitslücken
Schon die ersten Worte dieser Klischee-Formulierung sind falsch: Denn das Eintrittsalter der so genannten „Rente mit 63“ wird beständig angehoben, bis daraus eine „Rente mit 65“ geworden ist. Die Bezeichnung "Rente mit 63" ist daher Quatsch, wenn auch weit verbreitet.
Hinzu kommt, dass auch hier die INSM einen Popanz aufbaut, um ihn zu widerlegen: Schon eine kurze Google-Recherche zeigt, dass kaum jemand behauptet, die „Rente mit 63“/65 beseitige Gerechtigkeitslücken. Wenn der Begriff in diesem Zusammenhang verwendet wurde, etwa von der Bundesregierung, dann meist oder immer bezogen auf die zeitgleich beschlossene „Mütterrente“.
Davon abgesehen, bleibt es ein Rätsel, weshalb die INSM-Behauptung, junge Menschen müssten „die Kosten für die Rente mit 63“ tragen, das angebliche Klischee widerlegen soll, dass die „Rente mit 63“/65 Gerechtigkeitslücken beseitige. Denn selbst wenn diese Behauptung richtig wäre, widerspräche sie argumentationslogisch nicht der Feststellung, dass die „Rente mit 63“/65 Gerechtigkeitslücken beseitige. Denn man könnte ja "Gerechtigkeitslücken" beseitigen und die Kosten dennoch den Jungen aufbürden, also neue "Gerechtigkeitslücken" schaffen. Beseitigt hätte man dann trotzdem welche.
Aber Schluss mit dem Konjunktiv. Denn tatsächlich ist die Behauptung demagogisch und schlicht falsch, dass die Jungen hier für die Alten zahlen. Es wird keine neue "Gerechtigkeitslücke" geschaffen. Die INSM verschweigt, dass in einer Sozialversicherung einem Beitrag stets auch eine Leistung gegenübersteht. Daher können zu einem späteren Zeitpunkt auch die Jungen selbst von der „Rente für besonders langjährig Versicherte“ (so der richtige Name) profitieren. Jedenfalls wenn sie so schlau sind, der INSM die kalte Schulter zu zeigen und die Rente für besonders langjährig Versicherte beizubehalten. So ist das im Generationenvertrag: Heute bezahlt man – und in Zukunft profitiert man selbst. Die INSM feuert hier einmal mehr in gefährlicher Weise einen Generationenkonflikt an und untergräbt die gesamtgesellschaftlichen Solidarsysteme.
Klischee 8: Arbeitnehmer können sich immer weniger leisten
Auch hier wählt die INSM die Jahreszahlen so, wie sie für ihr Argument günstig sind. Sie behauptet, dass sich die Beschäftigten 2015 durchschnittlich 5,9 Prozent mehr von ihrem Einkommen leisten konnten als 2010. Das ist korrekt. Sie verschweigt allerdings, dass die realen Einkommen der ArbeitnehmerInnen seit dem Jahr 2000 zunächst sogar rückläufig waren und erst in jüngster Zeit wieder etwas über dem Wert jenes Jahres liegen. Seit 2000 also nur ein kleines Plus. Demgegenüber waren die Kapital- und Gewinneinkommen in den 2000er Jahren geradezu explodiert, was selbst die Krise ab 2009 nicht umgekehrt hat. Und auch die Produktion und Produktivität sind seither enorm angestiegen. Das Plus der ArbeitnehmerInnen hätte also sehr viel größer sein können und müssen. All das verschweigt die INSM geflissentlich.
Klischee 9: Die Deutschen müssen immer mehr Überstunden machen
Während ein Gutteil der Überstunden wenigstens bezahlt wird, leisten Millionen ArbeitnehmerInnen auch unbezahlte Mehrarbeit. Zusammen waren es 2015 über 1,8 Milliarden Stunden, 997,1 Millionen davon waren unbezahlte Überstunden. Die lässt die INSM gleich ganz unter den Tisch fallen, 816 Millionen bezahlte Überstunden klingt ja auch besser. Im Vorjahr waren es allerdings nur knapp 798 Millionen Stunden.
Längerfristig betrachtet ist die absolute Zahl an bezahlten Überstunden in der Tat nicht größer geworden. Zwischen 2005 und 2015 schwankte sie zwischen knapp 673 Millionen (der niedrigste Wert, 2009) und knapp 858 Millionen (der höchste Wert, 2012). Ganz offensichtlich spielen hier konjunkturelle Einflüsse eine Rolle.
