Merkels gefährlicher Zynismus: "Schrumpfen" von Volkswirtschaften als "Notwendigkeit"?
17. Juli 2012 | Patrick Schreiner
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) radikalisiert die Art und Weise, wie sie Ihre Politik der "Krisenbekämpfung" rechtfertigt - und kaum jemand bemerkt es. Wie Spiegel Online berichtet, hat Merkel gestern auf dem "Petersberger Klimadialog" auch über die zusammenbrechenden Volkswirtschaften in Südeuropa gesprochen. Wenig überraschend war, dass sie an ihrem Kürzungskurs festhält. Neu war, wie sie diesen begründete: Nicht mehr "Wachstum", sondern "Schrumpfen" als notwendigen Schritt hin zu mehr "Nachhaltigkeit" hat sie als Parole ausgegeben.
Bisher hatte Merkel den Kürzungskurs als notwendige und unmittelbare Voraussetzung für mehr Wachstum zu verkaufen versucht. Dies entsprach durchaus dem (wirtschafts-)politischen Mainstream auch weit über ihre eigene Partei hinaus. Mit der Realität hatte dies wenig zu tun, schließlich führen Kürzungen von Staatsausgaben, Löhnen und Gehältern geradezu notwendig zu einem Einbruch der Wirtschaft. Und angesichts einbrechender Wachstumszahlen in Spanien, Italien, Portugal und Griechenland scheint sie sich nun tatsächlich nicht mehr länger lächerlich machen zu wollen. Merkel bezeichnete gestern das Schrumpfen von Volkswirtschaften als notwendigen Schritt - und zwar auch dann, wenn die Konjunktur sogar massiv einbricht. Dies sei "geradezu selbstverständlich", so Merkel. Erst nach einer solchen Schrumpfkur sei wieder nachhaltiges Wachstum möglich.
Nun sprach Merkel nicht auf irgendeiner Veranstaltung, sondern auf einem umweltpolitischen "Klimadialog". Es mag daher nicht überraschen, dass sie wiederholt auf das Wörtchen "Nachhaltigkeit" zurückgriff. Ihre argumentativen Anleihen bei Nachhaltigkeitsdiskursen, einschließlich der neuerdings wieder aufgekommenen Wachstumskritik, sind durchaus augenfällig: Es sei, so Merkel, finanzpolitisch wie umweltpolitisch falsch, nur auf quantitatives Wachstum zu setzen. Es gelte vielmehr, "die Dinge nachhaltig zu betrachten". Die Krisenländer hätten ihre Volkswirtschaften zu lange durch Verschuldung zu künstlich niedrigen Zinsen vorangetrieben. Diese seien nur möglich gewesen, weil die Länder Teil der Euro-Zone waren. Mit dem billigen Geld habe man aber keine nachhaltige Entwicklung, sondern nur aufgeblähte Staatsapparate finanziert.
Diese Argumentation ist aus mehreren Gründen zynisch, falsch und gefährlich:
- Erstens tut Merkel so, als seien niedrige Zinsen die Schuld der betroffenen Volkswirtschaften. Richtig ist zwar, dass mit der Einführung des Euro - und damit der Einführung europaweit einheitlicher Leitzinsen der Europäischen Zentralbank (EZB) - die heutigen Krisenstaaten in Südeuropa angesichts der dortigen konjunkturellen Lage ein zu niedriges Zinsniveau hatten. Dies führte zu einem verschuldungsgetriebenen Nachfrageboom. Eine solche Entwicklung ist aber keineswegs überraschend, sondern die geradezu selbstverständliche Folge einer Währungsunion, die nicht von einer finanz- und wirtschaftspolitischen Union ergänzt wird. Man wird es den Volkswirtschaften in Südeuropa aber kaum ernsthaft vorwerfen können, dass sie Mitglied der Europäischen Währungsunion (EWU) geworden sind. Wenn, dann muss man die misslungene Konstruktion der EWU und nicht einige EWU-Mitgliedstaaten kritisieren. - Genau dies haben übrigens linke KritikerInnen der EWU frühzeitig getan. Sie haben darauf hingewiesen, dass eine Währungsunion ohne finanz- und wirtschaftspolitische Union Unterschiede zwischen den Volkswirtschaften nicht reduziert, sondern explodieren lässt. Gehör gefunden haben sie damals bei der CDU und bei Merkel nicht (und auch nicht bei SPD, Grünen und FDP.)
- Zweitens tut Merkel so, als seien die niedrigen Zinsen in Südeuropa dazu genutzt worden, um dort durch immer mehr Schulden aufgeblähte Staatsapparate zu finanzieren. Tatsächlich aber war die Verschuldung in Spanien, Italien und Portugal in erster Linie eine private Verschuldung. Gerade Spanien wurde jahrelang dafür gefeiert, dass es seine Staatsschuldenquote deutlich reduzierte. Erst mit der Finanzkrise ab 2007 stieg die Staatsverschuldung in allen Ländern deutlich an - weil private Schulden zu staatlichen Schulden gemacht wurden, übrigens auch in Deutschland. Das beste Beispiel dafür ist der Immobilienboom in Spanien: Privatleute haben sich vor der Krise immer höher verschuldet, da dank steigender Immobilienpreise diese Kredite vermeintlich abgesichert werden konnten. Eine Immobilienblase baute sich auf, die irgendwann zerplatzte. Die Verschuldung des spanischen Staates ist, wie in fast allen Ländern, in erster Linie darauf zurückzuführen, dass er Konjunkturpakete finanzieren und die maroden Kredite der Banken übernehmen musste.
