Finanzielle Auswirkungen im Vergleich: Merkels "Wachstumspaket", Finanztransaktionssteuer & Fiskalpakt
10. Juni 2012 | Patrick Schreiner
In Sachen Fiskalpakt und Eurokrise hat sich in der vergangenen Woche jede Menge getan. Zunächst hatten SPD, Grüne und das Gros der Medien berichtet, Kanzlerin Merkel (CDU) habe sich auf die Opposition zubewegt: Erstens habe sie das von dieser gewünschte "Wachstumspaket" geschnürt, zweitens habe sie der Einführung einer Finanztransaktionssteuer zugestimmt. Merkel sei "umgefallen", SPD und Grüne hätten sich durchgesetzt. Betrachtet man allerdings die finanziellen Auswirkungen des Merkelschen "Wachstumspakets", der Finanztransaktionssteuer sowie des Fiskalpakts, so zeigt sich: Die wachstumsfeindlichen Kürzungen, die mit dem Fiskalpakt einhergehen werden, werden durch die von der Opposition angeblich durchgesetzten Maßnahmen nicht einmal annähernd ausgeglichen. Weder "Wachstumspaket" noch Finanztransaktionssteuer können ein nennenswerter Grund sein, dem Fiskalpakt zuzustimmen. - Ein Beitrag über Zahlentricks und Manipulationen.
Bevor ich dies näher begründe, sei einleitend noch auf Folgendes hingewiesen: An der Annahme, dass SPD und Grüne Merkel zu einem "Wachstumspaket" und zur Finanztransaktionssteuer gezwungen haben, ist in zweierlei Hinsicht Zweifel angebracht.
- Hinsichtlich des "Wachstumspakets" insofern, als die darin genannten Maßnahmen allesamt schon längst beschlossen oder angekündigt waren. Was Merkel macht, ist schlicht, das Label "Wachstum" draufzukleben. Jens Berger hat dies jüngst auf den Nachdenkseiten sehr detailliert dargestellt, so dass ich dies hier nicht wiederholen muss.
- Hinsichtlich der Finanztransaktionssteuer insofern, als bisher lediglich eine lockere Absichtserklärung vorliegt. Wenig überraschend meldet Spiegel Online heute, dass man im CDU-FDP-Umfeld nur deshalb auf die Opposition zugehen konnte und wollte, weil man damit rechne, dass die Finanztransaktionssteuer in Europa sowieso nicht durchsetzbar sei. Zudem sind noch viele Fragen bezüglich der Ausgestaltung einer Finanztransaktionssteuer offen, so dass nicht klar ist, ob das angedachte Konzept tatsächlich zielführend ist. So gibt es – jedenfalls in der Medienberichterstattung – noch keinerlei Hinweis darauf, ob beispielsweise auch der so genannte "Over-the-Counter"-Handel (OTC) – der Handel fernab von Börsen – besteuert werden soll. Gerade er aber ist besonders gefährlich, gerade er bedarf einer strikten Regulierung und Besteuerung.
Ich will im Folgenden die finanziellen Auswirkungen des Merkelschen "Wachstumspakets", der Finanztransaktionssteuer sowie des Fiskalpakts einander gegenüberstellen. Dabei zeigt sich: Auf Basis der Zahlen des Jahres 2011 würde er in den 25 Fiskalpakt-Staaten Kürzungszwänge von 480 Milliarden Euro provozieren (bei einer späteren Einführung durch die zwischenzeitlich gestiegenen Schulden sogar noch höhere). Dem stehen durch "Wachstumspaket" und Finanztransaktionssteuer im absolut unwahrscheinlichen Idealfall Kompensationen durch Mehreinnahmen bzw. höhere Ausgaben der 25 europäischen Fiskalpakt-Staaten von höchstens 148,9 Milliarden Euro gegenüber.
Abbildung 1: Auswirkungen von Fiskalpakt, „Wachstumspaket“ und Finanztransaktionssteuer in Mrd. Euro
Dies zeigt: Die Maßnahmen, die SPD und Grüne Merkel für die Zustimmung zum Fiskalpakt abgetrotzt haben wollen, sind nicht einmal annähernd geeignet, die negativen Auswirkungen des Fiskalpakts wettzumachen. Obenstehende Abbildung 1 macht dies auch visuell deutlich. Im Folgenden zeige ich auf, wie die in der Grafik aufgeführten Zahlen zustande kommen. (Meine Berechnungen sollten dabei als grobe Näherungsrechnungen verstanden werden, basierend weitgehend auf dem Jahr 2011.)
