Interview
Stefan Dietl: „Die AfD ist nach wie vor eine marktextremistische Partei“
14. September 2017 | Patrick Schreiner
Ein Interview mit Stefan Dietl zur Debatte um eine möglicherweise zukünftig „sozialere“ Ausrichtung der AfD. Dietl ist freier Autor und ehrenamtlicher Gewerkschafter. Kürzlich erschien zum Thema sein Buch „Die AfD und die soziale Frage“.
Die bisweilen zu lesende These, die AfD öffne sich langsam gegenüber den Belangen und Interessen der abhängig Beschäftigten und der sozial Benachteiligten, teilen Sie ausdrücklich nicht. Was macht Sie diesbezüglich skeptisch?
Stefan Dietl: Ich halte es keinesfalls für ausgeschlossen, dass sich die AfD so entwickelt, wie es zahlreiche Beobachter vermuten. Dass sie also vermehrt ihre nationalistische und rassistische Hetze mit sozialer Demagogie kombiniert. Ich denke auch, die Chancen für eine solche national-sozial ausgerichtete Partei stünden in Deutschland leider gut. Wogegen ich jedoch anschreibe, ist, dass eine solche Entwicklung als beinahe schon zwangsläufig angesehen wird. Die AfD ist nach wie vor eine marktextremistische Partei. Derzeit besetzen immer noch die marktradikalen Hardliner die entscheidenden Stellen in der Partei. Alice Weidel ist Bundestagsspitzenkandidatin, Beatrice von Storch stellvertretende Vorsitzende und Jörg Meuthen Co-Vorsitzender. Allesamt sehr gut vernetzte neoliberale Hardliner. Auch das Grundsatzprogramm liest sich wie eine Wunschliste neoliberaler Think-Tanks. Steuerentlastungen für Unternehmen und Vermögende, Deregulierung und umfassende Privatisierungen, Rückzug des Staates auf allen Ebenen der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Eine Öffnung für die ökonomischen Interessen abhängig Beschäftigter und sozial Benachteiligter, seien es Langzeitarbeitslose, Obdachlose oder prekär Beschäftigte, sieht anders aus. Sicher gibt es einige in der Partei, welche die soziale Frage stärker in den Mittelpunkt rücken möchten, ob sich diese jedoch durchsetzen können ist ungewiss. Ich bin da aus mehreren Gründen skeptisch. Zum einen zeigt ein Blick in andere europäische Länder, dass es Parteien, die – wie die AfD – rassistisch-biologistische Vorstellungen und sozialdarwinistischen Wohlstandschauvinismus verbinden, durchaus gelingt, breite Teile der Bevölkerung für sich zu gewinnen. Das beste Beispiel hierfür ist wohl die FPÖ in Österreich. Zum anderen darf man nicht unterschätzen, wie weit verbreitet und tief verankert marktextremistisches Denken inzwischen in der Gesellschaft und auch in weiten Teilen der Arbeiterklasse ist. Das Leistungsprinzip, die Einteilung und Bewertung von Menschen rein nach Nützlichkeitserwägungen, die Unterordnung aller Lebensbereiche unter die Prinzipien des totalen Marktes findet in Deutschland viel Zuspruch – auch bei Menschen, die von einer weiteren neoliberalen Umgestaltung der Gesellschaft besonders betroffen sind. Ich glaube deshalb, dass eine Partei, die die rassistische Abwertung von Menschen mit neoliberalen Leistungs- und Nützlichkeitserwägungen verbindet, wie dies die AfD im Moment tut, in Deutschland durchaus großen Zuspruch finden könnte.
Eigentlich sollte das neoliberale Leistungsprinzip doch blind sein für Hautfarben, Geschlechter, sexuelle Neigungen, Religionen usw. Neoliberale beanspruchen doch gerade, dass einzig „Leistung“ zähle. Wie lassen sich ausgrenzende rechte Positionen damit vereinbaren?
Stefan Dietl: Das müsste man eigentlich meinen und es gibt ja auch neoliberale Denker, auf die dies zutrifft. Neoliberale Ideen und völkisch-nationalistisches Denken lassen sich in der Praxis jedoch sehr wohl gut miteinander verbinden – und dies nicht nur in der AfD. Vereinfacht gesagt geht es ja auch darum, wem man eine höhere Leistungsfähigkeit zuschreibt und nach welchen Kriterien man dies tut. Auch ein Thilo Sarrazin, noch immer SPD-Mitglied, tut dies zum Beispiel anhand rassistisch-biologistischer Kategorien. Die Einteilung von Menschen nach Nützlichkeits- und Leistungskriterien erfolgt hier entsprechend der Zuordnung von Herkunft oder biologischen Markern. Ein Denken, das auch bei vielen marktfundamentalistischen Hardlinern in der AfD anzutreffen ist. Zudem darf man die Gemeinsamkeiten neoliberaler Leistungsideologie und völkisch-rassistischen Denkens nicht unterschätzen. Beide Ideologien beruhen auf einem ausgeprägten Elitedenken und einer Gesellschaftsvorstellung, in der für das scheinbar „Minderwertige“ kein Platz ist. Basis beider ist die Konkurrenz und das Prinzip der Stärkeren, mit dem die Verachtung für die Schwächeren einhergeht.
Sie gehen also davon aus, dass insbesondere der rechtskonservative Flügel der AfD rund um Höcke und Gauland in einem gewissen Umfang für sozialere Forderungen in der AfD-Programmatik eintritt, während der nationalliberale Flügel um Meuthen und Weidel an einer stärker neoliberalen Politik festhalten will. Sind das rein wahlstrategische Überlegungen der Rechtskonservativen?
Stefan Dietl: Ich denke, man muss das differenziert beurteilen. Ein Alexander Gauland, als herausragender Vertreter des rechtskonservativen Flügels der AfD, ist ein Politprofi mit jahrzehntelanger Erfahrung. Ich würde nicht ausschließen, dass bei ihm und seinem Umfeld – in dem sich viele ebenso erfahrene ehemalige Unionspolitiker befinden – wahltaktische Erwägungen eine wesentliche Rolle spielen. Anders sieht es meiner Einschätzung nach bei Personen wie Björn Höcke oder André Poggenburg aus, die als die wichtigsten Repräsentanten des völkisch-nationalistischen Flügels in der AfD stark von den Ideen der "Neuen Rechten" geprägt sind. Ich glaube, Björn Höcke meint es mit seinen Vorstellungen zur Schaffung einer Volksgemeinschaft und mit seinen protektionistischen Forderungen durchaus ernst. Es wäre ein Fehler, die teils antikapitalistische Rhetorik von Höcke und anderen als reines Wahkampfmanöver abzutun. Der Hass auf die Moderne und die bürgerliche Emanzipation, die sich hier in rückwärtsgewandten antikapitalistischen Sehnsüchten und in einer regressiven Erklärung der bestehenden Verhältnisse Bahn bricht, darf man nicht unterschätzen. Auch wenn sich diese Strömung eines „völkischen Antikapitalismus“ innerhalb der AfD meiner Einschätzung nach bisher nicht durchsetzen konnte.
Sie plädieren für eine – vereinfacht gesagt – „linkere“ Politik der Gewerkschaften, um der AfD zu begegnen. Weshalb soll das helfen?
Stefan Dietl: Der AfD gelingt es derzeit erfolgreich, sich als Anti-Establishment Partei zu profilieren – als die politische Kraft, die sich am deutlichsten gegenüber der bisher herrschenden Politik abgrenzt. Betrachtet man die reale Programmatik, ist das natürlich Unsinn. Die AfD steht für eine Fortsetzung und Verschärfung neoliberaler Deregulierung, für Sozialabbau und Umverteilung von unten nach oben. Der Selbstinszenierung als Systemoppositionspartei tut das jedoch keinen Abbruch. Besonders erfolgreich ist die AfD mit dieser Inszenierung bei denjenigen, die Angst haben, selbst Opfer der in den vergangenen Jahrzehnten erfolgten Umbaumaßnahmen des Arbeitsmarktes und der sozialen Sicherungssysteme zu werden. Es sind gerade gut ausgebildete Facharbeiter und Angestellte, die bei der AfD ihr Kreuzchen machen. Es sind diejenigen, die Angst haben, selbst von Arbeitslosigkeit und dem Abrutschen in Hartz IV oder Leiharbeit betroffen zu sein. Diese zunehmende soziale Unsicherheit soll jetzt übrigens nicht als eine Entschuldigung dafür herhalten, rassistische Parteien wie die AfD zu wählen. Solchen Ängsten bzw. der zunehmenden sozialen Unsicherheit kann man ja auf zweierlei Wegen begegnen. Entweder ich schließe mich mit anderen zusammen, zum Beispiel gewerkschaftlich, um meine soziale Situation zu verbessern, oder ich wende mich autoritären Lösungsmodellen zu und lege die Lösung des Problems in die Hände einer höheren Instanz, die sich darum kümmern soll. Durch die jahrzehntelange gewerkschaftliche Ausrichtung an Staatskorporatismus und Sozialpartnerschaft und durch die zeitweise Mitwirkung der Gewerkschaften an der Politik des Sozialabbaus, die ich im Buch recht ausführlich beschreibe, werden die Gewerkschaften jedoch oftmals nicht mehr als Kraft zur Verbesserung der sozialen Situation der Arbeitenden wahrgenommen, sondern vielmehr als Teil des Establishments. Ich plädiere deshalb für eine kämpferische gewerkschaftliche Ausrichtung, die deutlich macht, dass die einzige Alternative zur herrschenden Politik von Sozialabbau und Deregulierung eben nicht autoritäre Lösungsmodelle im Stile der AfD sind, sondern nur der gemeinsame und organisierte Kampf der Betroffenen unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht oder Aufenthaltsstatus. Und ich plädiere für eine Abkehr von gewerkschaftlichen Grundprämissen, die Anknüpfungspunkte für rechte Parteien bieten, wie beispielsweise den auch in den Gewerkschaften weit verbreiteten Standortnationalismus. Aber klar – ein Allheilmittel ist das nicht. Eine Veränderung der gewerkschaftlichen Politik alleine wird die AfD nicht stoppen; und eine Politik, die sich ausschließlich an den ökonomischen Ursachen für den Erfolg der AfD abarbeitet, würde diesem Phänomen nicht gerecht werden. Hauptantriebsfeder für die Unterstützung der AfD ist der tief verankerte Rassismus in weiten Teilen der Bevölkerung, der sich bis in den irrationalen Wahn steigert.
Worin genau besteht die Problematik des Standortnationalismus mit Blick auf die AfD, was genau sind die Anknüpfungspunkte, von denen Sie sprechen?
Stefan Dietl: Der Anknüpfungspunkt an die AfD besteht darin, dass der marktradikale Neoliberalismus, wie er nicht nur von der AfD vertreten wird, auf einem ins Extreme gesteigerten Standortnationalismus basiert. Dann geht es um die Durchsetzung Deutschlands in der Staatenkonkurrenz. Die AfD vertritt dies besonders vehement und stellt es in den Mittelpunkt ihrer Wirtschaftspolitik. Der marktradikale Wettbewerbsstaat ordnet sämtliche Politikfelder dem Zwang der Konkurrenz unter. Gemäß dieser Logik ist die Identifikation mit der Nation hilfreich, wenn nicht gar erforderlich für den Erfolg in der Staatenkonkurrenz. Von den marktfundamentalistischen Nationalisten der AfD werden diese Verhältnisse auch noch positiv umgewertet. Die Konkurrenz wird zur Grundlage der menschlichen Existenz erklärt. Gemäß dieser Logik ist die Identifikation mit der Nation erforderlich für den Erfolg in der Staatenkonkurrenz. Die Menschen haben sich dem Wohle der Nation unterzuordnen und ihre Interessen hintanzustellen. Statt eines Ringens zwischen verschiedenen Interessen, vor allem dem zwischen Kapital und Arbeit, gilt die Devise: „Wir sitzen doch alle im selben Boot“. – Die gewerkschaftliche, sozialdemokratische und linkskatholische Fixierung auf sozialpartnerschaftliche Modelle leistete einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Verschleierung des grundlegenden Klassengegensatzes zwischen Kapital und Arbeit. Und sie trug mit dazu bei, dass sich Arbeitnehmer sowohl mit ihrem Betrieb als auch mit dem Wirtschaftsstandort Deutschland identifizieren. Auch in den Gewerkschaften und bei ihren Mitgliedern ist leider der Glaube verbreitet, dass nur durch das Gewinnen von Wettbewerbsvorteilen gegenüber den Beschäftigten in anderen Ländern der eigene Arbeitsplatz gesichert werden kann. Gewerkschaften werden so häufig zum Mitgestalter der „Wettbewerbsfähigkeit“ im Interesse der „Standortsicherung“. Dieses Denken, das den eigenen Erfolg an den des Standortes knüpft, macht es unmöglich, die Arbeitenden in anderen Ländern, die unter derselben strukturellen Ausbeutung zu leiden haben wie man selbst, als Bündnispartner wahrzunehmen, sich mit ihnen zusammenzuschließen oder gar gemeinsam mit ihnen in Kämpfe gegen diese Ausbeutung zu treten. Stattdessen werden die Kollegen in anderen Ländern als Konkurrenz wahrgenommen. Für internationale Klassensolidarität bleibt da oftmals nur Platz, wenn es ganz unmittelbar und greifbar dem eigenen Vorteil dient.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.