Märchen aus der Deutschen Bank (3): Staatsschulden verhindern private Investitionen
21. Juni 2012 | Patrick Schreiner
Ursprünglich wollte ich vor einigen Wochen nur einen einzigen Artikel über die seltsamen neoliberal-angebotstheoretischen Veröffentlichungen schreiben, die Deutsche Bank Research immer wieder produziert. Aus Platzgründen wurden zwei daraus ("Märchen aus der Deutschen Bank", Teil 1 und Teil 2). Doch nun ist erneut ein Text aus jenem Haus erschienen, der zum Widerspruch reizt. Darin wird unter anderem das so genannte "Crowding-Out"-Argument für die südeuropäischen Krisenstaaten breitgetreten: Das Argument also, dass die Aufnahme von Krediten durch die öffentlichen Haushalte zum Wegfallen von Kreditaufnahmemöglichkeiten für Unternehmen und Privathaushalte führe. Der Staat "verdränge" also die Privaten, verhindere dadurch Investitionen sowie Konsum und bremse hierdurch wiederum die wirtschaftliche Entwicklung. Richtig ist das Argument zwar nicht. Gleichwohl ist diese Veröffentlichung intellektuell und empirisch deutlich anspruchsvoller als das, was DB Research üblicherweise von sich gibt. Ein guter Grund, Nr. 3 der "Märchen aus der Deutschen Bank" zu verfassen.
Der Text, auf den ich mich im Folgenden beziehe, ist am 4. Mai 2012 unter dem Titel "Der richtige politische Mix für den Euroraum" in der Reihe "Research Briefing Konjunktur" erschienen. Seine Verfasser sind Gilles Moec und Peter Sidorov.
Politökonomischer Hintergrund des Textes ist die nicht mehr zu leugnende Tatsache, dass die aktuelle Austeritätspolitik (Kürzungspolitik) zu einem drastischen Einbruch der Wirtschaft in vielen europäischen Ländern geführt hat und in Zukunft noch schärfer zu führen droht. Es gibt derzeit von Konservativen und Neoliberalen eine ganze Reihe von Versuchen, trotz dieser offensichtlichen negativen Folgen die vermeintliche Sinnhaftigkeit von Kürzungen zu belegen. Genau dies ist auch das Ziel der Veröffentlichung von Moec/Sidorov.
Ihr Text greift – rund um die Eurokrise – sehr viele Themen auf, die in Teilen unverbunden bleiben. Dadurch handelt es sich weniger um eine umfassende Darlegung eines Themas als vielmehr um mehrere kürzere Argumentationen, die zusammengefügt werden. Meine folgenden Ausführungen beziehen sich lediglich auf zwei Teilaspekte ihrer Ausführungen, gleichwohl allerdings auf sehr zentrale. Beide sollen, wenig überraschend, Moecs/Sidorovs strikte Befürwortung der Kürzungspolitik begründen.
Konjunktureinbruch versus Trendwachstum?
In einem ersten Schritt spielen sie den zu erwartenden Wachstumseinbruch durch die aktuellen Kürzungsmaßnahmen in Italien, Spanien und dem Euroraum herunter, indem sie zwischen der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts und der Trendrate des BIP unterscheiden:
Unseres Erachtens wäre es falsch, wenn die Sparpolitik ausdrücklich gelockert würde, um negative Auswirkungen auf das Wachstum zu vermeiden. Möglicherweise werden das "aktuelle BIP-Wachstum" und die "Trendrate des BIP-Wachstums" am Markt miteinander verwechselt. Dass wir für 2012 und 2013 schwache BIP-Wachstumsraten erwarten, ist auf die Auswirkungen der fiskalischen Einsparungen zurückzuführen, nicht jedoch auf einen ernsthaften Rückgang der Trendrate des BIP-Wachstums. Letztere hängt vom Tempo des Produktivitätszuwachses und der Entwicklung der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter ab. Die Veränderung des zyklisch bereinigten Haushaltsdefizits wirkt sich auf das BIP-Wachstum aus. Sobald das angestrebte Niveau erreicht ist, nähert sich das "aktuelle BIP-Wachstum" der Potenzialrate an [...]
