"Jobwunder"? Aktivierende Arbeitsmarktpolitik führt zu Erwerbsarmut
6. Juli 2017 | Patrick Schreiner
Die Hans-Böckler-Stiftung hat heute eine Studie vorgelegt, die es in sich hat. Detailliert analysieren und schildern die ForscherInnen den Zusammenhang zwischen Erwerbsarmut und aktivierender Arbeitsmarktpolitik. Es zeigt sich: Hartz IV und Agenda 2010 haben "Armut trotz Arbeit" in Deutschland verschärft. Und zwar weit mehr als in anderen europäischen Ländern.
Aktivierende Arbeitsmarktpolitik unterstellt, dass Arbeitslose einen gehörigen Tritt in den Allerwertesten bräuchten, um überhaupt wieder Arbeit anzunehmen bzw. annehmen zu wollen. Denn nicht ein Mangel an Arbeitsplätzen, sondern ein Mangel an Arbeitswille und Motivation sei das Problem. "Fördern und Fordern" war die aus dieser Denke abgeleitete Formulierung – mit eindeutigem Schwerpunkt auf dem "Fordern". Entsprechend hat man europaweit seit den 1990er Jahren die Arbeitsmarktpolitik neu ausgerichtet. Dorothee Spannagel, Daniel Seikel, Karin Schulze Buschoff und Helge Baumann schreiben dazu:
Im Zuge dieser Reformen wurden typischerweise Höhe und Bezugsdauer von Transferleistungen gekürzt, Bedingungen für den Zugang zu Transferleistungen verschärft, während Ausgaben für Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen erhöht wurden.[…] Aktivierungspolitiken liegt die Philosophie zugrunde, dass Arbeitslosigkeit im Grunde freiwillig und damit selbstverschuldet ist […] Dieser Sichtweise zufolge wird Arbeitslosigkeit durch – im Vergleich zu Einkommen aus Erwerbsarbeit –zu hohe Transferleistungen verursacht. Demnach erzeugen zu großzügige Transferleistungen negative Anreize, die Arbeitslose davon abhalten, offene (schlecht vergütete) Arbeitsangebote anzunehmen […] Aktivierungspolitiken zielen daher darauf ab, Arbeitsanreize zu erhöhen, um arbeitslose Personen zu „aktivieren“ […]
Die finanzielle Absicherung bei Arbeitslosigkeit wurde gekürzt und an strengere Bedingungen geknüpft. In Deutschland ging schon die CDU-CSU-FDP-Regierung unter Helmut Kohl entsprechend vor, verschärft wurde diese Politik anschließend von SPD und Grünen unter Gerhard Schröder. Stichworte: Hartz IV und Agenda 2010. Abhängig Beschäftigte waren fortan gezwungen, schlechtere und schlechter bezahlte Jobs anzunehmen, und zwar auch unterhalb ihrer Qualifikation und unterhalb des Niveaus ihrer bisherigen Beschäftigung. Dies hat die Verhandlungsposition der Arbeitgeber gestärkt und die Beschäftigten geschwächt.
Im Ergebnis, so stellen die ForscherInnen fest, hat sich die Erwerbsarmut (also Armut trotz Arbeit) zwischen 2004 und 2014 in Deutschland quasi verdoppelt: Von knapp unter fünf Prozent auf knapp unter zehn Prozent der Beschäftigten. In keinem anderen Land Europas ist dieser Anstieg dabei auch nur annähernd so groß wie in Deutschland: Auf den Plätzen folgen Slowenien, Zypern und Estland mit einem Anstieg im genannten Zeitraum um jeweils etwa das 1,4-fache. (Als erwerbsarm gilt dabei eine Person, wenn sie im Jahr mehr als sechs Monate erwerbstätig ist und in einem Haushalt lebt, der mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens auskommen muss; das Haushaltseinkommen wird dabei gewichtet, um Haushalte verschiedener Größe und Zusammensetzung vergleichbar zu machen.)
Der statistische Zusammenhang zwischen dem Ausmaß aktivierender Arbeitsmarktpolitik und der Erwerbsarmut, den die ForscherInnen nachweisen, ist klar:
- Je niedriger das Arbeitslosengeld, desto höher das Erwerbsarmutsrisiko im Haushalt
- Je strenger die Zumutbarkeitsregeln, desto höher das Erwerbsarmutsrisiko
- Je strenger die Auflagen für Arbeitssuchende, desto höher das Erwerbsarmutsrisiko
- Je strenger die Sanktionen, desto höher das Erwerbsarmutsrisiko
Fazit: Wer A sagt, muss auch B sagen – und wer A gut findet, kann B nicht schlecht finden. Ohne Erwerbsarmut sind Agenda 2010, Hartz IV und ähnliche Konzepte nicht zu haben. Politische Aussagen wie die, dass Agenda 2010 und Hartz IV durchaus richtig und erfolgreich gewesen seien und man nur mehr gegen Erwerbsarmut hätte tun müssen, gehen an der Realität vorbei.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.