Niedrigzinspolitik: Warum sie richtig ist
8. September 2017 | Patrick Schreiner, Joshua Seger
Im November 2016 befragte die "Bild" den neoliberalen Wirtschaftswissenschaftler und Ex-Chef des Münchener ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, zu den Auswirkungen der EZB-Niedrigzinspolitik. Dieser gab zum Besten, was zu erwarten war: Wer früher über 30 Jahre eine Rente angespart habe, dessen Rentenzahlungen setzten sich am Ende zu zwei Dritteln aus Zinsen und einem Drittel aus dem eigentlich Ersparten zusammen. Heute sei dies anders. Dem deutschen Sparer bleibe wegen der Niedrigzinsen lediglich noch das eine Drittel, "aber selbst das ist nicht sicher, weil die EZB Deutschland inflationieren will."
Diese Äußerung ist nicht nur wegen ihres nationalistischen Zungenschlags fragwürdig, sondern auch in der Sache falsch. Zwar betrug der durchschnittliche Realzins in den letzten sechs Jahren minus 0,1 Prozent ("Realzins" bezeichnet den um die Inflation bereinigten Zins, der dann die tatsächliche Wertveränderung etwa eines Sparguthabens beziffert.) Allerdings sind negative Realzinsen nichts Neues. Seit 1970 lag der Realzins in 28 von 47 Jahren im negativen Bereich. Was wir derzeit erleben, ist also eher Normalität als Ausnahme.
Falsch ist Sinns Äußerung aber auch aus ökonomischer Sicht. Die EZB macht, was eine Zentralbank in Krisen machen sollte und was etwa auch ihre US-amerikanische, britische oder japanische Pendants machen bzw. gemacht haben: Sie sorgt dafür, dass Staaten nicht zahlungsunfähig werden können. Und sie nutzt ihre geldpolitischen Instrumente, um die Zentralbankgeld-Menge und die zwischen Banken geltenden Zinssätze zu beeinflussen. Dazu kann sie etwa die Zinssätze verändern, zu denen sie Kredite an Banken vergibt. Oder sie kann Wertpapiere oder Fremdwährungen ankaufen und verkaufen. Sie tut dies mit dem Ziel, die wirtschaftliche Entwicklung wieder in Gang zu bringen und die Preise zu stützen. Ohne ein solches Eingreifen der EZB wäre die Eurozone vermutlich auseinandergebrochen. Staaten wären zahlungsunfähig geworden und Banken in die Pleite geschlittert. Eine Deflation (das Gegenteil von Inflation) hätte Schulden unbezahlbar werden und Produktion sowie Konsum einbrechen lassen. Die Krisenspirale hätte sich weiter und schneller gedreht. Dann würde jetzt nicht über Niedrigzinsen geschimpft, sondern über ausufernde Massenarbeitslosigkeit geklagt.
Dass die EZB angesichts des enormen Ausmaßes der Krise in den letzten Jahren eine expansive Geldpolitik betrieben hat, unterscheidet sie nicht von anderen Zentralbanken. Im Gegenteil war sie dabei sogar noch zögerlich. Der wesentlichste Unterschied etwa zwischen der europäischen und der US-amerikanischen Geldpolitik war, dass letztere früher und konsequenter auf einen expansiven Kurs eingeschwenkt ist.
Das lange Zögern der EZB ist ein wesentlicher Grund dafür, dass die Eurozone heute wirtschaftlich schlechter dasteht als die USA. Ein weiterer Grund dafür ist, dass die expansive Geldpolitik nicht um eine entsprechende Finanz- und Lohnpolitik ergänzt wurde. Eine Zentralbank kann die Pferde lediglich zur Tränke führen – trinken müssen die aber immer noch selbst. In Europa tun sie – nicht zuletzt auch auf massiven Druck der deutschen Bundesregierung – genau dies nicht: Anstatt auf höhere Nachfrage durch höhere Löhne, Investitionen und Sozialstaatlichkeit zu setzen, kennen die europäischen Krisenländer seit Jahren nur Arbeitsmarkt-Deregulierung, Lohnkürzungen und Sozialabbau. Positive geldpolitische Impulse werden damit durch negative finanz- und lohnpolitische Impulse neutralisiert. Das kann nicht funktionieren – wie Griechenland besonders eindrücklich zeigt.
Fatalerweise hat ausgerechnet die EZB diese neoliberalen „Reformen“, diese Kürzungs- und Privatisierungsorgien mit entworfen und durchgesetzt. Dabei hat sie selbst vor Erpressung – etwa der linken griechischen SYRIZA-Regierung – nicht zurückgeschreckt. Zu kritisieren gibt es an der EZB also durchaus einiges. Von dieser Kritik lesen wir bei Sinn & Co. aber nichts.
Auch lesen wir bei ihnen nichts von den problematischen Umverteilungswirkungen, die mit den aktuell niedrigen Zinsen einhergehen. Die BesitzerInnen von Immobilien und Aktien können sich freuen: Die Nachfrage nach diesen Anlagen steigt – und damit auch deren Wert. Diese Krisengewinnlerei ließe sich über eine entsprechende steuerliche Rück-Umverteilung wieder wettmachen. Vermögensteuern, Finanztransaktionssteuern oder eine Anhebung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommensteuer wären Mittel der Wahl. Davon will die herrschende Politik aber nichts wissen. Und verhält sich damit durchaus konsequent – es passt zu Lohnkürzungen und Sozialabbau. Wirtschafts- und verteilungspolitisch ist es aber fatal.
Und was ist von dem Argument zu halten, die EZB (und die BefürworterInnen ihrer expansiven Geldpolitik) seien lediglich die Ärzte am Krankenbett des todkranken Krisenkapitalismus? Wenig. Oft vorgetragen und nie eingetreten, ignoriert die These vom nahenden und lediglich verschobenen Ende des Kapitalismus die mit der Krisenpolitik weiter beförderte Machtverschiebung zugunsten des Kapitals. Vor allem aber kann es wohl kaum linke Politik sein, die Menschen in Armut und Verelendung zu treiben in der Hoffnung, diese lehnten sich dann endlich gegen ihre kapitalistischen Unterdrücker auf. Eine solche Haltung ist zynisch. Und der Schuss kann rasch nach hinten losgehen.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.
Joshua Seger studiert Politikwissenschaft in Darmstadt.