Kein "Wachstum auf Pump"? Wie Merkel & Co. entscheidende Fragen nicht stellen
1. Juni 2012 | Patrick Schreiner
In den vergangenen Wochen hat sich in Politik, Medien und Blogs eine Debatte um die Frage entwickelt, wie insbesondere die Krisenstaaten in Europa wieder zu Wachstum zurückfinden können. Hintergrund sind die offensichtlichen wirtschaftlichen Verheerungen, die die aktuelle Kürzungs- und Austeritätspolitik dort anrichtet. In Frankreich hat der neue Präsident François Hollande wiederholt mehr Wachstumsimpulse verlangt, in Deutschland die SPD, und sogar Angela Merkel selbst spricht seit einiger Zeit von notwendigen Wachstumsimpulsen als Ergänzung zur Kürzungspolitik. Im Kern ist man sich dabei allerdings in einem einig: Wachstumsimpulse dürften das Ziel der "Haushaltskonsolidierung" nicht gefährden, "Wachstum auf Pump" dürfe es also nicht geben. Letztere Formulierung wird insbesondere von Merkel gerne gewählt. Ich zeige im Folgenden, weshalb diese Formulierung und diese Argumentation bar jeder volkswirtschaftlichen Vernunft ist.
Einleitend angemerkt sei dabei zweierlei: Erstens, dass ich von der Schädlichkeit der aktuellen Kürzungs- und Austeritätspolitik überzeugt bin, wie ich in mehreren Texten auf diesem Blog auch deutlich gemacht und begründet habe. Die verheerenden Auswirkungen von "Haushaltskonsolidierung" über die Ausgabenseite sieht man wohl nirgends besser als in Griechenland. In diesem Text hier möchte ich auf diesen Sachverhalt allerdings nicht eingehen. Zweitens, dass ich im Folgenden nicht missverstanden werden möchte. Wenn ich von "Wachstumsimpulsen" rede, dann meine ich damit echte Wachstumsimpulse durch höhere Staatsausgaben – etwa für höhere Löhne und Transferleistungen, für Investitionen oder für Forschung und Entwicklung. Ich meine mit "Wachstumsimpulsen" ausdrücklich nicht "Strukturreformen" oder ähnliches, was derzeit von neoliberaler Seite als adäquates Mittel der Wahl dargestellt wird. Solche Ideen habe ich in meinen Ausführungen zu Nr. 1 und Nr. 2 der "Märchen aus der Deutschen Bank" beispielhaft kritisiert.
Nun also zu Frau Merkel. Was meint sie, wenn sie sagt, "Wachstum auf Pump" dürfe es nicht geben?
- Sie suggeriert damit zunächst einmal, dass Wachstum in irgendeiner Form "schlecht" oder "künstlich" sei, wenn es durch eine höhere Staatsverschuldung finanziert wird. Dahinter steckt wiederum die Überzeugung, dass Staatsverschuldung an sich etwas Schlechtes sei. (Noch grundsätzlicher steckt hinter dieser Äußerung vermutlich auch die Überzeugung, dass staatliches Handeln "schlecht" und privatwirtschaftliches Handeln "gut" sei – so dass folglich Wachstum nur "gut" sei, wenn es nicht durch den Staat initiiert wird. So tief aber möchte ich die Analyse an dieser Stelle nicht treiben.)
- Zum zweiten suggeriert Merkel mit der genannten Formulierung, dass sich echte Wachstumsimpulse, so man sie denn wolle, nur über eine höhere Verschuldung finanzieren ließen. Wenn der Staat also Ausgaben tätigen wolle, etwa für Infrastruktur, Forschung und Entwicklung, so müsse er diese zusätzlichen Ausgaben durch eine höhere Neuverschuldung bezahlen. Weil aber eine höhere Neuverschuldung abzulehnen sei, seien auch solche Wachstumsimpulse abzulehnen.
Die zu beantwortenden Fragen lauten also: Ist Staatsverschuldung wirklich etwas per se Schlechtes? Und müsste man Wachstumsimpulse zwingend über eine höhere Staatsverschuldung finanzieren?
