Fairness und Ungleichheit
4. Mai 2017 | David F. Ruccio
Ist es eine Überraschung, wie Christina Starman, Mark Sheskin und Paul Bloom argumentieren, dass Fairness nicht dasselbe wie Gleichheit ist?
Christina Starman, Mark Sheskin und Paul Bloom:
Sowohl in der Wissenschaft als auch in der allgemeinen Öffentlichkeit gibt es immense Sorgen über die ökonomische Ungleichheit, und viele Menschen betonen, dass Gleichheit ein wichtiges soziales Ziel sei. Wenn Menschen aber gefragt werden, wie die ideale Verteilung des Reichtums in ihrem Land aussehen würde, dann ziehen sie tatsächlich ungleiche Gesellschaften vor. Diese beiden Phänomene lassen sich miteinander in Einklang bringen, wenn man – trotz entgegenstehendem Anschein – zur Kenntnis nimmt, dass es keinen Beweis dafür gibt, dass die Menschen sich wegen der ökonomischen Ungleichheit selbst Sorgen machen. Sehr viel mehr machen sie sich Sorgen wegen etwas, das oft mit Ungleichheit verwechselt wird: ökonomische Unfairness.
Ich hingegen denke immer noch, dass viele Menschen sich heute wegen beidem Sorgen machen – wegen mangelnder ökonomischer Fairness und zugleich wegen der grotesken Ausmaße ökonomischer Ungleichheit.
Lassen Sie es mich erklären. Wie ich schon früher geschrieben habe, bin ich nicht sonderlich überzeugt von der Idee, die Starman/Sheskin/Bloom sowie andere Evolutionspsychologen vertreten, dass Fairness ein Teil des menschlichen biologischen Erbes sei. Stattdessen neige ich stärker dazu, Geschichte und Gesellschaft in den Blick zu nehmen.
Fairness, so denke ich, ist als Konzept ein Teil der bürgerlichen Gesellschaft. Es wird in einer großen Vielzahl an Diskursen und an vielen Orten geschaffen und verbreitet, einschließlich der Wirtschaftswissenschaften. (Um nicht missverstanden zu werden: Es mag in der menschlichen Geschichte andere Vorstellungen von Fairness geben, außerhalb und jenseits der bürgerlichen Gesellschaft. Mein Punkt ist lediglich, dass der Kapitalismus seine eigenen besonderen Begriffe von Fairness hat, und sie sind es, die unseren derzeitigen „Fairness-Instinkt“ prägen.)
Fairness ist ein ganz wesentlicher Teil der Selbst-Rechtfertigung der bürgerlichen Gesellschaft. Zum Beispiel werden Marktergebnisse für fair gehalten, weil souveräne Individuen frei darin sind, freiwillige Transaktionen zu vollziehen, die wiederum zum Tausch von Gleichwertigem führen. Diese Vorstellung wird von der gegenwärtigen Gesellschaft geschaffen und gefördert, besonders vom ökonomischen Mainstream.
Individuen im gegenwärtigen Kapitalismus werden daher, zumindest teilweise, von bestimmten Vorstellungen der Fairness geprägt. Sie drücken diese in vielerlei Kontexten aus – von der Teilnahme am „ultimatum game“ bis hin zur Unterscheidung zwischen “takers” und “makers”.
Daher kann es auch nicht besonders überraschen, dass diese Individuen der Aussage zustimmen, es sollte ein gewisses Maß an Ungleichheit bei der Verteilung des Produzierten geben. Auch das gehört zur kapitalistischen Selbst-Rechtfertigung – dass „faire“ Prozesse zu ungleichen Ergebnissen führen. Daher scheinen die Menschen damit einverstanden zu sein, dass nicht jeder das gleiche Einkommen oder den gleichen Reichtum erhalten kann oder soll. Wir haben verschiedene Fähigkeiten, Bedürfnisse, Sehnsüchte und Umstände, so heißt es, die zu unterschiedlichen Einkommen und Reichtümern führen – vielleicht sogar führen müssen.
Zunahme der Einkommensungleichheit in den USA: durchschnittliches Einkommen des obersten einen Prozents (blau), der obersten zehn Prozent (rot) und der untersten 90 Prozent (grün) in Preisen des Jahres 2015.
Irgendwann allerdings sind die Einkommensungleichheiten so obszön geworden, so losgelöst von irgendwelchen nachweisbaren Unterschieden in den Fähigkeiten, Bedürfnissen, Sehnsüchten und Umständen, dass die Menschen – im Namen der Fairness – mehr Gleichheit verlangen.
Ich denke, auf diese Weise sind die Ideen von Fairness und Gleichheit miteinander in Einklang zu bringen: Nicht, wie Starman/Sheskin/Bloom es nahelegen, dass die Menschen sich tatsächlich wegen der Fairness, nur scheinbar aber wegen der Ungleichheit Sorgen machen. Vielmehr widersprechen die derzeitigen Ausmaße von Ungleichheit den bürgerlichen Vorstellungen von Fairness so sehr, dass die Menschen vielleicht keine vollständige Gleichheit, aber doch sicherlich viel mehr Gleichheit verlangen, als es heute gibt.
Tatsächlich relevant ist nicht die Frage, ob es ein „universales moralisches Interesse an Fairness“ gibt. Tatsächlich relevant ist vielmehr, ob das derzeitige System sein Versprechen erfüllt, faire (und damit gleichere) Verteilungsergebnisse zu schaffen – oder, alternativ, ob es notwendig ist, ein anderes Gefüge aus ökonomischen und sozialen Institutionen zu schaffen, das dieses Fairness-Versprechen tatsächlich erfüllt und zugleich mehr Gleichheit mit sich bringt, als es heute in den USA gibt.
Der Artikel erschien zuerst auf Englisch hier: https://anticap.wordpress.com/2017/04/13/fairness-and-inequality/. Wir danken für die Genehmigung zur Übersetzung und Zweitveröffentlichung. Übersetzung: Patrick Schreiner.
David F. Ruccio ist ein US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler.