Märchen aus der Deutschen Bank (1): Wachstum durch Umverteilung von unten nach oben
15. Mai 2012 | Patrick Schreiner
Die Debatten um die Bekämpfung der Eurokrise drehen sich in jüngster Zeit vermehrt um das Wachstum. In der Frage allerdings, wie Wachstum zu erzielen sei, gibt es zwei gegensätzliche Grundkonzeptionen. Hinter ihnen steht im Kern der Gegensatz von Angebotspolitik und Nachfragepolitik. Erstere will "Strukturreformen" und "Sparmaßnahmen", letztere eine Stärkung der Nachfrage etwa durch Investitionsprogramme oder auch höhere Löhne und Staatsausgaben. Deutsche Bank Research hat sich in jüngster Zeit mit zwei Veröffentlichungen wenig überraschend auf die Seite der Angebotspolitik gestellt. Anliegen der Texte ist es, in der Eurokrise Wege zu mehr Wachstum aufzuweisen. Die hierfür vorgeschlagenen Instrumente aber sind genau jene, die schon in der Vergangenheit zu Krise und Verelendung geführt haben. Ich analysiere hier den ersten der beiden Texte. Sein Schwerpunkt liegt im Bereich der Steuerpolitik.
Die Veröffentlichung von Deutsche Bank Research (DBR) mit dem Titel "Die Rolle von Steuersystemen für Wachstum. Europa im Überblick" erschien am 27. April in der Reihe "EU-Monitor". Geschrieben wurde sie von Caroline Heinrichs und Frank Zipfel.
Neu und innovativ ist Heinrichs/Zipfels Text nicht, er wiederholt vielmehr klassische angebotspolitische Argumentationen: Man müsse, so wird gefordert, die Steuern auf Arbeit und Kapital senken und im Gegenzug die Steuern auf Konsum erhöhen. Eine solche Politik sei der richtige Weg, um trotz drastischer Haushaltskürzungen in allen europäischen Staaten Wachstum zu stimulieren. Begründet wird dies damit, dass die Besteuerung von Arbeit und Kapital "negative Auswirkungen auf den Einsatz der Wachstumsfaktoren Arbeit, Kapital und technologischer Forschritt" habe. Eine Besteuerung des Konsums hingegen wirke sich "weniger negativ" aus.
Zur Besteuerung von Arbeit führen Heinrichs/Zipfel Folgendes genauer aus, ich zitiere und kommentiere:
Erstens wird [durch die Besteuerung von Arbeit, P.S.] die Entscheidung über die Teilnahme am Arbeitsmarkt, d.h. die Zahl der Arbeitsstunden sowie die Menge des eingestellten Personals, verzerrt.
Diese Behauptung entbehrt jeder realen Grundlage. Hinter ihr steckt die theoretische Annahme, dass sich Arbeit bei höherer Besteuerung für den/die ArbeitnehmerIn und/oder für den/die ArbeitgeberIn nicht mehr lohne und daher nicht mehr angeboten bzw. nachgefragt werde. Der Nettolohn bzw. der Nettogewinn durch Arbeit gilt hier als entscheidendes Kriterium. Allerdings funktioniert ein Arbeitsmarkt nicht so, wie sich Heinrichs/Zipfel das vorstellen. Menschen müssen sich ernähren und kleiden, sie brauchen Wohnraum und Mobilität. Wenn ihr Verdienst etwa durch sinkende Löhne oder durch höhere Besteuerung sinkt, so reduzieren sie folglich ihre angebotene Arbeit nicht, sondern sie steigern sie – um den Netto-Lohnverlust auszugleichen. (Davon abgesehen ist es angesichts der extrem hohen Arbeitslosigkeit in vielen Ländern ziemlich abstrus und zynisch, zu befürchten, es könne zu wenige Menschen geben, die ihre Arbeitskraft anbieten...)
Unternehmen auf der anderen Seite werden die von ihnen benötigten ArbeitnehmerInnen immer dann einstellen, wenn es profitable Projekte und Investitionen zu tätigen gilt. Sie tun dies einigermaßen unabhängig von den Steuern, die sie auf Arbeitsleistungen zu entrichten haben. Die Besteuerung von Arbeit ist nämlich lediglich ein sekundärer Faktor zur Bestimmung des Unternehmensgewinns, der primäre ist der Umsatz. Und der wiederum hängt von der gesamtvolkswirtschaftlichen Nachfrage ab. Gerade wenn aber eine Wirtschaft in der Rezession oder gar in einer Depression steckt, wie es derzeit in einer ganzen Reihe europäischer Staaten der Fall ist, dann mögen die Steuern auf Arbeit noch so niedrig sein – mangels Aussicht auf Umsätze/Gewinne werden Unternehmen in einer solchen Situation keine Arbeitsplätze schaffen. Ein "Wachstumsimpuls" durch die Senkung von Steuern kann dann nicht eintreten.