Um diese Fragen zu beantworten, ist es sinnvoll, sich volkswirtschaftliche Zusammenhänge und die Rolle von Staatsverschuldung ein wenig genauer anzusehen. Dabei gibt es zwei grundlegende statistisch-ökonomische Sachverhalte zu beachten:
Erstens, dass jeder Euro, den irgendjemand besitzt, von irgendjemand anderem geschuldet wird. Geld ist in modernen Kreditgeldökonomien nichts, was einfach so da ist, sondern Geld kommt – vereinfacht gesprochen – immer als Kredit auf die Welt. Es wird durch einen permanenten Geldschöpfungsprozess geschaffen, dessen Grundlage Einzahlungen bei Geschäftsbanken (=Guthaben/Vermögen) sowie die Weitergabe dieser Gelder als Kredite durch die Geschäftsbanken ist. In der Realität ist dieser Sachverhalt zwar etwas komplexer, da es weitere relevante Finanzakteure wie etwa Zentralbanken, Versicherungen und Investmentfonds gibt, am Grundprinzip ändert das aber nichts: Geld ist immer zugleich und in gleichem Umfang Guthaben/Vermögen und Schuld/Kredit.
Der zweite grundlegende statistisch-ökonomische Sachverhalt ist etwas komplexer: Jede Volkswirtschaft lässt sich in mehrere Sektoren einteilen, so dass jeder Akteur dieser Volkswirtschaft genau einem Sektor zugeordnet wird. Diese Einteilung lässt sich in verschiedener Tiefe vornehmen, ich will im Folgenden ein Drei- bzw. Fünf-Sektoren-Modell wählen. Eine Volkswirtschaft lässt sich nach diesem Modell wie folgt gliedern:
- Privatsektor – der wiederum Privathaushalte, (nichtfinanzielle) Unternehmen und Banken (finanzielle Unternehmen) umfasst
- Staat
- Ausland (gemeint sind damit alle Sektoren anderer Volkswirtschaften, also ausländischer Privatsektor und ausländischer Staat)
Die Sektoren lassen sich wie folgt grafisch darstellen:
Schaubild 1: Sektoren einer Volkswirtschaft, eigene Darstellung.
Da Geld immer zugleich Guthaben/Vermögen und Schuld/Kredit ist, gilt für diese Sektoren, dass die Summe ihrer Saldi stets und ausnahmslos genau Null ergibt. Denn was die einen "besitzen", müssen die anderen folgerichtig "schulden". Die Guthaben/Vermögen der einen sind die Schulden/Kredite der anderen. Man kann daher folgende Formel ableiten:
- Saldo des Privatsektors
- plus Saldo des Staates
- plus Saldo des Auslands
- = Null
Man kann den Privatsektor nun auch, wie oben angedeutet, in drei Sektoren unterteilen, dann kommt man zu folgender Formel:
- Saldo der Privathaushalte
- plus Saldo der Unternehmen (in den Schaubildern: nichtfinanzielle Unternehmen)
- plus Saldo der Banken (in den Schaubildern: finanzielle Unternehmen)
- plus Saldo des Staates
- plus Saldo des Auslands
- = Null
Da Geld nun aber stets Guthaben/Vermögen und Schuld/Kredit ist, gibt es einerseits Sektoren, die ein positives Saldo verbuchen können – und andererseits Sektoren, die entsprechend ein negatives Saldo verbuchen müssen. Erstere haben also mehr Guthaben/Vermögen als Schulden/Kredite, letztere hingegen mehr Schulden/Kredite als Guthaben/Vermögen. Will man meine beiden einleitend aufgeführten Fragen beantworten, ist es sinnvoll, die Saldi der fünf genannten Sektoren genauer anzusehen:
- Privathaushalte haben in einer gesunden Volkswirtschaft immer ein positives Saldo. Schließlich würde niemand arbeiten wollen, wenn man davon nicht mindestens leben könnte, und niemand würde Geld investieren, wenn daraus nicht ein Gewinn resultierte. Und auch wenn es heute (zu) viele verschuldete Privathaushalte gibt, so haben alle Privathaushalte zusammen doch deutlich mehr Guthaben/Vermögen als Schulden/Kredite.