Um die Überstundenentwicklung genauer zu analysieren, müsste man sie mit der Entwicklung des gesamten Arbeitsvolumens in Deutschland oder auch mit der Veränderung der Beschäftigtenzahlen ins Verhältnis setzen. Das ist für eine saloppe Klischeezerstörung natürlich zu kompliziert, ja geradezu störend. Aber um Aufklärung geht es ja sowieso nicht, denn mit so schwammigen Sätzen wie „Deutsche haben in der Regel pünktlich Feierabend“ zu argumentieren - da klärt sich gar nichts auf.
Klischee 10: Der deutsche Arbeitnehmer ist europaweit der Fleißigste
Lassen wir die Frage der Arbeitsverdichtung außen vor, so hat die INSM Recht: Sowohl bei der Wochenarbeitszeit als auch bei der Jahresarbeitszeit ist Deutschland keineswegs europäischer Spitzenreiter. Und das ist auch gut so, ist eine rückläufige Arbeitszeit doch Zeichen für einen gewissen Wohlstand des betreffenden Landes. Man hätte sich allerdings gewünscht, dass die INSM und die Arbeitgeber dieses „Klischee“ auch damals öffentlichkeitswirksam widerlegt hätten, als fast ganz Deutschland über die angeblich so faulen Griechen schimpfte - jene Griechen, die (gemessen an den Jahresarbeitsstunden) in Europa am fleißigsten sind.
Fazit
In ihrer Kampagne spricht die INSM nicht zufällig von Klischees und meidet Begriffe wie Thesen, Argumente, Irrtümer oder Ansichten. Denn während man Argumente und selbst Ansichten oder vermeintliche Fehleinschätzungen Andersdenkender sachbezogen aufgreifen muss, lässt sich der Begriff Klischee beliebig und nach eigenem Gusto mit Inhalten füllen. Zudem muss man Klischees niemandem zuschreiben. Wie günstig, denn die reichlich holzschnittartigen und oft provokativen Formulierungen würde sich in dieser Schlichtheit kaum jemand mit Sachkenntnis zu eigen machen. Nein, sie sind auf dem INSM-eigenen Mist gewachsen, denn nur vor dem Hintergrund solch undifferenzierter Stammtischparolen können sich die entgegengesetzten vermeintlichen Fakten als intuitiv überzeugend ins Hirn der Lesenden schleichen.
Ungeachtet dessen halten die angeführten Widerlegungen einem Faktencheck nicht stand. Sie sind bestenfalls halbe Wahrheiten.
Dass die INSM sich derart zu Fehlentwicklungen am Arbeitsmarkt positioniert, wie sie sich positioniert, kann nicht überraschen: Sie wurde im Jahr 2000 vom Metall-Arbeitgeberverband gegründet, bis heute wird sie finanziell von Arbeitgeberverbänden getragen. Sie versteht sich zwar nach eigener Aussage als Organisation, die sich „für fairen Wettbewerb, unternehmerische Freiheit, sozialen Ausgleich, Chancengerechtigkeit und eine verantwortungsvolle, generationengerechte Politik“ einsetzt. Faktisch aber vertritt sie die Interessen ihrer Geldgeber: Sie fordert niedrigere Sozialleistungen und Lohnzurückhaltung, Privatisierungen und Deregulierungen, Steuersenkungen und eine an den Wünschen der Unternehmen orientierte Bildungspolitik ein. Zu ihrer Strategie gehört es, öffentlich bekannte Persönlichkeiten für sich sprechen zu lassen – als so genannte INSM-„Botschafter“. Dies sind etwa Mainstream-Wissenschaftler, Unternehmer, vor allem in den ersten Jahren aber durchaus auch prominente Schauspieler, Sportstars und Politiker aller Parteien (mit Ausnahme der Linkspartei bzw. PDS). Auch durch vermeintlich wissenschaftliche Studien, die die INSM bei ihr nahestehenden Einrichtungen oder ihren Botschaftern in Auftrag gibt, setzt sie erfolgreich ihre Themen. Und nicht zuletzt unterhält sie eine gut gemachte Webseite mitsamt eines Blogs.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.
Markus Krüsemann ist Soziologe und Mitarbeiter am Göttinger Institut für Regionalforschung. Unter www.miese-jobs.de betreibt er ein Informationsportal zu atypischen und prekären Beschäftigungsformen.