Bei einer stark progressiven Einkommensbesteuerung kann zweitens der Effekt auftreten, dass sich weniger Marktteilnehmer zu einem höheren Ausbildungsniveau entscheiden.
Diese Behauptung ist fast noch abenteuerlicher als die erste, da sie sehr offensichtlich den realen Begebenheiten diametral widerspricht. Denn erstens hat die Masse der Menschen (einschließlich meiner Wenigkeit) von Steuern und Steuernprogression zum Zeitpunkt der Entscheidung über den eigenen Ausbildungsweg keine Ahnung. Berufswahl ist in hohem Maße von eigenen Neigungen und Wünschen abhängig – nicht davon, ob man zehn Jahre später 42 oder 55 Prozent Spitzensteuersatz bezahlen müsste. Und zweitens existiert – anders als Heinrichs/Zipfel suggerieren – ein systematischer Zusammenhang zwischen Netto-Verdienst und Ausbildungsniveau nicht. Weshalb studieren viele Menschen Sozialpädagogik, also einen Beruf, der in sehr vielen Fällen in Prekarität endet? Warum gibt es gemessen am Bedarf fast zuviele Menschen, die Anglistik, Sozialwissenschaften oder Kunstgeschichte studieren – obwohl man in diesen Fächern nur weit unterdurchschnittlich verdient? Angesichts dieser empirischen Tatsachen zu glauben, eine hohe Steuerbelastung im oberen Einkommensbereich senke die Nettolöhne dermaßen, dass Menschen vom Erwerb eines hohen Ausbildungsstandes absehen, ist ganz offensichtlich unsinnig.
Drittens führt diese Art der Besteuerung zu weniger Unternehmertätigkeit und in Folge dessen zu weniger Innovationen.
Obwohl nicht wirklich eindeutig formuliert, scheint dieses Argument lediglich das erste Argument oben zu wiederholen, hier allerdings eindeutiger auf Unternehmen bzw. ArbeitgeberInnen bezogen. Sollte dem so sein, kann ich daher nur auf meine Ausführungen von oben (unter "Erstens") verweisen.
Zur Besteuerung des Kapitals wiederum behaupten Heinrichs/Zipfel Folgendes:
Eine Besteuerung des Faktors Kapital beeinflusst [...] die Investitions- und Sparentscheidungen von Haushalten. Dies kann dazu führen, dass die Sparquote von ihrem optimalen Wert bezüglich des Wachstums abweicht und die Verteilung auf die unterschiedlichen Anlagemöglichkeiten verzerrt wird.
Hier wird das mit der Finanzkrise ganz offensichtlich gescheiterte Argument hervorgekramt, dass ein möglichst geringes Eingreifen des Staates in Spar- und Investitionsentscheidungen anzustreben sei, da Kapital dann am effizientesten eingesetzt werde. Dass dem nicht so ist, hat die erste Phase der Finanzkrise mehr als deutlich gezeigt. Der Zusammenbruch der Finanzmärkte war – vereinfacht gesagt – darauf zurückzuführen, dass völlig falsch investiert wurde – orientiert nicht am volkswirtschaftlichen Nutzen oder am gegebenen Risiko, sondern orientiert an einer möglichst hohen Rendite. Dem voraus ging genau das, was Neoliberale jahrzehntelang forderten, nämlich ein Abbau der Regulierung von Spar- und Investitionsentscheidungen. Das war nicht effizient, sondern hat horrende Schäden angerichtet.
Aber auch über diesen Hinweis hinaus gibt es gute Gründe, Zweifel daran zu haben, dass es so etwas wie einen "optimalen Wert bezüglich des Wachstums" oder eine optimale "Verteilung auf die unterschiedlichen Anlagemöglichkeiten" überhaupt gibt. So hat die deutliche Senkung der Steuern auf Kapital- und Gewinneinkünfte in Deutschland in den letzten Jahren eben gerade nicht dazu geführt, dass Investitionen und Wachstum angestiegen wären.
Anstatt dem Märchen von der Sinnhaftigkeit möglichst kapitalfreundlicher Steuersysteme anzuhängen, wäre es sinnvoller, nachfragetheoretisch zu denken. Aus dieser Perspektive kann es durchaus gute Gründe geben, Kapital zu besteuern und die damit erzielten Staatseinnahmen für eine Stärkung der gesamtgesellschaftlichen Nachfrage zu nutzen – durch mehr Realinvestitionen oder konsumtive Ausgaben des Staates, durch eine Erhöhung der Sozialleistungen oder durch eine Erhöhung der Löhne im Öffentlichen Dienst. Hier verweise ich ergänzend auf meine nachfragetheoretischen Ausführungen weiter unten.