- (Nichtfinanzielle) Unternehmen hingegen haben üblicherweise ein negatives Saldo (wobei Deutschland in den Jahren vor der Krise diesbezüglich eine untypische Ausnahme war). Der Grund für das negative Saldo ist der Umstand, dass Unternehmensinvestitionen über Kapitaleinlagen (Eigenkapital/Fremdkapital) finanziert werden, die daraus resultierenden Gewinne aber – von Zinszahlungen an die Banken abgesehen – an Privathaushalte ausgeschüttet werden. Unternehmen haben also mehr Schulden/Kredite als Vermögen/Guthaben, allerdings sind die Verschuldungsmöglichkeiten des Unternehmenssektors insgesamt eng begrenzt: Sind die Schulden/Kredite zu hoch, gehen Unternehmen in die Insolvenz, sie müssen ihre Verschuldung also in einem tragfähigen Ausmaß halten.
- Banken (finanzielle Unternehmen) hatten in Deutschland in den letzten Jahren ein leicht positives Saldo. Dies ist unter anderem auf die zunehmende Dominanz der Finanzmärkte zurückzuführen, soll an der Stelle aber nicht weiter vertieft werden.
- Das Ausland kann ein positives oder negatives Saldo haben. In gewissem Rahmen ist beides tragbar, im Idealfall aber sollte das Saldo mehr oder weniger ausgeglichen sein. Was nämlich passiert, wenn sich das Ausland immer mehr verschuldet, sieht man momentan in Europa: Aus deutscher Perspektive sind die Schulden/Kredite des Auslands (also der Privathaushalte, der Banken, der Unternehmen und des Staates anderer Volkswirtschaften) immer mehr gestiegen. Aus Perspektive der Schuldner-Volkswirtschaften wiederum sind die deutschen Guthaben/Vermögen immer mehr gestiegen. Hintergrund dafür sind die enormen und wachsenden Exportüberschüsse, die die deutsche Volkswirtschaft seit etwa zehn Jahren erzielt. Die aktuelle Eurokrise ist im Kern auf diese Ungleichgewichte im Außenhandel und damit auf die steigende Verschuldung einiger Volkswirtschaften bei anderen Volkswirtschaften – insbesondere der deutschen – zurückzuführen. (Dazu findet sich beispielsweise ein interessanter Text auf den Nachdenkseiten.) In diesem Umstand gründet die Feststellung, dass der Saldo des Auslands im Idealfall mehr oder weniger ausgeglichen sein, also Null betragen sollte. (Liberale behaupten hier gerne, man würde mit dieser Forderung protektionistische Ideen vertreten, also sich gegen Exporte und Importe aussprechen. Dem ist mitnichten so: Hinter einem ausgeglichenen Außenhandelssaldo können sehr hohe Exporte stehen, wenn diesen zugleich wieder sehr hohe Importe gegenüberstehen.)
- Wenn nun aber Privathaushalte und Banken ein positives Saldo haben, das Ausland ein ausgeglichenes Saldo hat und Unternehmen nur ein sehr geringes negatives Saldo, dann bleibt für den Staat nur ein negatives Saldo übrig.
Dieser Sachverhalt lässt sich grafisch wie folgt darstellen, indem man die Sektoren mit positivem Saldo den Sektoren mit negativem Saldo gegenüberstellt:
Schaubild 2: Sektoren einer Volkswirtschaft, schematisch gegliedert, eigene Darstellung.
Man sieht in Schaubild 2 auf der linken Seite die Sektoren mit Nettovermögen (also positiven Saldi), auf der rechten Seite die Sektoren mit Nettoschulden (also negativen Saldi). Will man nun die Staatsschulden reduzieren, so würde der rechte Balken kleiner. Da beide Seiten aber immer und ausnahmslos gleich groß sind, denn jedem Euro Guthaben/Vermögen steht ja ein Euro Schuld/Kredit gegenüber, würde automatisch auch die linke Seite kleiner. Oder anders formuliert: Baut der Staat seine Schulden ab, so baut er damit automatisch auch Vermögen ab. Denn die Vermögen der Privathaushalte sind nun mal weit überwiegend die Schulden des Staates.
