Jenseits der Finanzmarktregulierung. Die Krise und die Grenze zwischen Vernunft und Unvernunft
4. Juli 2012 | Patrick Schreiner
Der folgende Text versucht, die aktuellen Diskussionen rund um die Ursachen und möglichen Auswege aus der Finanzkrise zu ordnen. Er zeigt: Im Wesentlichen lassen sich drei Richtungen des politischen "Krise-Denkens" unterscheiden, von denen zwei am neoliberalen Kapitalismus-Modell festhalten. Notwendig wäre es aber, dieses Modell grundsätzlich zu hinterfragen - und durch ein anderes Modell zu ersetzen, das wirtschaftspolitisch auf lohnbasierte Nachfrage und gesellschaftspolitisch auf Solidarität setzt.
Thomas Palley, Senior Economic Adviser des US-amerikanischen Gewerkschaftsdachverbandes AFL-CIO, hat jüngst im Online-Magazin des DGB "Gegenblende" einen gelungenen Text zur Finanzkrise veröffentlicht. Er unterscheidet darin zwischen drei verschiedenen Sichtweisen auf die Krise:
1. Eine radikal-neoliberale "Staatsversagens“-Argumentation behaupte, so Palley, dass nicht zu wenige, sondern zu viele staatliche Interventionen zur Krise geführt hätten. Die Krise kann aus dieser Perspektive nur durch mehr Markt und weniger Staat bewältigt werden.
2. Eine gemäßigt-neoliberale "Marktversagens“-Argumentation behaupte, dass die Krise in erster Linie eine Folge nicht ausreichender Regulierung der Finanzmärkte sei. Die Lösung besteht aus dieser Perspektive vorrangig in einer Regulierung der Finanzmärkte.
3. Eine dritte Argumentation schließlich führe, so Palley, die Krise sehr viel grundsätzlicher auf das neoliberale Modell von Wirtschaft und Gesellschaft zurück, das sich ab etwa 1980 durchgesetzt habe. Dessen Hauptbestandteile seien
- das Anheizen der internationalen Konkurrenz zwischen den Beschäftigten verschiedener Länder (etwa durch Freihandelsabkommen und Kapitalmobilität),
- die Schwächung der Beschäftigten sowie ihrer Gewerkschaften (beispielsweise durch Absenkung von Sozialleistungen, dauerhafte Massenarbeitslosigkeit und die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes),
- sowie als Konsequenz dessen das politisch erwünschte und bewusst herbeigeführte Zurückbleiben der Lohnentwicklung hinter der Entwicklung der Produktivität.
Mit diesem Modell kehrte sich Wirtschaftspolitik radikal um. Löhne, Produktivität, Investitionen und Produktion hatten sich, so Palley, vor 1980 wechselseitig vorangetrieben und für allgemeinen Wohlstand gesorgt. Hohe Löhne ermöglichten Gewinne, umfangreiche Investitionen und Wachstum. Nach 1980 aber entfielen die Löhne als Triebfeder volkswirtschaftlicher Nachfrage. Die hierdurch entstandene "Lücke" sollte der Finanzsektor ausgleichen. Palley:
In den Vereinigten Staaten ermöglichten es Deregulierungen, Finanzinnovationen und die Spekulation dem Finanzsektor diese Nachfragelücke durch Konsumentenkredite und die anheizende Vermögenspreisinflation zu füllen. Die US-amerikanischen Konsumenten wiederum füllten die globale Nachfragelücke.
Tatsächlich untermauern empirische Daten diese Analyse. Die im Vergleich zur Realwirtschaft weit überproportionale Zunahme bei den global angelegten Vermögenswerten, die geradezu explodierte soziale Ungleichheit, das allgemeine Einbrechen der Lohnquoten sowie die keineswegs nur in den USA enorm angestiegene private Verschuldung können hier als Beispiele dienen.
Folgt man dieser Analyse, so war die Entfesselung der Finanzmärkte nicht die Hauptursache der Krise, sondern lediglich logischer Bestandteil des neoliberalen Modells. Eine Regulierung der Finanzmärkte alleine ist folglich nicht ausreichend, um die Krise nachhaltig zu beenden; notwendig ist vielmehr eine völlige Abkehr vom Neoliberalismus. Die Frage, wie zukünftig volkswirtschaftliche Nachfrage generiert werden kann, stellt sich damit umso dringlicher. Schließlich wird es auf absehbare Zeit – und hoffentlich auf Dauer – keine riesigen Spiralen aus privater Verschuldung und Aktien- bzw. Immobilienblasen mehr geben, die künstliche Nachfrage schaffen könnten, bis sie irgendwann zusammenbrechen.
Die Frage, wie zukünftig Nachfrage generiert werden kann, sollte vor diesem Hintergrund vorrangiges Kriterium bei der Beurteilung politischer Reaktionen auf die Krise sein. So richtig und wichtig die Regulierung der Finanzmärkte ist – eine strengere Bankenaufsicht, eine Finanztransaktionssteuer und höhere Eigenkapitalanforderungen werden das Nachfrageproblem nicht lösen. Wer bei solchen Ansätzen stehenbleibt, verharrt vielmehr im neoliberalen Modell. Palleys Bezeichnungen sind zutreffend: Die Grenze zwischen vernünftiger und unvernünftiger Politik verläuft nicht zwischen "gemäßigt-neoliberal" und "Hardcore-neoliberal", sondern jenseits von beiden.
Eine Abkehr vom neoliberalen Modell verlangt eine Politik, die die Löhne wieder zu den entscheidenden Triebkräften volkswirtschaftlicher Nachfrage macht. Dazu gehört, den "aktivierenden" Sozialstaat vollständig durch einen solidarischen zu ersetzen, den Arbeitsmarkt wieder zu regulieren, die Rechte von Beschäftigten und Gewerkschaften zu stärken, soziale Ungleichheit radikal abzubauen, Kapital strikt zu kontrollieren und mindestens europaweite soziale Mindeststandards auf hohem Niveau festzulegen. Als kurzfristig anzusetzende Maßnahmen gehören dazu ferner echte Wachstumsimpulse durch deutliche Lohnsteigerungen, umfangreiche Investitionsprogramme (mit einem Schwerpunkt auf Zukunftstechnologien) und eine konjunkturgerechte Ausgabenpolitik des Staates.
Anderes hingegen gehört gewiss nicht zu einer Abkehr vom Neoliberalismus: Schuldenbremsen und Fiskalpakte, Kürzungen der öffentlichen Haushalte, "Strukturreformen" in Südeuropa und "Bekämpfung" der Jugendarbeitslosigkeit durch mehr Mobilität stehen vielmehr in erschreckender Kontinuität zu diesem.
Dieser Text ist zuerst in einer Publikation der Jusos Hannover für den dortigen SPD-Bezirksparteitag erschienen.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.