Zum anderen werden auch Entscheidungen von Unternehmen beeinflusst. [...] Dies kann zu einem deutlichen Kapitalabfluss aus dem entsprechenden Land führen.
Hier wird die von Neoliberalen immer wieder gefeierte Steuerkonkurrenz als Grund genommen, um eine niedrigere Besteuerung zu fordern. Schließlich würde das Kapital sonst dorthin fliehen, wo es steuerlich freundlicher behandelt wird. Womit wiederum deutlich wird, weshalb Neoliberale die Steuerkonkurrenz begrüßen. Das Gegenteil wäre aber angemessen: Der Steuerkonkurrenz einen Riegel vorzuschieben, etwa durch Mindeststeuersätze, einheitliche Bemessungsgrundlagen und die Wiedereinführung von Kapitalverkehrskontrollen.
Hinter dem gesamten Text, den Deutsche Bank Research hier vorgelegt hat, steckt die angebotspolitische Idee, man müsse die Bedingungen für Unternehmen nur optimal genug gestalten, dann würden diese Investitionen tätigen und damit Wachstum sowie Beschäftigung schaffen. Und niedrige Steuern auf Arbeit und Kapital, da ist Heinrichs/Zipfel ausnahmsweise zuzustimmen, sind eben aus betriebswirtschaftlicher Sicht günstig für Unternehmen. Allerdings sind niedrige Steuern auf Arbeit und Kapital damit noch lange nicht günstig für die Volkswirtschaft als Ganze. Unternehmen nämlich tätigen Investitionen nicht, weil etwaige Gewinne gering besteuert werden. Und Unternehmen schaffen Arbeitsplätze nicht, nur weil die damit einhergehenden Steuern gering ausfallen. Das einzige, was Unternehmen interessiert, ist, dass sie überhaupt Gewinne machen. Und diese Gewinne hängen letztlich – direkt oder indirekt – in erster Linie von der gesamtgesellschaftlichen Nachfrage ab. Nur wenn die Menschen, der Staat oder andere Unternehmen viel Geld ausgeben, können Unternehmen auch viel Geld einnehmen.
Wirtschaftspolitisches Ziel muss also sein, die gesamtgesellschaftliche Nachfrage durch Privathaushalte, durch Unternehmen und durch den Staat zu erhöhen. Gerade in der aktuellen Krise sind dies die notwendigen und angemessenen Wachstumsimpulse – weil es die einzig realistischen und wirksamen sind. Eine Stärkung der Nachfrage aber erfordert steuerpolitisch eine Umverteilung von oben nach unten. Tatsächlich spricht vor diesem Hintergrund einiges dafür, Arbeit und insbesondere Kapital hoch zu besteuern und diese Besteuerung progressiv zu gestalten. Auf diese Weise lässt sich Geld, das ansonsten nicht nachfragewirksam würde, nachfragewirksam einsetzen. Dieses Geld würde nicht in Investmentfonds oder Immobilien landen, sondern durch den Staat oder durch andere – ärmere – Menschen ausgegeben. Es würde Investitionen, Wachstum und Beschäftigung stimulieren.
Darüber hinaus und sehr viel grundlegender ist in diesem Zusammenhang zudem darauf zu verweisen, dass Gesellschaften mit geringerer sozialer Ungleichheit im Regelfall auch wirtschaftlich erfolgreicher sind. Ein Abbau sozialer Ungleichheit durch eine stärkere Besteuerung hoher Einkommen und hoher Vermögen kann damit nicht nur kurzfristig, sondern auch langfristig einen wichtigen Beitrag für Investitionen, Wachstum und Beschäftigung leisten – wie auch für mehr soziale Gerechtigkeit. Und für einen Abbau der Staatsverschuldung in Europa sowieso.
Was Heinrichs/Zipfel hingegen wollen, ist so ziemlich das Gegenteil dessen – nämlich eine Umverteilung von unten nach oben. Die von ihnen propagierten Steuermaßnahmen würden zu einer noch ungleicheren Verteilung von Einkommen und Vermögen führen. Menschen mit hohen Einkommen oder großen Vermögen geben nämlich nur einen unterdurchschnittlichen Anteil ihres Geldes für Konsum aus. Eine Erhöhung der Konsumsteuern trifft sie daher nur in geringem Umfang, während sie aber auf der anderen Seite von einer Senkung der Steuern auf Arbeit und Kapital massiv profitieren würden. Umgekehrt würden Heinrichs/Zipfels Vorschläge gerade Menschen mit geringen Einkommen überproportional treffen – durch höhere Steuern auf Konsum, für den sie einen überproportionalen Anteil ihres Einkommens ausgeben, und durch die Verschlechterung staatlicher Leistungen. Solche Vorschläge sind daher nicht nur volkswirtschaftlich schädlich, sondern auch sozial ungerecht.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.