Wer dieser schematischen Darstellung in Schaubild 2 nicht glaubt oder wer der Feststellung nicht folgen möchte, dass jedem Euro Guthaben/Vermögen anderswo ein Euro Schuld/Kredit gegenübersteht, der möge die folgende Grafik ansehen. Ich habe darin die jährlichen Finanzierungssalden der fünf genannten Sektoren nach Angaben der Deutschen Bundesbank für die Jahre 2005 bis 2010 aufgeführt.
Schaubild 3: Finanzierungssaldi der Sektoren in Deutschland in Mrd. Euro, 2005-2010, Quelle: Deutsche Bundesbank, eigene Darstellung.
In Schaubild 3 sieht man sehr schön, wie der Staatssektor nur in konjunkturellen Ausnahmejahren (2007 und leicht 2008) ein positives Finanzierungssaldo erzielt, sonst aber seine Schulden erhöht. Hingweisen sei zudem auf den eigentlich untypischen Zustand, dass nichtfinanzielle Unternehmen in Deutschland positive Finanzierungssaldi erreicht haben. Deutlich erkennbar auch die von Jahr zu Jahr wachsende Verschuldung ausländischer Volkswirtschaften bei der deutschen Volkswirtschaft, Ergebnis jenes Mechanismus' einer Verschuldungsspirale, der mit der aktuellen Krise an sein Ende gekommen zu sein scheint. Diesen negativen Saldi stehen enorme positive Finanzierungssaldi (Vermögenszuwächse) der Privathaushalte gegenüber.
Man erkennt in Schaubild 3 vor allem aber auch sehr gut, wie jedem Euro zusätzlichem Guthaben/Vermögen ein Euro zusätzlicher Schuld/Kredit gegenübersteht. Die Balken oberhalb der x-Achse und die Balken unterhalb der x-Achse sind genau gleich groß - das müssen sie aufgrund der oben geschilderten volkswirtschaftlichen Zusammenhänge auch sein.
Eine hervorragende Erläuterung dieses Sachverhalts mit beispielhaften Grafiken zu den sektoralen Finanzierungssaldi in den USA findet sich übrigens auf wiesaussieht.de.
Damit lassen sich nun beide Fragen beantworten, die ich einleitend formuliert hatte:
- Erstens: Ist Staatsverschuldung per se wirklich etwas Schlechtes? – Nein, ist sie nicht, es gilt lediglich, sie in einem tragfähigen Ausmaß zu halten. Sie auf Null zu reduzieren, ist unmöglich, solange es private Vermögen in nennenswertem Umfang geben soll. Wer der Meinung ist, Staatsverschuldung sei zu hoch und müsse reduziert werden, der braucht nicht nur ein Konzept zur Reduktion der Staatsverschuldung – sondern auch ein Konzept zur Reduktion von privaten Vermögen. Wer hingegen einfach auf der Ausgabenseite der öffentlichen Haushalte kürzt, der wird automatisch überwiegend die "Vermögen" derjenigen reduzieren, die ohnehin kein oder kaum Vermögen haben. Im Extremfall würde dann lediglich staatliche Verschuldung in private Verschuldung umgewandelt. Nachhaltig und tragfähig ist das nicht, gerecht schon gar nicht.
- Zweitens: Müsste man Wachstumsimpulse zwingend über eine höhere Staatsverschuldung finanzieren? – Nein, müsste man nicht. Wenn man den Abbau von Staatsverschuldung als Bestandteil eines Wachstumskonzeptes sieht, und das zu tun behaupten ja Merkel und Co., dann wären zur Finanzierung von notwendigen Wachstumsimpulsen vielmehr die großen Vermögen heranzuziehen. Staatsverschuldung abzubauen bedeutet nun mal, zugleich Vermögen abzubauen. Und die Existenz einer hohen Staatsverschuldung impliziert nun mal die Existenz großer Vermögen. Warum also nicht diese Vermögen nutzen, um Wachstumsimpulse zu finanzieren und Staatsverschuldung zu reduzieren? Dies ist keineswegs nur eine moralische und politische Frage, sondern auch eine ökonomische. Aus der Krise wird den Ausweg nicht finden, wer über Verteilung nicht zu sprechen bereit ist.
Von all dem wollen Merkel & Co. aber nichts wissen. Ein wenig mehr Ökonomie und weniger Ideologie wäre wünschenswert.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.