Dazu zwei Anmerkungen:
- Moec/Sidorov unterliegen hier einem methodologischen Denkfehler. Das "Trendwachstum" bzw. die "Potenzialrate" ist eine wissenschaftliche Konstruktion. Gemeint ist mit dem "Trendwachstum" die Vorstellung, es gebe eine stete potentielle Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP), um die herum das tatsächliche Bruttoinlandsprodukt schwankt. Es mag Situationen geben, in denen eine solche Konstruktion (ein solches Modell) sinnvoll ist. Genau wie Adam Smiths berühmte Vorstellung einer "unsichtbaren Hand" mag uns das "Trendwachstum" in bestimmten Situationen bestimmte Sachverhalte zu verstehen helfen. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass es in der Realität tatsächlich existiert. Und es bedeutet schon gar nicht, dass wir aus ihm beliebig Schlussfolgerungen ziehen können.
- Unterstellen wir, es gebe tatsächlich so etwas wie ein objektives und messbares Trendwachstum. Dann unterliegen Moec/Sidorov einem empirischen Denkfehler. Sie unterstellen schlicht, dass die aktuelle Kürzungspolitik auf das Trendwachstum des BIP keinen Einfluss hat. Das ist reichlich unrealistisch. Ein Beispiel: Moec/Sidorov nennen das "Tempo des Produktivitätszuwachses" als einen Bestimmungsfaktor des BIP-Trendwachstums. Weniger Investitionen in neue Anlagen, in Forschung und in Technologien aber führen zu einem geringeren Produktivitätszuwachs – und die aktuelle Kürzungspolitik führt derzeit ganz offensichtlich zu einer Rezession, einem drastischen Einbruch der Konjunktur und damit zum Einbruch solcher Investitionen. Die Kürzungspolitik senkt also das BIP-Trendwachstum. So zu tun, man könne BIP-Trendwachstum und BIP-Konjunkturentwicklung logisch voneinander trennen, so dass Kürzungspolitik nur negativ auf letztere wirkt, nicht aber negativ auf erstere, ist reichlich unrealistisch.
Zu dieser unrealistischen Annahme passt, dass Moec/Sidorov nur sehr geringe Rückgänge des BIP in Spanien, Italien und dem Euroraum prognostizieren. Sie wären allerdings nicht die ersten, deren Prognosen in solchen Fällen völlig danebenliegen. Sie wären nicht die ersten, die die negativen Auswirkungen von Kürzungspolitik drastisch unterschätzen. Ich habe kürzlich aufgezeigt, wie sehr der Internationale Währungsfonds und die Europäische Kommission in ihrem Anpassungsprogramm für Griechenland danebengelegen haben – und damit die dortige Misere drastisch verschärften.
Verdrängung durch staatliche Kredite?
Mit dem bis hierhin beschriebenen und kritisierten Argument wollen Moec/Sidorov belegen, dass Kürzungspolitik mittel- und langfristig keine negativen Auswirkungen auf das Wachstum einer Volkswirtschaft habe. Sie gehen unmittelbar im Anschluss daran allerdings noch einen Schritt weiter: Sie wollen belegen, dass sich Kürzungspolitik sogar positiv auswirkt. Dies tun sie, indem sie auf die so genannte "Crowding-Out"-Hypothese zurückgreifen. Diese besagt, in aller Kürze, dass für Private (Unternehmen, Privathaushalte) weniger Kredite zur Verfügung stehen, wenn der Staat mehr Kredite aufnimmt. Dahinter steckt die Annahme, dass immer nur soviel Geld von Unternehmen oder Haushalten als Kredit aufgenommen werden könne, wie gleichzeitig gespart werde. Denn, vereinfacht gesagt, nähmen die Banken ja die Ersparnisse einer Volkswirtschaft, um sie als Kredite weiterzuverleihen. Und wenn der Staat nun eben zuviel von diesen Krediten für sich in Anspruch nehme, bliebe für Unternehmen und Haushalte zu wenig übrig – diese könnten nicht mehr investieren, nicht mehr konsumieren, was wiederum der Konjunktur schade.
Diese Hypothese war und ist recht häufig zu hören, nicht zuletzt auch in Deutschland im Kontext der Debatte um die Schuldenbremse. Richtiger macht dies das "Crowding-Out"-Argument allerdings nicht.