Fiskalpakt
- Der Fiskalpakt schreibt vor, dass die jährliche Neuverschuldung der 25 Unterzeichnerstaaten noch maximal 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen darf (unter bestimmten - seltenen - Umständen 1,0 Prozent). 2011 lag die tatsächliche Neuverschuldung bei durchschnittlich 3,87 Prozent. Daraus resultiert ein Kürzungszwang von 3,37 Prozent des BIP, was insgesamt 361,9 Milliarden Euro entspricht.
- Der Fiskalpakt schreibt zudem vor, dass der Gesamt-Schuldenstand der Unterzeichnerstaaten 60 Prozent des BIP nicht überschreiten darf. Darüber hinausgehende Anteile des Schuldenstands müssen pro Jahr um ein Zwanzigstel reduziert werden. (Zum Beispiel: Liegt der Schuldenstand eines Staates bei 80 Prozent, so muss er im Folgejahr 1 Prozent abbauen – 80 minus 60 ergibt 20, davon ein Zwanzigstel ergibt 1). 2011 lag der durchschnittliche Schuldenstand in den 25 Unterzeichnerstaaten bei 82,08 Prozent des BIP. Daraus resultiert ein Kürzungszwang von 1,1 Prozent des BIP, was insgesamt weiteren 118,1 Milliarden Euro entspricht.
Auf diese Weise leiten sich die oben genannten 480 Milliarden Euro Kürzungszwänge ab. Würde der Fiskalpakt schon 2012 gelten, so müssten die 25 Unterzeichnerstaaten ihre Ausgaben um 480 Milliarden Euro kürzen. Dies entspricht in etwa dem 1,6-fachen des Bundeshaushalts.
"Wachstumspaket"
Was aber bieten Merkel, SPD und Grüne als konjunkturellen Ausgleich durch wachstumsfördernde Maßnahmen sowie als kompensierende Mehreinnahmen durch die Finanztransaktionssteuer an? Details der Vereinbarungen sind leider öffentlich nicht bekannt, ich beziehe mich im Folgenden auf den oben verlinkten Beitrag von Jörg Berger sowie auf die Berichterstattung auf Spiegel Online (Artikel 1, Artikel 2).
- Zunächst einmal soll die Europäische Investitionsbank zukünftig 15 Milliarden Euro jährlich an zusätzlichen Krediten vergeben können. Jens Berger weist zu Recht darauf hin, dass dies nicht bedeutet, dass diese Kredite auch wirklich zusätzlich sind – denn Investitionen, die mit ihnen finanziert werden, wären ja möglicherweise ohnehin getätigt worden, dann aber über Geschäftsbanken oder Kapitalmärkte finanziert (Mitnahmeeffekte). Zudem werden Investitionen nur getätigt, wenn die Aussicht auf Rendite günstig ist – das ist aber in einer Rezession (wie aktuell in den europäischen Krisenstaaten) nicht der Fall. Ich habe dennoch, um möglichst vorsichtig zu schätzen, die für Merkel/SPD/Grüne günstige, insgesamt aber unrealistische Annahme getroffen, dass die 15 Milliarden jährlicher Kredite durch die Europäische Investitionsbank tatsächlich getätigt werden und vollständig zusätzlich sind.
- Die Europäische Union soll 7,3 Milliarden Euro zusätzliche Mittel im Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit ausgeben. Zwar ist auch hier zu konstatieren, dass die aktuelle Jugendarbeitslosigkeit in erster Linie eine Folge der wirtschaftlichen Rezession ist, die durch Kürzungen überhaupt erst provoziert wurde und wird. Dennoch habe ich auch hier die für Merkel/SPD/Grüne günstige, insgesamt aber wenig realistische Annahme getroffen, dass die 7,3 Milliarden vollständig und zusätzlich ausgegeben werden.
- Durch die geplanten "Projektbonds" dürften im gleichfalls unrealistischen Idealfall jährlich maximal 2,3 Milliarden Euro zusätzlich ausgegeben werden.