- Drittens lässt Merkel völlig unerwähnt, dass es eine Volkswirtschaft gab, die weit mehr als andere vom angeblich "künstlichen" Nachfrageboom in Südeuropa profitierte: Deutschland. Während die Zinsen für Südeuropa tendenziell zu niedrig waren, waren sie für Deutschland zu hoch - auch dies eine Folge der misslungenen Konstruktion der EWU. Dies führte, zusammen mit Lohndrückerei und Kürzung öffentlicher Ausgaben, zu einer völlig unzureichenden Binnennachfrage. Sie wurde aber "erfolgreich" kompensiert: Da man dank eines schuldengetriebenen Nachfragebooms in einigen Ländern immer mehr Waren und Dienstleistungen dorthin exportierte, fuhren deutsche Unternehmen weiterhin steigende Gewinne ein. Wer also die Tatsache kritisieren möchte, dass die Krisenstaaten an "Wettbewerbsfähigkeit" verloren haben, muss auch die Tatsache kritisieren, dass Deutschland seine "Wettbewerbsfähigkeit" auf Kosten dieser Krisenstaaten ausgeweitet und von diesem Ungleichgewicht profitiert hat. Eine gute Darstellung dieses hier nur angedeuteten Sachverhalts findet sich im Blog Maskenfall.
- Viertens unterstellt Merkel, es gebe so etwas wie gutes und schlechtes Wachstum. Schlechtes Wachstum sei ein Wachstum, das schuldengetrieben und daher nicht nachhaltig sei - etwa jenes in Südeuropa vor der Krise. Dabei lässt sie völlig außer acht, dass Wachstum im Kapitalismus immer und ausnahmslos schuldengetrieben ist. Investitionen sind immer teilweise oder sogar vollständig schuldenfinanziert. Das alleine wird man den Krisenstaaten also nicht vorwerfen können. Will man ihnen aber vorwerfen, die Verschuldung sei zu hoch gewesen, so gilt, was ich oben ausgeführt habe: Für die Fehlkonstruktion der Europäischen Währungsunion ist Deutschland ebenso mitverantwortlich, wie es Profiteur der übermäßigen Verschuldung der Krisenstaaten war und ist.
- Fünftens will ich zumindest kurz darauf hinweisen, dass Merkels Kritik nicht nur falsch, sondern auch verlogen ist, denn sie kommt zu spät. Eine vernünftige Kritik an dem neoliberalen Modell der schuldengetriebenen Generierung von Nachfrage hingegen gab es durchaus auch schon vor der Krise - und zwar Kritik von links. Gemeint ist Kritik an der Tatsache, dass einige Volkswirtschaften in Europa und weltweit immer höhere Außenhandelsdefizite einfuhren, während andere Volkswirtschaften - wie etwa die deutsche - immer höhere Außenhandelsüberschüsse erzielten. Ein solches Modell kann nicht dauerhaft tragfähig sein, denn es kann nur "funktionieren", wenn sich Volkswirtschaften mit Importüberschüssen bei Volkswirtschaften mit Exportüberschüssen mehr und mehr verschulden. Es kam in den letzten Jahren zu einer Verschuldungsspirale, die zwingend irgendwann zusammenbrechen musste - und zwar in dem Moment, in dem die Akteure in Überschussländern nicht mehr bereit waren, die Importe der Defizitländer (und damit die eigenen Exporte) durch Kredite zu finanzieren. Von dieser Kritik von links aber wollen, wie so oft, gerade Konservative à la Merkel nichts wissen.
- Nicht unerwähnt bleiben soll auch Folgendes: Nachhaltigkeit meint im Allgemeinen, die Grundlagen von Wirtschaft und Gesellschaft auch für spätere Generationen zu bewahren. In diesem Sinne darf Produktion nicht zu einer Zerstörung menschlicher Lebensgrundlagen führen. Merkel versucht nun, diesen eigentlich richtigen Gedanken von Nachhaltigkeit aufzugreifen und für ihre gefährliche Argumentation nützlich zu machen. Sie tut so, als sei Staatsverschuldung gleichzusetzen mit der Zerstörung von Lebensgrundlagen späterer Generationen. Diese Analogie ist zum einen inhaltlich völlig falsch, denn hinter Verschuldung stehen "lediglich" Kreditverhältnisse und damit Verteilungsmuster von Wohlstand, die politisch geändert werden können. Zum anderen verkehrt diese Analogie die Realität: Denn gerade Merkels Politik ist dabei, die Lebensgrundlagen späterer Generationen zu zerstören - die Arbeitslosenquoten junger Menschen in Spanien und Griechenland liegen bei etwa 50 Prozent, Unternehmensstrukturen und Produktionskapital werden durch Insolvenzen zerstört, Infrastruktur zerfällt. So zu tun, als sei genau dies notwendig, um späteren Generationen Wohlstand zu ermöglichen, ist mehr als zynisch.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.