Moec/Sidorov glauben, in Spanien und Italien aktuell eine Situation zu erkennen, in der es zu einem solchen Crowding-Out gekommen sei. Als unmittelbaren Grund dafür beschreiben sie den Umstand, dass die Kreditaufnahmemöglichkeit im Ausland (also der Import ausländischen Kapitals) aufgrund der Krise weggebrochen sei:
In einem normalen Umfeld kann der gesamte Finanzierungsbedarf des privaten und des öffentlichen Sektors auch dann gedeckt werden, wenn die inländischen Banken ihre Ressourcen ausgeschöpft haben: Es wird einfach ausländisches Geld importiert. In Bezug auf die europäischen Peripherieländer gilt dies nicht mehr. Jeder Anstieg der Kreditaufnahme des öffentlichen Sektors geht mit einem weiteren Rückgang der Kredite an den privaten Sektor einher. Die "außenwirtschaftlichen Zwänge" sind für diese Länder zu einem quasi unüberwindlichen Hindernis geworden, und die inländischen Anleger müssen zunehmend allein das benötigte Kapital bereitstellen.
Und an späterer Stelle etwas verständlicher zusammengefasst:
Wenn das Haushaltsdefizit des Staates ansteigt, müssen die privaten Haushalte und/oder die Unternehmen den Gürtel enger schnallen, also weniger investieren (beide Sektoren), weniger konsumieren (private Haushalte) oder ihre Rentabilität erhöhen, z.B. indem sie die Löhne senken oder Stellen abbauen (Unternehmen).
An diesen Behauptungen gibt es mehrere Kritikpunkte allgemeiner Art:
- Erstens bedienen Zentralbanken Kreditnachfragen von Seiten der Geschäftsbanken heutzutage im Regelfall vollständig. Eine Mengensteuerung findet im Wesentlichen über den Zinssatz statt, den Zentralbanken dafür verlangen. Einen Mangel an Krediten gibt es in modernen Ökonomien also im Grundsatz zunächst nicht. Diskutiert man allerdings über die engere Frage der Kreditvergabe hinaus generell die Frage der Liquidität von Banken einschließlich des vorgehaltenen Eigenkapitals, und stellt man in diesem Zusammenhang Unzulänglichkeiten fest, so ist die Forderung nach einem stärkeren Engagement der Europäischen Zentralbank (EZB) sehr viel sinnvoller als die nach kontraproduktiven Haushaltskürzungen. Die EZB müsste dann sehr viel stärker in die Refinanzierung von Banken eingebunden werden - sei es direkt oder sei es indirekt über den Staat. Bei Moec/Sidorov unterbleibt diese Forderung, auch wenn sie entsprechende Überlegungen zumindest andeuten. (Einmal mehr wurde aktuell mit der Refinanzierung der spanischen Banken durch den Euro-Rettungschirm eine "kleine" Lösung gewählt, die funktionieren, sich aber auch rasch als zu kleine Lösung herausstellen kann.)
- Zweitens simplifizieren Moec/Sidorov den Kreditvergabeprozess in einer Volkswirtschaft. Grundsätzlich gibt es in einer modernen Kreditgeldökonomie nämlich auch deshalb keinen Mangel an Krediten, weil Banken die Geldmittel dafür selbst schöpfen können. (Geld wird also immer schon quasi unbegrenzt "gedruckt".) Wer es nicht glaubt, sehe sich eines der vielen guten Filmchen auf Youtube dazu an. Nun ist diese Geldschöpfung aus dem Nichts allerdings in den Krisenstaaten derzeit tatsächlich gehemmt (genau dies zeigen Moecs/Sidorovs Zahlen, mit denen sie ihre Crowding-Out-These belegen wollen.) Sie ist gehemmt, da die Banken in wirtschaftlichen Krisenzeiten äußerst zurückhaltend sind mit der Vergabe von Krediten an Unternehmen und Privathaushalte. Sie ist gehemmt, weil Sparerinnen und Sparer massenhaft Geld aus Spanien abziehen (siehe dazu auch unten). Und sie ist gehemmt, da die Banken selbst viele fragwürdige Kredite in ihren Büchern stehen haben. Ein allgemeines Misstrauen ist eingetreten. Grund für dieses Misstrauen ist aber letztlich die durch Kürzungen herbeigeführte Rezession - denn wer wollte noch Geld verleihen, wenn er/sie nicht weiß, ob er/sie das Geld angesichts der Krise wiedersehen würde? Die Zurückhaltung bei der Kreditvergabe ist also vor allem Folge, nicht Ursache der Rezession.