Soweit zu Merkels "Wachstumspaket", dessen Maßnahmen eine expansive Wirkung von höchstens 24,6 Milliarden Euro generieren.
Finanztransaktionssteuer
Hinzu kommt nun die Finanztransaktionssteuer. Unterstellt man, dass die durch sie erzielten Einnahmen Kürzungszwänge auf der Ausgabenseite mindern, dürfte auch sie durchaus eine den Fiskalpakt "lindernde" Wirkung haben. Sie ist insofern vergleichbar mit dem "Wachstumspaket".
Bei der folgenden Berechnung möglicher Einnahmen durch die Finanztransaktionssteuer habe ich mich auf die Ergebnisse der Untersuchung "A General Financial Transaction Tax: A Short Cut of the Pros, the Cons and a Proposal" von Stephan Schulmeister bezogen. Er hat berechnet, wie hoch (in Prozent des Bruttoinlandsprodukts gemessen) mögliche Einnahmen einer Finanztransaktionssteuer ausfallen könnten. Von den drei Szenarien, die er dabei zeichnet, habe ich einmal mehr das für Merkel/SPD/Grüne günstigste gewählt – jenes mit den höchsten Einnahmen. Es ist insofern unrealistisch, als es unterstellt, dass es kaum zu Maßnahmen der Finanzmarktakteure kommt, um die Steuerpflicht zu umgehen. Ich unterstelle zudem bei meinen Zahlen, dass alle 25 Fiskalpakt-Staaten eine Finanztransaktionssteuer einführen; dem wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aber nicht so sein. Aus den genannten Gründen werden die tatsächlichen Einnahmen durch diese Steuer daher deutlich geringer sein, als ich unterstelle.
- Bei der Besteuerung des Handels von Aktien und anderen nicht-derivativen Wertpapieren sieht, nach allem was man hört, der Merkelsche Vorschlag einen Steuersatz von 0,1 Prozent vor. Dies würde in den 25 Fiskalpakt-Staaten zu zusätzlichen Einnahmen von 25,8 Milliarden Euro führen.
- Bei der Besteuerung des Handels von Derivaten sieht, nach allem was man hört, der Merkelsche Vorschlag einen Steuersatz von 0,01 Prozent vor. Dies würde in den 25 Fiskalpakt-Staaten zu zusätzlichen Einnahmen von 38,9 Milliarden Euro führen.
- Unklar ist, ob die Finanztransaktionssteuer auch für den so genannten OTC-Handel gelten soll (siehe oben). Zwar dürfte der OTC-Handel wohl von einer Besteuerung verschont bleiben, zumal die Umgehungsmöglichkeiten dort deutlich ausgeprägter sind als beim Börsenhandel. Dennoch unterstelle ich, für Merkel/SPD/Grüne günstig, dass es nicht zu Umgehungsmaßnahmen der Finanzmarktakteure kommt und dass der OTC-Handel vollständig besteuert wird. Außerdem unterstelle ich, dass 90 Prozent des OTC-Handels mit 0,01 Prozent besteuert wird (Derivate) und 10 Prozent mit 0,1 Prozent (Nicht-Derivate). Unter diesen Annahmen würden sich zusätzliche Einnahmen durch die Finanztransaktionssteuer von 59,7 Milliarden Euro ergeben.
Addiert man diese Werte, so kommt man auf Gesamteinnahmen durch eine Finanztransaktionssteuer von 124,3 Milliarden Euro. Wohlgemerkt – dies ist der extrem unwahrscheinliche Idealfall.
Fazit
Den Kürzungszwängen durch den Fiskalpakt von mindestens 480 Milliarden Euro stehen damit expansive Maßnahmen im Rahmen des "Wachstumspakets" von allerhöchstens 24,6 Milliarden Euro sowie Einnahmen durch die Finanztransaktionssteuer von allerhöchstens 124,3 Milliarden Euro gegenüber. In der Summe macht dies 148,9 Milliarden Euro. Es ist völlig unverständlich, weshalb SPD und Gründe dies als Erfolg ihrer Verhandlungen verkaufen wollen. Weite Teile der beiden Parteien sind dabei, gemeinsam mit Merkel Europa noch tiefer in die Rezession zu stürzen - wenn sie sich nicht endlich entschließen, den Fiskalpakt ohne Wenn und Aber abzulehnen.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.