- Drittens versiegt auch die Kreditversorgung mit Geldern aus dem Ausland nicht einfach so, sondern sie versiegt, weil die Geldanlage zum Beispiel bei italienischen oder spanischen Banken wie auch bei den Staaten derzeit an den Finanzmärkten als übermäßig riskant eingeschätzt wird. Dies liegt aber mitnichten daran, dass etwa Spanien und Italien zu hoch verschuldet wären. Als der Kapitalfluss nach Spanien abbrach, lag die Schuldenstandsquote noch unterhalb der 60-Prozent-Grenze des EU-Stabilitäts- und Wachstumspakts. Noch heute ist die Schuldenstandsquote Spaniens im Vergleich zu anderen Staaten nicht sonderlich hoch. Das Risiko, Geld etwa in Italien oder Spanien anzulegen, hat vielmehr drei andere Gründe: (1) Zum Ersten die Tatsache, dass diese Staaten Pleite gehen können, da keine Zentralbank als Lender of last Resort einzuspringen bereit ist. "Lender of last Resort" würde bedeuten, dass die Zentralbank die Rückzahlung der an einen Staat geliehenen Gelder garantiert – schließlich kann sie Geld unbegrenzt zur Verfügung stellen. Staaten des Euroraums aber haben keine eigenen Zentralbanken mit eigenen Währungen mehr, und der EZB ist das Agieren als "Lender of last Resort" verboten. Die Konstruktion der EZB nach dem Vorbild der Deutschen Bundesbank erweist sich hier immer mehr als Fessel, die eine wirksame Krisenbekämpfung verhindert. (2) Zum Zweiten die Tatsache, dass die betroffenen Volkswirtschaften aufgrund der Austeritäts- und Kürzungspolitik in einer tiefen Rezession stecken. Selbst Rating-Agenturen benennen mittlerweile die Kürzungspolitik als Problem und als Begründung, wenn sie die Ratings der Wertpapiere bestimmter Institutionen (Staaten, Banken) nach unten anpassen. Auch hier gilt also: Die Zurückhaltung bei der Kreditvergabe ist vor allem Folge, nicht Ursache der Rezession. (3) Und zum Dritten schließlich der Umstand, dass Brüssel/Berlin/Paris mit dem Schuldenschnitt in Athen und der realen Drohung eines Austritts Griechenlands aus dem Währungsraum gezeigt haben, dass Geldanlagen in einem Euroland alles andere als sicher sind. Es ist aus Sicht der GeldanlegerInnen durchaus rational, Spanien (und in einem gewissen Umfang auch Italien) zu misstrauen.
- Vor allem für Spanien gilt darüber hinaus, dass der Schuldenschnitt in Athen und die reale Drohung eines Austritts Griechenlands aus dem Euro-Währungsraum zu massiven Abflüssen von Kapital aus dem Land geführt hat. Geld der Sparerinnen und Sparer wird massenhaft abgezogen und beispielsweise nach Deutschland transferiert. Dies hat die spanische Bankenkrise massiv verschärft und die Refinanzierung der Unternehmen erschwert - was wiederum die Wirtschaftskrise anheizt. Hier zu unterstellen, der Staat nehme Privaten die Kredite der Banken weg ist aberwitzig; die tatsächlichen Probleme sind gesamteuropäischer Natur und führen dazu, dass spanische Banken überhaupt keine Kredite mehr vergeben können.
- Fünftens braucht Kreditvergabe nicht nur jemanden, der Kredit gibt, sondern auch jemanden, der Kredit nimmt. In einer Rezession aber investieren und konsumieren Unternehmen und Haushalte weniger. Die geringere Kreditvergabe an den Privatsektor in den Krisenstaaten kann also durchaus auch an geringerer Nachfrage nach Krediten liegen – und wäre dann erneut auf die Rezession als Hauptursache zurückzuführen.
Wenn die unzureichende Kreditvergabe aber nicht Ursache, sondern Folge der Rezession ist, dann gilt es, diese Rezession so schnell wie möglich zu beenden. Und zwar, indem man deren Ursache angeht: Es gilt, die Kürzungs- und Austeritätspolitik zu beenden und eine echte Wachstumspolitik zu beginnen. Dazu gehören echte Wachstumsimpulse – durch deutliche Lohnsteigerungen, umfangreiche Investitionsprogramme und eine konjunkturgerechte Ausgabenpolitik des Staates.
Es sei abschließend auf eine gute, wenn auch inzwischen nicht mehr ganz tagesaktuelle Analyse der Situation in Spanien verwiesen, die Jens Berger auf den Nachdenkseiten veröffentlicht hat. Er geht dort auch auf das Bankensystem, die Kreditvergaben der Banken sowie die Europäische Zentralbank ein.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.